Die Verfassungstreue des Islam entscheidet sich nicht in Büchern

Beachtet die Freitagsgebete

Heute ist Freitag. Für die Muslime in Deutschland ist es ein wichtiger Tag, der Tag der Freitagsgebete. Die Predigten an diesem Tag haben nicht nur eine religiöse Botschaft, sondern in ihnen wird auch dazu Stellung genommen, wie sich die Menschen muslimischen Glaubens in ihrem Alltag in Deutschland verhalten sollen. Wenn man also einen Eindruck davon bekommen will, wie die Muslime denken und fühlen, dann sind die Freitagspredigten dafür Woche für Woche ein wichtiger Indikator. Hier kann man auch eine Vorstellung davon bekommen, was bei unseren Mitbürgern zu Hause besprochen wird. Es wäre also wichtig, wenn sprachkundige Menschen für die deutsche Öffentlichkeit – auch für die Öffentlichkeit in einem Stadtteil – etwas von dem übersetzen, was da jeden Freitag geschieht. Dabei geht es nicht um Extremistenbeobachtung, sondern den Glauben, den die Mehrheit der Muslime in diesem Land praktiziert.

Am 8.1. hat Barbara John, die langjährige Integrationsbeauftragte des Landes Berlin, in der „Abendschau“ einen bemerkenswerten Vorschlag gemacht. Angesichts des Terroranschlags in Paris hat sie vorgeschlagen, dass bei den Predigten am heutigen Tag Karikaturen von Charlie Hebdo gezeigt werden und den Gläubigen erklärt wird, dass sie solche Karikaturen tolerieren sollen – auch wenn hier etwas karikiert wird, was ihnen heilig ist. Die Imame sollten, so John, ihrer Gemeinde deutlich machen, dass die Freiheit von Wort und Bild zu den unveräußerlichen Grundwerten des Landes gehöre, in dem sie leben; und dass sie nicht nur die Dinge annehmen sollten, die ihnen angenehm sind, sondern auch die Dinge tolerieren sollten, die ihnen fremd und vielleicht sogar widerwärtig sind. Das ist ein bemerkenswertes, ein gutes Statement. Denn es besagt, dass die Freiheit und das Bürgerrecht in Deutschland nur als Ganzes zu haben ist, und dass das Grundgesetz nicht gespalten werden darf in einen akzeptablen und einen unakzeptablen Teil.

Bemerkenswert ist dies Statement auch deshalb, weil Barbara John nicht im Verdacht steht, eine Anhängerin von „Pegida“ zu sein. Eher könnte man vermuten, dass sie auch schon mal bei Anti-Pegida mitgegangen ist. Aber sie ist als Praktikerin der Integration zu nahe an den Realitäten, um sich mit der abstrakten Unterscheidung zwischen „Islam“ und „Islamismus“ zufrieden zu geben.

Ganz ähnlich hat in Frankreich der Fernsehmoderator David Poujadas vom Sender „France 2“ gefordert, die Repräsentanten des Islams sollten nicht nur Verbrechen verurteilen, sondern endlich Basisarbeit leisten.

Bisher ist die Diskussion über den Unterschied zwischen Islam und Islamismus ja eine sehr theoretische Sache, die einzelne Koranstellen herauspickt und interpretiert. Der Vorschlag, die Karikaturen offen in einer Moschee anzusprechen, berührt einen kritischen Punkt: Würde man eine Umfrage unter allen Menschen islamischen Glaubens in Deutschland machen, ob sie eine Karikierung ihres Religionsstifters als unverzeihliche Todsünde ansehen, so würde wohl eine Mehrheit dem zustimmen. Wir müssen auch davon ausgehen, dass im häuslichen Kreis in vielen islamischen Familien gesagt wird, dass die Zeichner von Charlie Hebdo abscheuliche, ehrverletzende Verbrecher sind. Und doch werden dieselben Menschen auch sagen, dass sie den Mordanschlag verurteilen – und das ist nicht einfach eine Verstellung dieser Menschen, sondern kommt von Herzen.

So ist wahrscheinlich die gegenwärtige Haltung der Mehrheit der Muslime in einem freiheitlich-demokratischen Land wie Deutschland: Sie sind innerlich zerrissen zwischen einer religiösen Bindung und einer mitmenschlichen, säkularen Bindung. Diese Zerrissenheit ist auf die Dauer nicht haltbar. Der Islam in Deutschland steht vor der Aufgabe, beide Seiten – tiefen Glauben und die Unbedingtheit der säkularen Freiheit – miteinander zu befrieden. Gelöst ist diese Aufgabe nicht. Man tut der Integration des Islam in Deutschland keinen Gefallen, wenn man den bestehenden Zwiespalt ignoriert und mit einem bequemen Optimismus darüber hinweggeht.

Aber geht es wirklich nur um den Islam? Oder zeigt der Fall Charlie Hebdo vielleicht, dass es auch ein Problem beim Christentum gibt? Einige von denen, die jetzt Plakate mit „Wir sind Charlie Hebdo“ hochhalten, haben noch vor einiger Zeit Prozesse gegen die Religionssatire in diesem Blatt angestrengt. Das Berliner Radio 88,8 (öffentlich-rechtlich) sendete am 8.1. eine Morgenandacht mit Juliane Büttner von der Katholischen Kirche. Sie zeigte sich schockiert über das Attentat und konnte sich dann doch („auch wenn es unmittelbar nach dem Attentat nicht der richtige Zeitpunkt ist“) einen kleinen Nebensatz nicht verkneifen: Es gebe die Presse- und Meinungsfreiheit, aber es gebe doch ein Problem, wenn durch Publikationen „religiöse Gefühle“ verletzt und „Religionsstifter“ verunglimpft würden. Dies sei eine in Zukunft zu führende Diskussion.

Da haben wir wieder das alte Bestreben, die Religion zur Tabuzone für säkulare Praktiken wie Aufklärung, Kritik und Satire zu erklären – diesmal weniger im Namen einer höheren Wahrheit als im Namen des Gefühls. Die Lösung, dass sich zwei starke Geltungsansprüche – der religiöse Glaube und die weltliche Auseinandersetzung in Wort und Bild – als große Freiheiten gegenseitig akzeptieren, ist also auch von christlicher Seite nicht ein für alle Mal akzeptiert. Auch um sie muss gerungen werden. Es wäre also recht dumm, wenn man zur Verteidigung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung die eine Religion (das Christentum) gegen eine andere Religion (den Islam) aufbieten wollte. Eher sollte man bei der Verteidigung der weltlichen Freiheit eine gewisse Distanz zu jeder Religion wahren. Auch beim christlichen Wort zum Sonntag sollte man also gut hinhören.

 

(erschienen am 9.1.2015 auf der Internetplattform „Die Achse des Guten“)