Die Sanktionsmaßnahmen der USA und der EU gegen Russland können die internationalen Beziehungen auf lange Zeit belasten. Sie werden mit einer Verletzung des Völkerrechts begründet, doch das führt in eine Sackgasse.

Völkerrecht als Politikersatz

Die Feststellung, dass die Loslösung der Krim von der Ukraine und ihr Beitritt zur Russischen Föderation völkerrechtswidrig seien, ist zur Patentformel in der Ukraine-Krise geworden. Der Hinweis auf das Völkerrecht überdeckt die Tatsache, dass die Krim-Angelegenheit erst das zweite Glied der Ereignisse war und ihr ein Regimewechsel in Kiew vorausging. Sie überdeckt auch die Tatsache, dass die Sanktionen gegen Russland von Staaten erfolgte, die von Russland nicht angegriffen waren. Die EU und die USA verstehen sich als Vertreter einer „Weltgemeinschaft“, die durch das Völkerrecht fiktiv gebildet ist. Zu dieser Vertretung berufen hat die EU und die USA niemand. Die Berufung auf die Instanz des Völkerrechts hat etwas Unwiderlegbares und Letztgültiges. „Ein Teil eines Staates kann nicht einseitig seine Unabhängigkeit erklären, dazu braucht es eine Vereinbarung zwischen der Zentralregierung und dem abtrünnigen Gebiet“, wird der Völkerrechtler Hans-Joachim Heintze von der Ruhr-Universität Bochum in einem Beitrag von Anika Kreller für das Web.de-Magazin (19.3.14, 21:50 Uhr) zitiert. Das klingt plausibel und die Autorin formuliert im Folgenden: „Könnte sich jede autonome Region einfach unabhängig erklären, würde bald ein unüberschaubares Chaos herrschen.“ Doch so „einfach“ ist es denn doch nicht, wie der Fall des Kosovo zeigt. Die Autorin muss einräumen: „…war die Lostrennung in den Augen der internationalen Gemeinschaft damals (im Fall des Kosovo, GH) die einzige Lösung, um die Gewalt zu beenden.“ Also unterliegt das rein rechtliche Prinzip letztlich doch einem politischen Urteil. Im Kosovo musste zum Schutz eines akut bedrohten Bevölkerungsteils interveniert werden, wobei die Intervention über einen unmittelbaren Rettungseinsatz (mit einer Schutzzone) hinausging und eine eigene Staatsbildung des Kosovo in Gang setzte. Hier lag ganz offensichtlich eine rein politische Entscheidung zugrunde. Auch die von der Autorin angeführte „internationale Gemeinschaft“ (wer konkret?) fungierte in diesem Fall nicht als völkerrechtliche Instanz, sondern als politische Instanz. Die Entscheidung war fallbezogen und konnte nicht als Präzedenzfall verallgemeinert werden.

Auch im Fall der Krim kann bezweifelt werden, dass bei ihrer Zuordnung zur Ukraine das Völkerrecht Pate gestanden hat. Die Zuordnung wurde offensichtlich politisch entschieden. In den Worten von Anika Kreller: „Nach dem Ende der Sowjetunion einigte man sich darauf, die Grenzen für die Nachfolgestaaten beizubehalten, um endlose Streitereien zu vermeiden.“ Die Autorin, die eigentlich eine Völkerrechtsverletzung Russlands auf der Krim begründen will, scheint nicht zu bemerken, dass sie nur politisch-pragmatische Gründe für die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine anführt („endlose Streitereien“) und dass sie hinter dem Wörtchen „man“ verbirgt, dass hier politische Entscheider am Werk waren.

Es mag also unwiderlegbar richtig sein, dass der Übertritt der Krim zur Russischen Föderation „völkerrechtswidrig“ ist, oder, vorsichtiger ausgedrückt, vom Völkerrecht nicht gedeckt ist. Nach dem Völkerrecht waren Sezession und Beitritt ein Rechtsbruch, selbst bei einem Referendum mit überwältigender Mehrheit. Diese Beurteilung ist rechtslogisch durchaus konsequent. Und doch führt sie zu üblen Effekten, wenn man ihr den Primat gegenüber politischen Entscheidungen einräumt. Sie bestraft einen Staat (hier Russland), der in einer gegebenen Situation der Reformbewegung im Osten Europas nicht im Wege stehen wollte und deshalb recht schnell in neue Grenzen eingewilligt hat. Damals ging man allgemein von einer offenen Situation aus, bei der es in der Folgezeit relativ leicht sein würde, Korrekturen an unvernünftige Zuordnungen und Grenzziehungen in politischen Verhandlungen vorzunehmen. Götz Aly schreibt in der Berliner Zeitung vom 18.3.2014: „Die erst 1992 als Staat gegründete Ukraine hat noch keine feste Form. Die einzelnen Landesteile sind höchst heterogen. Die heutige ukrainische Westgrenze wurde 1939 im Hitler-Stalin-Pakt festgelegt, andere Grenzen verdanken sich sowjetischer Nationalitäten- und Machtpolitik.“

Wenn man nun heute diese Situation nur noch völkerrechtlich betrachten will, werden alle Grenzen in der Region in den Status eines Ewigkeitsrechts erhoben. Zugleich wird der Eindruck erweckt, eine Veränderung im Fall der Krim würde sofort eine allgemeine Grenzrevision in Osteuropa nach sich ziehen. Dabei ist die Krimentscheidung offensichtlich ein Sonderfall: Er ist die Antwort auf eine plötzliche Radikalwende der Ukraine gegen Russland. Diese Problemlage gibt es bei anderen Ländern in Osteuropa nicht und ihr zukünftiges Eintreten ist nicht wahrscheinlich.

Auch im größeren historischen Maßstab ist der Primat des Völkerrechts fragwürdig. Denn der Stand der Staatsgrenzen, die heute vom Völkerrecht für unantastbar erklärt werden, ist vielfach durch Lostrennungen und Annexionen entstanden. Klassische Staaten wie Spanien, Frankreich, Großbritannien, Deutschland sind durch einseitige Expansionsakte gebildet worden (man denke an die Rolle Kastiliens, der Ile de France, Englands und Preußens). Das heutige Staatsgebiet der USA hat sich durch zahlreiche Anschlüsse und Zukäufe konstituiert – man denke an Texas, Alaska, Hawaii. Hier ist es offensichtlich sinnlos, über diese Vorgänge einen rückwärtsgewandten Gerichtsprozess zu führen. Das Hin und Her der Völkerrechts-Vorhaltungen („russische Aggression“, „westliche Scheinheiligkeit“) bringt keine Lösung. Das Recht, das immer darauf angewiesen ist, einen bestimmten historischen Status zum Ausgangspunkt zu nehmen, ohne nach seiner Genese zu fragen, ist hier überfordert. Allzuleicht gerät es zum Machtmittel der Zuerst-Gekommenen der Geschichte.

Deshalb steht sich hier eine prinzipielle Frage im Raum: Ist es wirklich sinnvoll, die Lösung der Ukraine-Krise in der Form eines (Völker-)Rechtsstreits zu suchen? Kann man überhaupt Konstituierungsfragen von Staaten aus rechtlichen Prinzipien deduktiv beantworten? Lässt sich die beste Lösung rechtssystematisch ableiten? Es gibt ja durchaus gute Gründe für die Lostrennung des Kosovo, für die Eingliederung des Midi in Frankreich, für die Zugehörigkeit Hawaiis zu den USA. Auch gegen eine Sezession Kataloniens von Spanien oder Schottlands von Großbritannien. Aber das sind Gründe der politischen Vernunft. Sie lassen sich offenbar nicht vollständig verrechtlichen, d.h. in eine Rechtssystematik aufnehmen. Das Völkerrecht kann die Schwelle für eine Veränderung von Grenzen zwischen Staaten höher hängen, aber letztlich muss man diese Fragen der Politik überantworten. Das Völkerrecht bildet einen heilsamen Hemmschuh, aber nicht mehr.

Hingegen kann die politische Vernunft für sich durchaus Positives beanspruchen: Ihre Resultate in Gestalt der heutigen Staatenwelt können sich durchaus sehen lassen und weisen mit der Zeit eine hohe Stabilität auf. Zur Vernunft politischer Systeme gehört eben nicht nur das Machtstreben, sondern auch die kluge Selbstbegrenzung, die auch das Akzeptieren von Verlusten einschließt. Nun ist der Westen einmal dran mit dem Akzeptieren einer Veränderung.

 

(Manuskript vom 21.März 2014, unveröffentlicht)