Mit atemberaubender Geschwindigkeit hat das politische Establishment seine bisherigen Parteien verabschiedet. Ein „unabhängiger“ Präsidentschaftskandidat soll nun zum Retter Frankreichs und Europas werden.
Das Macron-Fieber
Es ist atemberaubend. Wenige Tage, ja Stunden, nach dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen in Frankreich haben sich Politiker aller Couleur auf einen Namen geworfen: Emmanuel Macron. Sie kennen ihre alten Parteien nicht mehr. „Macron“ ist alles. Er ist der magische Punkt, auf den alles zuläuft. Er soll die vielbeschworene „Mitte“ sein, um die sich die Zukunft Frankreichs dreht. Mehr noch: die Zukunft von ganz Europa. Alle wollen sie dabei sein: Sowohl der bisherige Präsident Hollande als auch der „bürgerliche“ Kandidat Fillon rufen zur Wahl Macrons auf. Auch die EU-Spitze (in Gestalt von Juncker und Mogherini) hat ihn zu ihrem Kandidaten gekürt. Und auch führende deutsche Politiker – Gabriel, Schulz und Schäuble – heizen das Macron-Fieber an.
Hat man genauer hingeschaut, wofür dieser Emmanuel Macron steht? Wer dieser Mann eigentlich ist? Wer genauer nachschaut, womit denen die Hoffnung auf den „unabhängigen“ und „dynamischen“ Kandidaten begründet wird, findet wenig. Seine Positionen sind irgendwie „gemäßigt“, ein Signal in jede Richtung, ein Sowohl-als-auch. Sie scheinen gefunden worden zu sein, indem man die bestehenden Trends beobachtet und dann den Punkt sucht, wo sie sich irgendwie schneiden. Ob sich die Lösungen gegenseitig lähmen und ob sie der Lage des Landes angemessen sind, tritt dabei in den Hintergrund. Und die Vorgeschichte des Kandidaten? Sieht man von der etwas pikanten Tatsache ab, das Macron längere Zeit in einem der großen und staatsnahen Bankhäuser tätig war und es in seinem Ministeramt unter Hollande nur kurz ausgehalten hat, erscheint er als ein ziemlich unbeschriebenes Blatt. So ist die Hoffnung, die man auf diesen Kandidaten setzt, eine sehr spekulative Hoffnung. Zur Erinnerung: Von der Mehrheit, die in Großbritannien für den Brexit stimmte, wird in EU-Europa behauptet, sie habe „nicht gewusst, wofür sie stimmt“. Wie müsste wohl, würden die gleichen Maßstäbe angelegt, die Macron-Mehrheit beurteilt werden?
Es macht daher Sinn, sich genauer anzuschauen, wie Frankreich in eine so spekulative politische Situation hineingeraten ist. Und welche Realitäts-Schocks zu erwarten sind.
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Francois Hollande als Kandidat und als Präsident – Bereits in der Präsidentschaftskampagne von Francois Hollande hatte es einen deutlichen Trend gegeben, dass sich der Amtsanwärter von seiner Partei absetzte und sich als „einsamer Kandidat“ präsentierte. Am 24.1.2012 erschien im Feuilleton der FAZ ein enthusiastischer Artikel. Unter dem Titel „Kleiner Mann, große Rede“ berichtet der Autor, Nils Minkmar, über einen „historischen Auftritt“ von Francois Hollande in der Präsidentschafts-Kampagne: „Francois Hollande ist die dreidimensionale Version einer Zeichnung von Sempé: Mann im grauen Anzug blinzelt ratlos der Welt entgegen…Dann hat er am Sonntag diese Rede gehalten, seitdem ist alles anders. Der Zeitpunkt war perfekt gewählt: Sarkozy hat sich verausgabt, die Herabstufung (von Frankreich an den Finanzmärkten, GH) hat ihm geschadet, die Leute sind seiner überdrüssig. Hollande hat sich lange im Stillen vorbereitet, hat die Mitarbeiter zuliefern lassen und dann die Rede neu geschrieben, mit der Hand…Es begann mit einem Satz von geradezu literarischer Schlichtheit: `Ich bin gekommen, um über Frankreich zu sprechen´… Die Bezüge des Präsidenten und der Minister wird er um dreißig Prozent kürzen. Nicht auf Paläste und Entourage kommt es ihm an, sondern auf Überzeugungskraft: `Echte Autorität zeichnet sich durch Bescheidenheit aus´. Es ist eine Abrechnung mit dem derzeitigen Amtsinhaber, den er nicht ein einziges Mal beim Namen nennt. Sein wahrer, einziger Gegner, sagte er, habe kein Gesicht und keinen Namen und keine Partei, das seien die Finanzmärkte…“
Dieser Francois Hollande hat dann tatsächlich gewonnen, in diesem Punkt hat der FAZ-Autor recht behalten. Aber alles, was er als historische Kraft und stille Größe des Kandidaten beschworen hat, ist schmählich gescheitert. Hollande hat sich als Mann der Netzwerke erwiesen, als rücksichtsloser Strippenzieher und als unberechenbarer, wankelmütiger Politiker. Am Ende seiner Präsidentschaft hinterlässt er ein destabilisiertes Land.
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Der trügerische Schein der Unabhängigkeit – Ein Artikel im „Figaro“ über die soziale Zusammensetzung der Hollande-Mehrheit (erschienen am 19.6.2012, also zu Beginn seiner Amtszeit) enthält ein interessantes Detail: Im Parlament dominieren die kleinen und mittleren Beamten, während die Regierung und die Ministerien von Absolventen der Elite-Schulen der Verwaltung, insbesondere von der Ecole Nationale d´Administration (ENA) dominiert werden – und zwar stärker als unter dem Vorgänger Sarkozy. 58% der hohen Regierungsbeamten sind Absolventen der ENA, während es vorher 43% waren. Von einer größeren „Basisnähe“ durch Hollande konnte also nicht die Rede sein. Zu diesem Presseausschnitt habe ich damals notiert: Francois Hollande ist in einer merkwürdigen Unschuld ins höchste Amt Frankreichs gelangt. Er ist aufgetreten mit dem gewollt naiven Charme des `einfachen Mannes´, der ehrlich – beinahe hilflos – dem großen Getriebe der Schuldenkrise und der Weltpolitik gegenüberzusteht. Hollande kokettierte damit, dass er selbst am meisten über seinen Erfolg auf der Bühne der Politik erstaunt sei. Für einen Moment hatte die französische Politik etwas Persönliches, ja Intimes, bekommen. Ein einzelner Mensch schien das höchste Amt zu erobern – gerade Francois Hollande hat dies Bild des einfachen und einsamen Mannes, der dem Machtbetrieb von Wirtschaft und Politik gegenübertritt, meisterhaft gespielt. Doch mit der Regierungsbildung und der Erringung einer parlamentarischen Mehrheit zeigt sich nun, dass der einsame Präsident so einsam nicht ist. Die bekannten Gesichter sind wieder zur Stelle, die Umverteilungsmaschinerie übernimmt wieder das Kommando.
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Von Hollande zu Macron – In diesem Licht betrachtet, ist der „unabhängige Kandidat“ Emmanuel Macron eine Neuauflage von Hollande. Auch er erweckt den Eindruck, allein zu stehen und nur seiner eigenen Einsicht zu folgen. Er treibt die Rolle des Unabhängigen sogar noch weiter. Macron hat nur eine kurze Zeit sein Ministeramt ausgeübt. Die Möglichkeit, zunächst einmal über längere Zeit praktische Regierungserfahrung zu erwerben, war ihm nicht wichtig. Stattdessen hat er frühzeitig die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gesucht – mit begrenzten Konflikten und Absetzbewegungen von der Sozialistischen Partei. Aus der Regierung ausgeschieden gründete kurzerhand seine eigene „Bewegung“ („En marche“) und verkündete gleich nicht weniger als eine „Revolution“ (so der Titel seines Buches zur Selbstpräsentation).
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Alles erscheint möglich (1) – Getrennt vom Parteiapparat der französischen Sozialisten scheint Emmanuel Macron freischwebend und geradezu schwerelos jeden Gipfel der Politik erklimmen zu können. Macron hatte in seiner kurzen und steilen Karriere bisher keine längere Durststrecke zu bestehen. Wer seine Rede am Abend des ersten Wahlgangs verfolgte, fühlte sich an jene Sympathie-Formeln erinnert, die die Sieger von Castingshows von sich geben. Er wirkt wie ein Synthetik-Produkt, seine einstudierten Gesten und Formulierungen fühlen sich wie Plastik an. Es fehlt das Sperrige – das krumme Holz, aus dem das wirkliche Leben gemacht ist. Doch gereicht ihm das bisher keineswegs zum Nachteil. Es macht ihn für viele zur Idealbesetzung einer Politik, die alle Probleme durch ein vermittelndes Sowohl-als-Auch regelt – und die kein „Hier steht Frankreich und kann nicht anders“ kennt.
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Alles erscheint möglich (2) – Die Parteien, die Frankreich in den letzten Jahrzehnten geführt haben, waren auf einmal wie vom Erdboden verschluckt. Und aus dem Ausland wurde ihm zugejubelt, als wäre hier der neue Obama gefunden.
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Alles erscheint möglich (3) – Michaela Wiegel, Frankreich-Korrespondentin der FAZ, die noch vor wenigen Wochen in einem Beitrag für das Magazin der Bundeszentrale für Politische Bildung den sozialistischen Kandidaten Hamon zum Hoffnungsträger ausgerufen hatte, ist im FAZ-Leitartikel am 25.April, nun zu Macron übergelaufen und scheut selbst höchste Vergleiche nicht: „Macron hat das Charisma, das Selbstbild Frankreichs zu verändern. Er knüpft an eine alte französische Tradition an, jungen Talenten zu vertrauen. Louis-Napoléon Bonaparte war gerade 40 Jahre alt, als er 1848 zum Präsidenten gewählt wurde. Sein großer Onkel, Napoléon Bonaparte, war sogar erst 30 Jahre alt, als er 1799 in Paris nach der Macht griff.“
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Die Entzauberung der Unabhängigkeit (1) – Es könnte allerdings passieren, dass ein Präsident Macron noch schneller entzaubert wird, als das bei seinem Vorgänger der Fall war. Das beginnt schon damit, dass nach der Wahl zum Präsidenten noch ein dritter Wahlgang wartet: die Wahlen zum Parlament. Hier muss Macron eine dauerhafte parlamentarische Mehrheit finden. Spätestens hier kann er nicht mehr „allein“ bleiben. Er muss auf die Parteien(reste) zurückgreifen, die jetzt von der politischen Bühne verschwunden sind – also auf die Sozialisten. Und ohne einen Rückgriff auf deren linken Flügel (Hamon), auf Parteigänger der Linkspartei (Mélenchon) und der Grünen, wird es zu einer Mehrheit nicht reichen. Es könnte also in ein paar Wochen passieren, dass die Franzosen aufwachen und ein böses Deja-Vu erleben: Sie finden sich mit Macron in exakt derselben Konstellation wieder, die sie die vergangenen fünf Jahre unter Hollande hatten…
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Die Entzauberung der Unabhängigkeit (2) – 2013 beschrieb Günter Nonnenmacher in einem Leitartikel der FAZ („Das deutsch-französische Dilemma“) eine im Grunde aussichtslose Situation: „Doch die Frage ist, ob Hollande einen Kurswechsel überhaupt wagen kann. Er drückt sich vor schmerzhaften Reformen, weil unsicher ist, ob seine Mehrheit im Parlament sie mittragen würde.“ Nonnenmacher zählt die Linkspartei Mélenchons, die Kommunisten, die Grünen und den linken Flügel der Sozialisten auf. Weil Hollande durch diese Umstände an einschneidenden Reformen gehindert würde, würde der Abstand zu Deutschland immer größer, wodurch wiederum der Unmut in Frankreich wachse. „Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist nicht in Sicht“ ist der Schlusssatz des Leitartikels. Das ist nicht viel, wenn man heute erklären will, warum ein Präsident Macron nun der endlich gefundene große Hoffnungsträger ist. Was 2013 für Hollande gilt, gilt 2017 für Macron. Er hätte – würde er wirklich etwas Einschneidendes unternehmen wollen – exakt dieselben Mehrheitsprobleme im Parlament. Was sollte er können, was Hollande offenbar nicht gekonnt hat?
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Die Entzauberung der Unabhängigkeit (3) – Man sollte allerdings prinzipieller fragen. Selbst wenn es Macron gelänge, zunächst eine halbwegs treue Parlamentsmehrheit hinter sich zu bringen – Wird das reichen, um Frankreich aus seiner existenziellen Krise herauszuführen? Man denke an den Reformer Renzi in Italien, der eine solche Mehrheit zu Beginn seiner Amtszeit hatte und…scheiterte. Es ist ein Irrglaube, dass in einem modernen industriellen und demokratischen Land eine „dynamische Persönlichkeit“ genüg, um eine Veränderung herbeizuführen, die die Arbeitsweise dieses Landes betrifft. Es mag ja sein, dass sich in der Personalisierung der Politik – wie man sie auch in anderen Ländern, Deutschland eingeschlossen, findet – die „Individualisierung der Gesellschaft“ spiegelt. Aber diese Individualisierung ist im Wesentlichen nur ein frommer Glaube an die Individualisierung. In der Realität ist ein hochentwickeltes Land immer noch eine große, vielseitig verzahnte Maschine, die ohne die Mitwirkung von Millionen niemals nachhaltig umgebaut werden kann. In einer existenziellen Krise ist die Personalisierung der Politik völlig unzureichend. Ihr fehlt der Unterbau, um wirkliche Einschnitte durchzuführen. Und ihr fehlt die Dauerhaftigkeit, um diese Einschnitte über längere Zeit durchzuhalten. Um das zu schaffen – unter demokratischen Umständen – braucht es politische Parteien als eigene Instanz der Richtungsbildung.
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Über den Satz „Europa ist erleichtert“ – Nach dem ersten Wahlgang in Frankreich lautete vielfach wiederholte Schlagzeile: „Europa ist erleichtert“. Eine merkwürdige Leichtigkeit ist das. Hat man schon vergessen, dass in Frankreich seit über einem Jahr der Ausnahmezustand verhängt ist? Das bedeutet ja nicht weniger, als dass die rechtsstaatliche Ordnung in einem europäischen Kernland auf dem Spiel steht. Und es gibt nicht den geringsten Grund zur Entwarnung. Wie kann man da irgendein Gefühl der „Erleichterung“ empfinden? Dazu kommt ein zweiter Ausnahmezustand: Die wirtschaftliche Stagnation und das Wachstum der Staatsschulden werden immer bedrohlicher. Dass es sich hier um einen Ausnahmezustand handelt, ist aber noch gar nicht anerkannt. Man geht, nicht nur in Frankreich, davon aus, dass die Lage irgendwie „durch Zusammenstehen“ im Rahmen der Europäischen Union in Schach gehalten wird. Da ist der Jubel über den „Pro-Europäer“ Macron im Grunde ein Zirkelschluss. Man feiert die Stabilität der europäischen Gesinnung, als wäre dadurch die Stabilisierung Frankreichs schon geleistet.
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Wer spricht da eigentlich? – In Wirklichkeit meint der Satz „Europa ist erleichtert“, der so anmaßend vorgibt, im Namen eines ganzen Kontinents zu sprechen, etwas Anderes. Man ist erleichtert, weil „die Anderen“ (die offenbar nicht zu Europa gehören) nicht gewonnen haben. Man freut sich nicht darüber, dass nun ein bestimmtes Regierungsprogramm zum Zuge kommt. Dass man etwas gestalten kann. Nein, man hat nur die Erwartung, weiterhin unter sich zu sein. Man hat eigentlich nichts vor. Man möchte nur, bitte schön, die eigenen Positionen behalten. So spricht keine regierende Elite, sondern eine herrschende Klasse.
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Den Auflösungsprozess der französischen Republik verhindern – In dem unabhängigen Kandidaten Macron drückt sich ein Auflösungsprozess aus. Die französische Politik verabschiedet sich von den Parteien, die bisher noch für den Verantwortungsrahmen der Fünften Republik standen, als für eine politische Selbstverantwortung Frankreichs. Man kann mit Recht sagen, dass die Regierungsparteien der vergangenen Jahre und Jahrzehnte dieser Verantwortung nicht gerecht geworden sind. Aber die Lösung „Macron“ ist eine Flucht ins Offene, ins Verschwommene, ins Niemandsland des Globalen. In dieser Richtung wird es keine Lösung geben. Es wird nur eine zunehmende Entfremdung der wirtschaftlichen und politischen Eliten von den Realitäten im Land geben. Aus dieser Sicht ist das Macron-Fieber und die Selbstentmachtung der politischen Parteien in Frankreich keine gute Nachricht. Und auch die Dämonisierung der Front National Marine Le Pens ist keine gute Nachricht. Denn diese Partei ist im Augenblick das einzige größere Gegengewicht gegen die politischen Auflösungstendenzen. Sie übt auch einen nützlichen Erneuerungsdruck auf die Parteienlandschaft aus.