Europa steht nicht nur vor der politischen Entscheidung, ob es als Bundesstaat oder als Staatenbund verfasst sein will. Es muss sich auch fragen, ob seine Zukunft in einer gesamteuropäischen Zivilgesellschaft oder in einem Pluralismus nationaler Zivilgesellschaften liegt.

Die Nation als zivilgesellschaftliches Projekt

Europa hat schon viele Krisen gesehen und das ist nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen. Es kommt darauf an, das Problem, das der Krise zu Grunde liegt, in seiner Tiefe auszuloten. Bei der gegenwärtigen Krise geht es nicht nur darum, „wie“ der Europäischen Union weitere Schritte der Vereinigung gelingen können. Es geht um ein „ob“: Um die Frage, ob dieser Weg fortgesetzt werden soll oder ob eine andere Richtung eingeschlagen werden soll. Phänomene wie das Scheitern der Rettung-gegen-Reform-Politik in Griechenland, das massive Geld-Pumpen der EZB und die faktische Außerkraft-Setzung der Abkommen zur Migrationsregelung zeigen, dass es um eine größere Entscheidung geht. Bisher ging man davon aus, dass die Europäische Union ein Weder-Noch sei – weder ein einheitlicher Bundesstaat noch ein Bund souveräner Einzelstaaten. Die europäische Entwicklung sollte sich in einem „Dazwischen“ vollziehen, wo die Staatsfrage sich nicht stellt, sondern ein kumulativer „Europaprozess“ stattfindet. Doch nun zeichnet sich ein Entweder-Oder ab: Entweder man macht den Schritt zu einer gemeinsamen Staatlichkeit auf der Grundlage einer europäischen Verfassung, oder man kommt zu dem Schluss, dass die Brennpunkte besser in einer pluralistischen Ordnung von Einzelstaaten, die miteinander Verträge schließen, zu bearbeiten sind. Die erste Lösung bedeutet, dass man die oben genannten Brennpunkte dadurch bearbeitet, dass man eine gesamteuropäische Hoheit errichtet. Die zweite Lösung bedeutet, dass eine Neufassung der europäischen Verträge notwendig wäre, die deutlicher die Leistungen, Gegenleistungen, Kontrollen, Fristen, Sanktionen bei Vertragsbruch und Konditionen des Austritts/des Ausschlusses einzelner Vertragspartner festlegt. In diesem Fall würden die Nationen wieder stärker Träger der Entwicklung sein. Das wäre nicht „antieuropäisch“, sondern würde an eine ältere Kontinuität Europas anknüpfen.

Man kann die zunehmende Beschwörung der „höheren europäischen Interessen“ auf der einen Seite (z.B. im Ukraine-Konflikt oder in der Griechenland-Affäre) und den wachsenden Einfluss „euroskeptischer“ Parteien auf der anderen Seite als Ausdruck dieses Entweder-Oder verstehen. Hier zeigt sich, dass die gegenwärtige Europa-Krise eine neue Qualität hat. Es geht nicht mehr nur um die eine oder andere Ausgestaltung des Europaprozesses, sondern um seine Überschreitung – entweder in Richtung auf eine übergreifende staatliche Einheit oder in Richtung auf eine Rückkehr eines vertraglich gebundenen Pluralismus der Nationalstaaten. Dieser Richtungsstreit wäre unfruchtbar, wenn er nur mit demagogischen Beiträgen geführt würde – wenn etwa so getan wird, als seien nur „Brüsseler Machthaber“ oder nur „rechtspopulistische Verführer“ am Werke. Es gibt durchaus rationale Argumente, die für die eine oder die andere staatliche Ordnung Europas vorgetragen und gegeneinander abgewogen werden können. Das gilt zunächst auf der politischen Ebene. Hier müssen beide Ordnungsangebote auf zwei Grundanforderungen antworten. Sie ergeben sich aus der staatlichen Aufgabe, allgemeinverbindliche Normen und öffentliche Güter zur Verfügung zu stellen: Erstens muss ein Staatswesen hinreichend ausgedehnt sein, um eine relevante Allgemeinheit zu erfassen. Zweitens muss es hinreichend überschaubar sein, damit die Verbindlichkeit seiner Entscheidungen sichergestellt werden kann. Das erste Kriterium wirkt in Richtung auf ein möglichst großes und damit relativ heterogenes Gebilde, das zweite Kriterium in Richtung auf ein möglichst kleines und damit relativ homogenes Gebilde. Jede tatsächliche Staatsbildung stellt immer einen Kompromiss zwischen diesen beiden gegenläufigen Anforderungen dar.[1]

Die beiden europäischen Ordnungsangebote haben auch diesen Kompromisscharakter: Ein europäischer Einheitsstaat hätte nicht nur eine beträchtliche Ausdehnung, sondern auch eine gewisse Überschaubarkeit und Homogenität. Er könnte Untergliederungen umfassen. Umgekehrt ist die Nation keineswegs ein völlig überschaubares und homogenes Gebilde – die in Europa gebildeten Nationen umfassen unterschiedliche ethnische Abstammungen, verschiedene Glaubensrichtungen, oft auch verschiedene Sprachen und immer gegensätzliche Landschaften. Nationen sind auch keine geschlossenen Einheiten, sondern unterhalten Weltbezüge (durch Außenpolitik und Allianzen). Die geläufigen Anklagen gegen den Nationalstaat, dass er zu eng und gleichzeitig zu expansiv sei, verfehlen daher den rationalen Kern der territorialen Staatsbildung.[2] Insgesamt geht es also nicht um einen absoluten Gegensatz, bei dem im einen Fall (Einheitsstaat Europa) eine Despotie vorprogrammiert wäre, oder im anderen Fall (Vertragsgemeinschaft von Nationalstaaten) ein neuer Weltkrieg bevorstünde. So gegensätzlich die beiden Lösungsangebote sind, sind sie doch Angebote innerhalb des republikanischen Grundansatzes.

In diesem Beitrag geht es jedoch nicht um eine Abwägung in der politischen Sphäre, sondern in der Sphäre kultureller Gegebenheiten und Ordnungen. Die Frage ist, welchen Beitrag der zivilgesellschaftliche Faktor bei der anstehenden Ordnungsaufgabe Europas leisten kann und in welcher Richtung er wirkt. Auf der einen Seite wäre zu fragen, was die gemeinsame Substanz einer „europäischen Zivilgesellschaft“ sein könnte. Auf der andere Seite ist zu klären, inwiefern Zivilgesellschaften „national“ sein können und wie dann ein Pluralismus von solchen Gesellschaften funktioniert. Dass es eine Wirkung der kulturellen (ethischen und ästhetischen) Sphäre auf die politische Sphäre gibt, ist eigentlich unbestritten. Bekannt ist das Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“.[3] In diesem Sinn könnte man „Zivilgesellschaft“ als den Ort verstehen, an dem solche „Voraussetzungen“ des Staates generiert werden. Es gibt aber auch Stimmen, die vor einem Kurzschluss zwischen Kultur und Politik warnen, der besonders dann kontraproduktiv wirken kann, wenn im Namen des Guten und Schönen die realpolitischen Härten delegitimiert werden. Max Weber sprach von einer „spießbürgerlichen Erweichung des Gemüts, welche politische Ideale durch `ethische´ ersetzen zu können meint und diese wiederum harmlos mit optimistischen Glückshoffnungen identifiziert“.[4] Diese Gefahr ist heute, wo der Appell an die Zivilgesellschaft sehr verbreitet ist, nicht von der Hand zu weisen. Bei dem hier diskutierten Ordnungsproblem könnte eine „Europäische Zivilgesellschaft“ zu einer wohlfeilen Patentformel werden, mit der Entscheidungs-Dilemmata überdeckt werden. Das gilt insbesondere dann, wenn das „Zivile“ zu harmlos und das „Gesellschaftliche“ zu leicht verfügbar konzipiert werden.

Im Folgenden wird deshalb zunächst die Eigenlogik kultureller Tatsachen erörtert. Dabei werden zwei sehr unterschiedliche Vorstellungen von „Zivilität“ herausgearbeitet (Kap. 1); es folgt ein Blick auf Spanien, mit dem gezeigt werden soll, wie sehr sich die heutige spanische Zivilgesellschaft von der Zivilgesellschaft unterscheidet, die den Übergang (die Transition) aus dem Franco-Regime schaffte (Kap. 2); danach soll – am Beispiel deutsch-spanischer Erfahrungen – dargestellt werden, wie eine Außenbeziehung zwischen unterschiedlichen Zivilgesellschaften möglich ist und wie unerlässlich dabei die Fähigkeit ist, Differenz wahrzunehmen und sich einer anderen Zivilität anzupassen (Kap.3). Zum Schluss wird noch einmal die Eingangsfrage nach den Ordnungsalternativen in Europa aufgegriffen.

Die Eigenlogik kultureller Sachverhalte und die Unabhängigkeit der Zivilgesellschaft

Die Ära der Moderne zeichnet sich dadurch aus, dass es eine autonome Sphäre der Kultur gibt, die nicht den Gesetzen von Staat und Wirtschaft subsumiert ist. Diese Autonomie hat sich durch Trennungen konstituiert, Europa war gewissermaßen der Trennungsgenerator.[5] So kann die Ära der Moderne, die hier ihren Ausgang nahm, nicht mehr unter einem Begriff zusammengefasst werden, weder unter dem Begriff Gottes, noch unter dem Begriff des Staates, der Wirtschaft, auch nicht der Gesellschaft, nicht einmal unter dem Begriff des menschlichen Subjekts. Es ist aber auch schwierig, alle Sachverhalte, die die kulturelle Sphäre ausmachen, zu einem Begriff zusammenzufassen und von „der Kultur“ eines Landes oder gar Erdteils zu sprechen. Kulturelle Tatsachen haben eine orientierende und motivierende Kraft, die auch auf Wirtschaft und Politik ausstrahlen kann, ohne sie direkt zu bestimmen. Bei der Wirkung kultureller Tatsachen muss zwischen zwei Dimensionen unterschieden werden: ihre Bindungskraft (Intensität) und ihre Ausbreitungskraft (Extensität). Das kann man mit einer Aussage von Thomas Mann belegen, der schreibt, Kultur sei „Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack“, daher sei sie auch „abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar.“[6] Dies führe dazu, so Mann, dass eine Kultur im Blick von außen oft „störend, beunruhigend, fremd, ja widerwärtig und wild“ erscheint. Kultur ist also nicht in dem Sinn eine „soft power“, dass sie leicht zugänglich, frei wählbar und umfassend dialogfähig wäre. Kulturdinge und -ereignisse haben ihre eigene Sperrigkeit. Sie lassen sich nicht instrumentalisieren, auch nicht für Zwecke der Verständigung oder Pädagogik. Sie haben ihre eigene Härte, auch eine gewisse Unfassbarkeit und etwas Geheimnisvolles.

Wenn Kultur als „weicher“ Faktor bezeichnet wird (wegen ihrer Unschärfen und Interpretierbarkeiten), folgt daraus nicht, dass sie beliebig verfügbar ist. Zu kulturellen Tatsachen haben wir oft gar nicht die Distanz, die es uns gestatten würde, sie frei zu wählen. Wir sind ihnen verhaftet. Sie bestimmen unser Wahrnehmen, bevor wir sie ins Auge fassen. Von Botho Strauss stammt die Aussage, dass derjenige, der Sagen, Mythen und Geschichten wirklich besitzt, „von ihnen besetzt und besessen“ ist.[7] Ganz ähnlich hat Michel Foucault die Diskurse als Ordnungen beschrieben, die nicht ausgedacht werden, sondern dem Denken vorausgehen.[8] Eine Kultur wird nicht mit Willen und Bewusstsein gemacht, sondern ist dem Willen und Bewusstsein vorgängig. Eine kulturelle Vorliebe ist in einem gewissen Grade immer eine „Leidenschaft“, der man „erliegt“. Nicht wir wählen sie aus, sondern sie uns. Das gilt nicht nur für die Kreationen der Hochkultur, für das Schöne und Erhabene. Es gilt auch für das weite Feld der alltäglichen Zivilisationsdinge, für Essen und Trinken, Kleidung, Wohnung, Hygiene und Erotik, also für die körpernahe Kultur, für die Grenzen von Scham, Schmerz und Schmutz.[9]

Es liegt daher auf der Hand, dass kulturelle Sachverhalte nicht „der“ Gesellschaft und auch nicht „dem“ Individuum zuzuschreiben sind. Vielmehr führen sie zu unendlich vielen Gruppierungen, Milieus, Szenen unterschiedlichster Größe, zu lokalen, regionalen, nationalen und globalen Zusammenhängen, mit kürzerer oder längerer Wirksamkeit (Event, Mode, Bauepoche). Mit anderen Worten: Die Bindungsfähigkeit (Intensität) und die Ausbreitungsfähigkeit (Extensität) laufen nicht parallel. Oft verhalten sich diese beiden Wirkungsrichtungen zueinander gegenläufig. Ein fait culturel kann außerordentliche Bindungskraft entwickeln, große Leidenschaften wecken und die innersten Schichten der Seele bewegen. Jedoch lässt sich diese Wirkung schwer generalisieren; sie ist nicht jedem zugänglich, die öffentliche Ausstrahlung wächst nicht mit der Intensität. Im entgegengesetzten Fall kann ein Popsong, eine Mode oder eine Ernährungsweise eine außerordentliche (und außerordentlich rasche) Verbreitung finden; sie kann eine große Zahl an der Oberfläche berühren und mobilisieren, ohne sie im Inneren wirklich zu erschüttern und ohne sie zu größeren Opfern zu motivieren. Nur in historischen Ausnahmesituationen können Intensität und Extensität zusammengehen.[10] Diese beiden Dimensionen finden auch in begrifflichen Unterscheidungen ihren Reflex. In der Unterscheidung zwischen „Kultur“ und „Zivilisation“ kann eine übergreifende (extensive) Zivilisation eine ganze Reihe verschiedener (intensiver) Kulturen umfassen.[11] Auch in der Unterscheidung zwischen „Gemeinschaft“ und „Öffentlichkeit“ wird das reflektiert. Ein gesellschaftliches Gebilde mit intensiver Bindung und restriktiver Zugänglichkeit nennen wir „Gemeinschaft“, ein gesellschaftliches Gebilde mit hoher Extensität (Zugänglichkeit, Ausbreitung) und geringer Bindungskraft nennen wir „Öffentlichkeit“. Der Gesellschaftsbegriff selber kann mehr in der einen oder der anderen Richtung akzentuiert werden. In einer älteren Debatte wurde „Gesellschaft“ häufig gegen „Gemeinschaft“ abgesetzt.[12] Zum Verständnis von „Zivilgesellschaft“ erscheint es heute angebracht, diesen Begriff auch vom Begriff der „Öffentlichkeit“ abzusetzen. Auch wenn die Zivilgesellschaft keine Gemeinschaft ist, so beinhaltet sie doch Bindungen und Begrenzungen. Im Verhältnis zur weltweit kommunizierenden Öffentlichkeit wird von der Zivilgesellschaft doch eine gewisse Formierung erwartet. Eine Zivilgesellschaft teilt bestimmte Kulturgüter und Erfahrungen, sie beruht auf der Kontinuität einer Geographie und einer Geschichte, sie bezieht sich auf das Gegenüber staatlicher und wirtschaftlicher Institutionen.

Es geht also um ein „gesellschaftliches Ziviles“, das Bindungsstärke und Generalisierung auf einem Niveau verbindet, das eine Eigenständigkeit gegenüber dem staatlichen und dem wirtschaftlichen System ermöglicht. Die Einführung des Faktors „Zivilgesellschaft“ in die europäische Debatte bedeutet also etwas ganz Anderes als die Forderung nach „Demokratisierung“ der politischen Institutionen der Europäischen Union. Es geht nicht um mehr „Mitsprache der Basis“, um Direktwahlen, Volksabstimmungen oder Petitionen, sondern um die eigene Lösungskapazität der Zivilgesellschaft. Dabei spielen Sachverhalte eine Rolle, die oft dem „Privaten“ zu geordnet werden. Mit dem Begriff der Zivilgesellschaft wird dies Private nicht politisiert, aber es wird als gesellschaftliche Größe behandelt. Die Privatsphäre wird als gesellschaftliche Sphäre betrachtet, ohne dass die einzelne Person, die Familie, der Freundeskreis oder der Verein gänzlich „vergesellschaftet“ werden. In Bezug auf Staat und Wirtschaft kann die Eigenständigkeit der Zivilgesellschaft zwei Leistungen erbringen:

  • Zum einen die Entlastung von Politik und Wirtschaft. Die Kultur kann Sachverhalte bearbeiten und Probleme bewältigen, ohne staatliche Garantie- und Schutzleistungen in Anspruch zu nehmen und ohne Tätigkeiten unter den Druck des Geldverdienens zu stellen. Sie tut das oft durch Bindungen, auch durch die Gewohnheit wiederholter Rituale. Das gilt für die großen Probleme des Daseins, zum Beispiel unheilbare Krankheiten und Katastrophen mit großem menschlichem Unglück. Gegenüber solchen Problemen helfen letztlich keine Versicherung und kein Geld, sondern die kulturellen (religiösen) Formen und die zivilen Institutionen der Familie, der Freundschaft, der Kirche. Kulturelle Formen und zivile Institutionen spielen aber auch eine tragende Rolle im Klein-Klein des Alltagslebens, mit ihren unzähligen Dingen, Schritten, Verrichtungen, Aufgaben – man denke nur an das Aufwachsen der Kinder. Es ist ganz unvorstellbar, dass das alles in den Mechanismen von Staat oder Wirtschaft bewältigt wird.[13]
  • Zum anderen die Lieferung von Vorleistungen für Politik und Wirtschaft. Darunter kann man moralische Vorleistungen verstehen: Arbeitsethos, Ausdauer, Disziplin, Verzicht und Sparsamkeit, Neugier, Leidenschaft für eine Sache.[14] Aber auch ästhetische Vorleistungen: Für die Marktfähigkeit wirtschaftlicher Güter und die  Geltungskraft von politischen Entscheidungen müssen sie eine fassbare, ansehnliche und faszinierende Präsenz haben. Die Kultur schafft hier Vorbilder von großem Handeln und von starker Wahrnehmung. Kulturelle Aktivitäten haben oft Versuchscharakter und sind damit auch „Suchverfahren“ für die Möglichkeiten dieser Welt, dazu gehört nicht zuletzt auch die moderne Wissenschaft.

 

Bei einer näheren Betrachtung der Leistungen, die die eigenständige kulturelle Sphäre der Moderne erbringt, fällt eine gewisse Betonung der schwierigeren Bedingungen und der härteren Herausforderungen auf. Man denke an Max Webers Begriff der „innerweltlichen Askese“, mit dem er das geistige Grundmotiv des Kapitalismus zu erfassen versuchte (Weber 1920/1988c). Alexis de Tocqueville schrieb in seinen Betrachtungen über die Demokratie in Amerika über den dortigen Ehrbegriff, dass am höchsten die Fähigkeit geachtet wird, „der Wut des Ozeans zu trotzen, um schnellstens im Hafen zu sein, die Nöte der Wüste ohne Klagen zu erdulden und die Einsamkeit, die grausamer ist als alles Elend“.[15] Die Lösung, die Molière in seinem Stück „Der eingebildete Kranke“ anvisiert, oder die Montaigne in seinen „Essais“ durchexerziert, ist nicht das Mut-Machen, sondern das Aushalten der körperlichen und geistigen Schwächen des Menschen. Immanuel Kants (1788/1977) oder Friedrich Schillers (1793/1994) Vorstellungen von Menschenwürde sind anspruchsvolle, fordernde Vorstellungen. In der Religion bekommt die Idee, der Mensch müsse sich in seinem Leben vor Gott bewähren, den Vorrang vor dem Erlösungs-Versprechen. So ist der kulturelle Grundton, der in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit vorwiegt, eher fordernd als entgegenkommend.

Auch die Formierung zur Zivilgesellschaft, die die Eigenständigkeit der kulturellen Sphäre erst wirklich auf Augenhöhe gegenüber Staat und Wirtschaft hob, war ein anspruchsvoller Vorgang. Er erforderte Bindung, aber nicht nur im vertrauten Kreis einer Gemeinschaft, sondern in einem größeren Maßstab. Er meinte etwas Generalisierbares, aber nicht nur ein öffentliches Kommunizieren, sondern ein substantielles Anliegen. Die Zivilität musste auf übergreifenden, von allen Bürgern geteilten Gütern beruhen. Sie musste Commons haben – materielle Commons im Sinne von „Straßen und Brücken“, ideelle Commons im Sinne eines „Bildungskanons“ oder „Kulturerbes“. Ohne die Bindung gemeinsamer Abstammung und vertrauter Nähe musste doch eine Zugehörigkeitsidee zu einer von allen geteilten Geographie und Geschichte bestehen. Nur so konnte eine gemeinsam geteilte Erfahrung der Welt und eine gefühlte Haftung im Guten und im Schlechten entstehen, die fraglos da war und nicht erst für jeden Einzelfall neue ausgehandelt werden musste. Nur auf Grund einer solchen „generalisierten  Verbindlichkeit“ war es möglich, als Gesellschaft (nicht nur individuell) eine für die Moderne typische Schwelle zu überschreiten: längere, schwierige, schmerzhafte Durststrecken. Nur dann konnte wirklich von einer Civil society die Rede sein. Sie war also eine wirkliche historische Errungenschaft. Eine „unwahrscheinliche“ Errungenschaft sozusagen. Deshalb konnte sie nicht aus den luftigen Höhen des Kosmopolitischen als weltumspannende Idee vom Himmel fallen, sondern musste aufgebaut und gepflegt werden. Eine Zivilgesellschaft gab es nur auf bestimmte Länder begrenzt und auch dort hatte sie ihre historischen Hochphasen und Niedergänge. Deshalb liegt es nahe, sie mit dem Begriff der Nation zu verbinden. Umgekehrt liegt es auch nahe, die Nation nicht nur als Staatsnation zu verstehen (und schon gar nicht nur „Kriegsnation), sondern auch als Zivilnation. Die Geschichte der modernen Zivilgesellschaften gehört also zunächst zur Geschichte der Nationen, und sie kann dieser Geschichte der Nationen auch neue Facetten und einen neuen Klang geben.[16]

Gibt es die Möglichkeit, diesen Rahmen zu überschreiten und zu einer „europäischen Zivilgesellschaft“ zu kommen? Das ist theoretisch nicht auszuschließen. Allerdings müsste eine solche Zivilgesellschaft die gleiche doppelte Herausforderung und damit den gleichen Spagat bewältigen. Sie dürfte nicht nur „Öffentlichkeit“ sein und nicht nur „Gemeinschaft“, sondern müsste Generalisierung und Bindung zusammen gewährleisten. Wenn man allerdings den heutigen zivilgesellschaftlichen Diskurs betrachtet, stellt man fest, dass diese doppelte Herausforderung hier gar nicht klar ist. Der Begriff hat sich trivialisiert, er ist zum Wieselwort für alles und jedes geworden. Die Spannung zwischen Bindungsaufgabe und Generalisierungsaufgabe ist weitgehend in ein Wünsch-Dir-Was-Programm aufgelöst. Die Konnotationen des Begriffs gehen eher ins Weiche und Warme. Das „Zivile“ ist nett geworden. Es wird als Distanzierung von der Härte und Kälte der Systeme definiert. Eine „zivile“ Welt soll ohne Sanktionen, ohne Strafen, ohne Hierarchien, ohne Entbehrungen, ohne Durststrecken, ohne Auswahlzwänge und natürlich ohne Waffen möglich sein. Der Begriff „Austerität“, der heute quer durch Europa stark negativ besetzt ist, wäre zu anderen Zeiten als Ausweis zivilgesellschaftlicher Stärke und Eigenständigkeit angesehen worden. Zugleich wird die Idee „europäische Zivilgesellschaft“ mit einer Multikultur verbunden, die aus Gütern und Ereignissen (Essen, Kleidung, Märkte, Feste) besteht, die recht leicht (touristisch) erschließbar sind. Im Grunde sucht man einen meta-kulturellen Standpunkt: Der Überblick über eine möglichst viele Kulturen gilt als höchste Form der Anregung und als wichtigstes Ziel. „Vielfalt“ ist das meta-kulturelle Codewort.[17]

Zugleich erwartet man aber besonders „intensive“ Erlebnisse. Man glaubt, sich in uralte Kulturschätze und andere Religionen hineinversetzen zu können. Man glaubt, so lieben und so fürchten können, wie es der Mensch der Antike tat. So sind die Dilemmata zwischen Bindung und Generalisierung in ein „Yes, we can“ der Allgegenwart aufgelöst. Dazu gehört auch eine sehr optimistische Erwartung an die Kommunizierbarkeit kultureller Sachverhalte. Ein universelles Sprechen über die Kulturen lässt alles Einseitige, Leidenschaftliche, Geheimnisvolle und Fordernde aus der kulturellen Sphäre verschwinden. So entsteht eine „schöne neue“ Zivilgesellschaft, die als definitiver, auf ewig beruhigter Zustand verstanden wird. Übersehen wird, dass diese „Zivilisierung“ im Grunde sehr selektiv ist. Denn es findet nur Aufnahme, was kommunikativ vermittelbar („verständlich“) ist. Die Elemente, die eine Kultur sperrig machen, müssen draußen bleiben.[18]

So ergibt sich ein wichtiger Zwischenbefund: Es gibt offenbar zwei sehr unterschiedliche Begriffe von Zivilgesellschaft. Der Unterschied zwischen der älteren, nationalen Zivilgesellschaft und dem neueren Projekt einer „europäischen Zivilgesellschaft“ besteht nicht nur in der unterschiedlichen Größe, sondern in der unterschiedlichen Qualität der damit verbundenen Zivilität. Keineswegs ist die Debattenordnung so, dass die einen „weltoffener“ und „mutiger“ sind und deshalb ein „großes“ europäisches Projekt verfolgen, während die anderen borniert in ihren Nationen hängen bleiben. Eher handelt es sich um einen Streit zwischen zwei Versionen von Zivilgesellschaft – von einem „leichten“ und einem „anspruchsvollen“ Modell. Dies soll im Folgenden mit einem Beispiel illustriert werden.

Beispiel Spanien: Eine fundamentale Umwertung der Zivilgesellschaft

Am 6. März 2015 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Artikel unter der Überschrift „Europas Südwesten will sich neu erfinden“.[19] Er handelte nicht nur von der Partei „Podemos“ (zu deutsch „Wir können“), sondern auch von einer veränderten Stimmungslage in Teilen der spanischen Gesellschaft. Der Autor des Artikels ist sichtlich beeindruckt von der neuen Stimmung und macht sich ihre Sicht der Dinge zu eigen: „Spaniens schlechte Lage hat sich ja nur konsolidiert, nicht verändert: fünfzig Prozent Jugendarbeitslosigkeit, drastische Sparmaßnahmen, Abbau im Bildungs- und Gesundheitswesen, zahllose Korruptionsfälle, Wohnungsnot, jüngere Jobsuchende bekommen meist nur Ramschverträge (contratos basura), kurzfristig und miserabel bezahlt. Junge spanische Akademiker verdienen bei Vollzeitbeschäftigung oft nur neunhundert Euro monatlich.“ Und er fügt hinzu: „Wenn deutsche Beobachter die materielle Wirklichkeit der Krise erleben, erschrecken sie dann doch.“

Dies Statement des Unbehagens in der spanischen Gegenwart von 2015 ist allerdings nicht eine rein sachliche Feststellung, die sich einfach aus den Tatsachen ergibt. Das zeigt ein Vergleich mit den 1980er Jahren in Spanien, wo der Lebensstandard, die Lage auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt und die Standards im Bildungs- oder Gesundheitswesen schlechter waren. Doch damals wurde die Situation nicht in gleichem Maße als erniedrigend und verletzend empfunden. Sie war kein Grund für große soziale Anklagen. Der Begriff der „verlorenen Generation“ war damals unbekannt. Es muss sich also etwas in den Erwartungen und Anspruchshaltungen der spanischen Gesellschaft verändert haben, insbesondere in der in den vergangenen Jahrzehnten entstanden neuen Mittelklasse und in einer jüngeren Generation, denen höhere Bildungsgänge eröffnet wurden und die nun auf diesem Niveau keine Arbeit finden.[20] Mit anderen Worten, die heutigen Wertmaßstäbe in Spanien unterscheiden sich fundamental von den Maßstäben der 1980er Jahre. Die aktuelle Zivilgesellschaft ist nicht mehr die gleiche wie vor 20, 30 Jahren. Sie misst ihre Erwartungen und ihr Tun nicht mehr an den Nöten und Konflikten der Franco-Zeit. Der neue Bezugspunkt ist offenbar ein als „wohlhabend“ eingeschätztes Europa, als dessen benachteiligte, und vergessene südliche Peripherie sich nun ein erheblicher Teil der Gesellschaft betrachtet.

Die ältere Zivilgesellschaft war etwas anders gestimmt. Sie konstituierte ihre Freiräume hauptsächlich „landesintern“.[21] Sie war stolz auf ihre selbst errungenen Freiräume gegenüber der Zensur von Staat und Kirche. So autoritär und schroff die staatliche (und kirchliche) Vormundschaft unter dem Franco-Regime war, so durchdrang sie doch nicht total das kulturelle Leben (und auch nicht das ganze Wirtschaftsleben). Die Sitten waren auch keineswegs so bieder, grau und dörflich-engstirnig, wie es manche Fotographien suggerieren. Es hatte sich im Schatten der Diktatur viel Lebenslust und Freigeist entwickelt, ein Sinn für Leidenschaft und Drama, ein vielfältiger Kleinkrieg der Grenzüberschreitungen gegenüber der offiziellen Moral, eine bisweilen spöttische, bisweilen dunkel-romantische Distanz zur den offiziellen Heilsversprechen. Eine Frivolität, mit der die Dramen des Alltags – Liebe, Unglück und Verbrechen – goutiert wurden. So bildete sich eine Zivilgesellschaft heran, die die offizielle Moral (und auch die Ästhetik) des Regimes an Spannweite übertraf und so schon ein beträchtliches Selbstbewusstsein entwickelt hatte, bevor nach dem Tod Francos dann der politische Übergang (die transition im engeren Sinn) zur Demokratie eingeleitet wurde. Eine kulturelle, zivilgesellschaftliche Transition hatte also schon begonnen, bevor die politische Transition einsetzen konnte. Die kulturellen Veränderungen Spaniens in dieser Zeit sind vielfach beschrieben worden. Es gibt auch etliche Werke (Romane, Lieder, Bilder, Filme) und Ereignisse (Theateraufführungen, Konzerte, Fußballspiele), die diese Veränderungen zum Ausdruck bringen, und die zu Anhaltspunkten und Symbolen der neuen Zivilmacht wurden. Leider liegt nur wenig davon in deutscher, englischer oder französischer Übersetzung vor.[22] Es gibt auch zwei historische Porträts der Eigenart Spaniens, die nicht nur wegen ihres Entstehungsdatums etwas über die spezifische Ausprägung der Zivilgesellschaft in Spanien aussagen können, sondern auch wegen der Aufmerksamkeit, die beide Autoren dem Zivilen widmen: Sowohl Pierre Vilars „Spanien“ (Erstpublikation 1947) als auch Juan Goytisolos „Spanien und die Spanier“ (Erstpublikation 1969) arbeiten den starken zivilen Eigensinn – der oft auch ein stark lokaler und regionaler Eigensinn ist – heraus.[23]

Nun könnte man die These vertreten, die Fähigkeit im Ertragen und die Unbekümmertheit sei Ausdruck der Genügsamkeit, Rückständigkeit, Provinzialität der Spanier – sie sei also ein Atavismus. Eine solche These würde allerdings ignorieren, das Spanien schon eine lange und durchaus dramatische Geschichte in der Neuzeit absolviert hat. Das 20. Jahrhundert war so gesehen ein „spätes“ und doch zugleich von „alten“ Gefahren bedrohtes Jahrhundert für das Land. Spanien stürzte in einen Bürgerkrieg, auf denen ein diktatorisches Regime folgte. Das ist der Hintergrund, vor dessen Nöten und Drohungen sich dann jene Zivilgesellschaft geformt hat, deren Lebenshunger und deren Fähigkeit im Ertragen so bemerkenswert war (und die heute auch einen Referenzpunkt für andere Länder bilden könnte). Diese Form der Zivilität war also keine Rückständigkeit, sondern ein durchaus kluger Reflex in einer kritischen Phase auf dem langen spanischen Weg in der Neuzeit. Sie führte zu einem gesellschaftlichen Zusammenhang, der die sozialen und regionalen Spaltungen des Landes einhegen konnte und so zu einem wichtigen Träger des allmählichen, vorsichtigen, kompromissreichen Übergangs aus der Diktatur wurde.

Vor diesem Hintergrund erscheint nun das, was heute in Spanien mit dem Anspruch einer neuen Zivilgesellschaft auftritt, in einem neuen Licht. Denn sie ist ganz anders gebaut. Sie ist weniger zäh, weniger fähig zum Ertragen, unselbständiger, dafür milder, utopischer, anspruchsvoller. Sie ist als Zivilgesellschaft gar nicht mehr eigenständig, sondern viel stärker auf Transfers von Staat und Wirtschaft angewiesen. Sie ist auch weniger spanisch – ihre Lösungen bauen auf Europa (oder eine globale Gemeinschaft). Sie fungiert sozusagen als Unterabteilung einer fiktiven, zukünftigen europäischen Zivilgesellschaft. In ihrem Namen erhebt sie Forderungen, die ungleich höher sind als alles, was die ältere Zivilgesellschaft sich erhoffte. Da die Erfüllung der Forderungen ausbleibt, ist sie vorwurfsvoller und klagender als ihr Vorgänger.

Das ist natürlich eine Diagnose, die mehr Belege braucht, als sie dieser Beitrag liefern kann. Allerdings lässt es aufhorchen, wenn da eine Generation, die mehr Sozial- und Bildungsleistungen empfangen hat als jede spanische Generation vor ihr, sich als „verlorene Generation“ tituliert (und wenn diese Bezeichnung fraglos von Sozialwissenschaften und Medien übernommen wird). Und noch etwas sollte aufhorchen lassen: In der Protestbewegung, die seit der Schuldenkrise läuft, wird eine grundlegende Umwertung des spanischen Wegs in die Demokratie vorgenommen. Die Transition, die für die Legitimität der Institutionen grundlegend war und einen Konsens der politischen Parteien bildete, wird nun in Frage gestellt und sogar ausdrücklich als Vorbild zurückgewiesen. Im bereits zitierten Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Ingendaay 2015) wird von der neuen politischen Gruppierung („Podemos“) berichtet, dass sie „[…] die große Geschichtserzählung über den Weg in die Demokratie verwirft“. Weiter heißt es in der FAZ: „Die sanfte `transición´ nach dem Tod Francos, die 1978 zur Verabschiedung der demokratischen Verfassung führte, ist in den Augen von Iglesias (Generalsekretär von `Podemos´, Anm. GH) und seinen Leuten keine historische Leistung, sondern nur ein fauler Mythos, den zahnlose Alte zur Zementierung ihrer Macht beschwören. Wo die ideellen Väter der Demokratie, sofern sie noch leben, die segensreiche Bindung an das westliche Verteidigungsbündnis und die EU besingen, spricht Podemos respektlos vom `Regime von 1978´, das Spanien in soziale Ungerechtigkeit und Fremdbestimmung geführt habe.“

Wichtig ist nicht allein die politische Aussage, sondern die gesamte Stimmungslage und die Umwertung der Geschichte. Ein zentraler Anker der jüngeren spanischen Geschichte wird gekappt. Damit werden nicht nur bestimmte politische Parteien verabschiedet („Altparteien“), sondern auch eine Zivilgesellschaft, die tragende Kraft des schrittweisen Übergang war, wird zum Fußvolk eines „Regimes“ erklärt. Es ergibt sich die Frage, wer da eigentlich spricht und welche Erfahrungen aus solchen Worten sprechen. Auf den ersten Blick scheint es eine Gemeinschaft zu sein, die größer und weitgespannter ist als die alte Zivilgesellschaft. Sie gibt sich global vernetzt, welterfahren, kosmopolitisch und erhebt Ansprüche, die sich bei der Lage Spaniens gar nicht aufhalten, sondern gleich im Namen „europäischer Werte“ auftreten. Bei näherem Hinsehen spricht hier allerdings nur ein recht begrenztes soziales Milieu, das vor allem aus jüngeren Absolventen höherer Bildungsgänge, aus Angehörigen des öffentlichen Dienstes und aus enttäuschten Wählern, die sich nicht von den rosigen Versprechungen des vergangenen Jahrzehnts verabschieden wollen, zusammensetzt. Das ist viel enger als die alte Zivilgesellschaft, die ihre Bindungskraft im ganzen Land und quer durch alle Schichten und Regionen entfaltete. Die neue Zivilgesellschaft mag sich europäisch oder kosmopolitisch fühlen, sie ist allenfalls ein „Zivilmilieu“.

Das Beispiel Spanien kann also anschaulich machen, wie mit dem Wort „Zivilgesellschaft“ zwei völlig verschiedene Vorstellungen verbunden sein können. Während die Zivilgesellschaft der Transition sich auf das eigene Land konzentrierte und nach einem eigenen Weg suchte, bezieht sich die neuere Zivilgesellschaft viel stärker auf eine übergeordnete Einheit, auf das Europa der Europäischen Union. Die „spanische Abteilung“ dieser übergreifenden Gesellschaft ist weniger robust, weniger selbstständig, sondern eher auf Hilfe vom „großen Ganzen“ ausgerichtet. Die Verwandlung der spanischen Zivilgesellschaft in ein europäisches Projekt ist daher nicht unbedingt als Gewinn zu verbuchen. [24]

Lebenswelt als Differenzerfahrung

Dennoch gibt es einen wichtigen Einwand, der die nationale Form der Zivilgesellschaft trifft und zu Gunsten des größeren, europäischen Rahmens zu sprechen scheint. Die nationale Form erscheint zu klein, zu borniert, zu provinziell – insbesondere angesichts der immens gewachsenen weltweiten Kommunikationsströme. Auf diesem Feld scheint die nationale Form nichts aufzuweisen haben. Ihre Zivilität scheint an den Landesgrenzen halt zu machen. Außerhalb dieser Grenzen scheint es nur eine Leere zu geben. Das wäre in der Tat ein schwerwiegender Einwand. Ist er berechtigt? Wenn man behauptet, eine Zivilgesellschaft müsse sich vergrößern, wenn in ihrem äußeren Umfeld viel geschieht, geht man implizit davon aus, dass sie nur eine Möglichkeit hat, mit neuen fremden Erfahrungen umzugehen: Sie muss sie internalisieren – sich also erweitern, um sie aufzunehmen. Alles, was darüber hinausgeht, kann sie nur abweisen oder ignorieren. Nach dieser Vorstellung hat eine Zivilgesellschaft sozusagen nur eine „Innenpolitik“ und keine „Außenpolitik“.

Doch genau das ist nicht der Fall und hier liegt eine wichtige Errungenschaft der Civil Society in der europäisch-neuzeitlichen Geschichte. Das moderne Europa konstituierte sich nicht durch Internalisierungen (wie es die großen Reiche auf anderen Erdteilen taten), sondern durch den Aufbau externer Beziehungen. So konnten in Europa Polaritäten entstehen, insbesondere auch zwischen dem Norden und dem Süden, aber auch in feineren Nuancen zwischen den verschiedenen Nationalstaaten. In der sogenannten „westfälischen Ordnung“[25] wurde eine Umgangsform zwischen souveränen Staaten gefunden, also eine Umgangsform mit Differenz (ohne die Vorbedingung einer Vereinigung). Umgangsformen mit Differenz wurden im Laufe der europäischen Geschichte auch auf der zivilgesellschaftlichen Ebene gefunden. Angehörige aus der einen Zivilgesellschaft waren nicht nur als Durchreisende in anderen Zivilgesellschaften unterwegs, sondern eine beträchtliche Zahl war auch dauerhaft präsent. Die Akteure hatten die Fähigkeit, sich auf die fremde Umgebung einzulassen und aus dem „Anderen“, was sie dort erfuhren, zu schöpfen. Dabei ging es nicht nur um die Personen, denen sie begegneten, sondern auch um die kulturellen Tatsachen – um Sitten, Ernährungsgewohnheiten, Kleidungsstile, Landschaften, Bauwerke, Wissen, um Themen, Farben, Klänge. Dabei kam es auch dazu, dass sich verschiedentlich Mischungen bildeten, aber solche Euro-Synthesen waren nicht die Regel. In der Hauptsache blieben die Beziehungen asymmetrisch: Es gab einen „Norden im Süden“, der sich in den Süden einfügen musste; und einen „Süden im Norden“, der sich auch einfügen musste. [26]

Die Kunst der Differenz war keine Kunst des Ausgleichs und des „Inter“-Kulturellen, sondern eine asymmetrische Kunst. In jedem Land gab es das Eigene und das Fremde (das Land war in diesem Sinn „offen“), aber das Ungleichgewicht zwischen dem Eigenen und dem Fremden blieb. In diesem Sinn gab es keine „europäische Zivilgesellschaft“, in der alles nur noch „Innenpolitik“ einer Euro-Bürgerschaft war – denn es gab keine Gesamtsynthese, keine „übergreifende Gesamtidee“. Ein solcher Universalismus hätte die Stärke und die Eindrücklichkeit, die in der Erfahrung von Differenz steckt, geschwächt und neutralisiert. Es gab eine spezifische Offenheit nationaler Zivilgesellschaften, also tatsächlich eine zivilgesellschaftliche „Außenpolitik“.

Ist diese Kunst der Differenz Vergangenheit? Ist sie heute nicht mehr gefragt? Vielleicht ist sie auch nur verschüttet und muss wiederentdeckt werden. An dieser Stelle kann das nicht als Programm entfaltet werden. Stattdessen soll hier eine persönliche Erfahrung zu Wort kommen. Im September 1989 kam der Autor dieses Beitrags nach Valencia, um dort auf Dauer zu leben und zu arbeiten. Ich war also gekommen, um zu bleiben. Mein Erleben war nicht gemildert durch die touristische Gewissheit, dass der Aufenthalt auf jeden Fall bald vorüber sein würde. Dadurch war ich aber keineswegs zum Spanier geworden. Es war also eine existenzielle Differenz da. Das machte die Eindrücke stärker, aber nicht weniger fremd. Da ich am Anfang nur ein paar Worte Spanisch sprach, war ich in vielen Dingen auf ein Tasten im Ungewissen angewiesen. Insbesondere fehlte mir die Möglichkeit, in den Nuancen eines Gesprächs zu lesen und dadurch erraten zu können, wie eine Aussage gemeint sei. So stand Valencia noch ein bisschen schroffer vor mir und ich musste die fremde Kultur gewissermaßen roh zu mir nehmen. Und der historische Zufall wollte, dass im Jahr 1989 das „alte“ Spanien der Transition noch lebendig war. Die größten Unsicherheiten und Nöte waren vorüber, aber die Gesellschaft hatte noch viel von jener Zivilität bewahrt, die sich als Tugend in der Transition bewährt hatte. Dieser Hintergrund war mir damals natürlich nicht klar. Ich konnte diese Geschichte nicht aus den Dingen herauslesen – aber ich bekam eine bestimmte Tonlage mit.

Die Wohnung, die ich nach einigem Suchen in Valencia fand, lag bei den „Torres Quart“ in der Nähe des alten Stadtzentrums. Sie war groß, ziemlich alt und für deutsche Maßstäbe sehr preisgünstig. Es gab viele Kleinigkeiten, die zurechtbastelt werden mussten, wie die Klospülung, oder die hingenommen werden mussten, wie die schlecht schließenden Fenster. Anfangs leckte das Dach und „gotera“ („Leck“) war eines der ersten spanischen Wörter, das ich lernte. Ich sagte dem Vermieter Bescheid, dass er bitte einen Handwerker fürs Dach bestellen möge, was er auch zusagte. Das war eine typische Stunde der Wahrheit für den Fremden: Wird der Handwerker kommen? Was ist von den Zusagen zu halten? Es gibt keine Möglichkeit, aus den Worten etwas Sicheres herauszulesen. Man muss einfach sehen, was kommt. Der Handwerker kam und das Dach war wirklich dicht. Dabei war mein deutscher Blick schon am ersten Tag an den Stromleitungen hängengeblieben, die in einem abenteuerlichen Gewirr an den Außenwänden der Häuser und über die Straße geführt wurden. Würde ein Land, das solche Leitungen hat, irgendetwas Solides hinbekommen? Ja, das tut es. Mein Autoreparateur saß in einer rümpeligen Garage im Parterre des Nachbarhauses und kam mit meinem Passat Diesel bestens zurecht. Der Friseur arbeitete mit zwei alten Stühlen und zwei einsamen Haarwasserflaschen im Hausflur eines Wohngebäudes, und von seinen Vorschlägen für meinen neuen Kopf verstand ich kein Wort – aber am Ende war ich zufrieden. Ich musste die Miete am Anfang jeden Monats in bar in der Apotheke unserer Straße, die vom Hausbesitzer geführt wurde, abgeben. Aber jedes Mal bekam ich eine sorgfältig ausgefüllte Quittung. Der Bäcker, der seinen Laden und seine Backstube in unserem Haus hatte, sorgte für wunderbare Düfte von frischem Brot und für Rußpartikel, die vom Schornstein auf unserer Wäsche landeten – ich hatte mich schon gewundert, warum die Nachbarn trotz besten Sonnenwetters immer Plastikfolien über ihren Leinen ausbreiteten. Zu diesem Bäcker kam gegen Mittag immer eine hochbetagte und schon sehr gebrechliche Frau mit einem Kochtopf unterm Arm über die Straße. Auf meine Frage erklärte mir der Bäcker, dass sie im Ofen der Bäckerei ihr Mittagsessen aufkochen ließen – ein damals üblicher Service der Stadtteilbäcker.

Ein guter Indikator dafür, wie eine Zivilgesellschaft funktioniert, scheint mir der Straßenverkehr zu sein. Jener brisante Vorgang also, wo viele Menschen auf einer begrenzten Fläche und unter Zeitdruck miteinander klarkommen und aneinander vorbeikommen müssen. 1989 gab es eine Menge kleiner Autos (aus der ersten Seat-Generation) und noch mehr kreischende kleine Motorräder. Ferner gab es in Valencia eine schier endlose Kolonne großer und kleiner Lastwagen, die sich durch das Stadtzentrum quälte, weil es noch keine Umgehungsautobahn gab. Damals hatte die Stadt den Beinamen „el semáforo rojo de Europa“ (die rote Ampel von Europa). Nun könnte man vermuten, dass die Bewohner der Stadt unendlich unter dieser Situation litten und der physische und psychische Krankenstand Rekordhöhen erreichte. Doch das Verblüffende war, wie sich die Leute mit diesen Umständen abfanden und dabei durchaus guter Laune waren. Manchmal schien es mir so, als hätte sie sich zum Ziel gesetzt, die Lautstärke der Motoren durch ihre eigene Art der Kommunikation noch zu übertreffen. Ja, die Stakkato-Dialoge kamen mir bisweilen vor wie jene knatternden Motorräder, die unter meinem Fenster entlangpreschten. Jedenfalls zeigten die Valencianer auf ihren Straßen eine große Fähigkeit, die Dinge, wie sie nun einmal waren, mit erstaunlich guter Laune hinzunehmen – mit einer sehr kurzen, explosiven Form des Glücklich-Seins. Noch ein Detail fiel mir damals auf: Mitten durchs Verkehrsgewühl schoben sich etliche alte amerikanische Straßenkreuzer, die als Taxis dienten. Erst später ging mir auf, dass sie eine wichtige Geschichte erzählten. Sie waren ein Überbleibsel aus jener Zeit, als Spanien sehr viel stärker unter amerikanischem Einfluss stand, als wir uns das heute vorstellen können. Die ersten wirtschaftlichen Öffnungen der Diktatur vollzogen sich unter amerikanischer Ägide. Auch kulturell waren es oft amerikanische Melodien und Filme, die das strenge Moralregime der katholischen Kirche durchbrachen. Nach dem Tode Francos erfolgten alle jene vorsichtigen Schritte des Übergangs zunächst unter dem Schutz der USA. So waren die Chevrolet-Taxis die Spur eines frühen Abschnitts der langen Geschichte der Transition.

Auffällig war nicht nur das Alte, das „noch“ da war. Es gab durchaus Neues, aber der Fortschritt war nicht so flächendeckend, dass er alles ergriff. Unser Bäcker hatte nach drei Jahren einen neuen Schornstein, aber in der Straße hängen noch heute die Stromleitungen an den Häusern herum. Und dann gibt es da in meiner Erinnerung – schon aus jenen Herbsttagen 1989 – eine Art Gegenbild, das dauerhaft als Korrektiv gegenüber einem naiven Glauben an einer kompletten Durchmodernisierung Spaniens wirkte: Ich war mit einigen Freunden zum Abendessen auf einem Berg in der Umgebung der kleinen, betriebsamen Industriestadt „Elda“ gefahren, im Binnenland rund hundert Kilometer südöstlich von Valencia. Wir sahen die Lichter der Stadt wie eine kleine, einsame Insel im Dunkel der unzähligen kahlen Berge der Gegend. Diese Lichtinsel in der nächtliche Mondlandschaft wirkte wie ein Sinnbild für die spanische Grundsituation – hier regierte eine fundamentale Knappheit, angesichts derer jeder Glaube an Machbarkeit hohl klingen musste. Und doch löste dieser Anblick nicht Enttäuschung aus, sondern hatte seine eigene Magie.

Das sind persönliche Eindrücke in einer spezifischen historischen Situation. Aber der Leser kann doch etwas herauslesen: Wie sich eine Lebenswelt anfühlt, die nicht jene Vertrautheit oder Kommunizierbarkeit bietet, die oft mit diesem Begriff verbunden wird. Differenz wird dann zur grundlegenden Erfahrung. Denn alle gesamteuropäischen Vermittlungen und Gemeinsamkeiten waren hier nur recht schwach vorhanden. Es galt eher das „Spain is different“ als das „Wir in Europa“. Auch in den Folgejahren, als ich längst ganz gut spanisch sprach und mich wissenschaftlich und journalistisch mit vielen Landesthemen auseinandergesetzt hatte, blieb die Differenz-Erfahrung erhalten. In mancher Hinsicht verstärkte sie sich sogar. Ich beschäftigte mich mit dem spanischen Entwicklungsproblem – mit dem Problem des „armen Südens“. Je länger ich das tat, umso deutlicher traten die fundamentalen Knappheiten hervor. Auf der anderen Seite wurden dadurch manche Normalitäten zu wertvollen Errungenschaften. Meine tiefere Beschäftigung mit dem anderen Land führte also nicht dazu, dass ich immer stärker eine europäische Gemeinsamkeit entdeckte und die spanischen Probleme als „Rückstände“ auf dem guten europäischen Weg einstufte. Es traten vielmehr die Besonderheiten deutlicher hervor. Ich verstand die Lösungen, die Spanien gefunden hatte, besser. Mein Respekt für diese Lösungen wuchs.[27]

Auch die spanische Zivilgesellschaft erschien mir, je mehr ich die Umstände kannte, immer mehr als eine außerordentliche und kostbare Errungenschaft – wegen ihrer Robustheit, ihrer Fähigkeit zum Ertragen (auch mancher Rohheit), ihrer Zähigkeit, ihrer Zurückhaltung gegenüber politischen Radikalisierungen, ihrer Lautstärke und Unbekümmertheit in anderen Dingen, auch wegen ihrer Rücksichtslosigkeit und Faulheit bei manchen Aufgaben, die im europäischen Norden hoch in Kurs stehen.

Denn man soll eine Zivilgesellschaft nicht nur soweit mögen, wie sie für das Gute und Schöne steht. Man sollte vielmehr ihre Eigenständigkeit und Lebenstüchtigkeit schätzen. Eine Zivilgesellschaft findet nur zusammen, wenn sie einen Weg mitten durch Gut und Böse, Glück und Unglück, Gewinn und Opfer, durch dumm und klug, krank und gesund zieht. Nur dann ist sie kohärent und nimmt die Menschen, wie sie sind. Sie muss gewissermaßen kulturell bilanzfähig sein, wobei die Kalkulationen sehr unterschiedlich ausfallen können. Von der deutschen Kalkulation unterscheidet sich die spanische recht deutlich. Vielleicht lässt sich ihr kulturelles Geschäftsmodell so formulieren: Es ist besser, wenn man nicht so viel optimiert und sich mit der Hälfte zufriedengibt – wenn man es dafür ohne Umstände (freilich auch mit manch bitterem Beigeschmack) bekommt.

Auch wenn es sich hier eher um persönliche Notizen handelt, so kann die damit beschriebene Erfahrung doch als Anregung für einen Pluralismus nationaler Zivilgesellschaften verstanden werden. Jede einzelne dieser Zivilgesellschaften ist ein komplexes, einmaliges Gebilde. Man kann daran Anteil haben, wenn man sich auf das Fremde, das Differente dieses Gebildes einlässt – und nicht gleich nach einer übergreifenden Gemeinsamkeit sucht. Eine Begegnung ohne prästabilisierte Harmonie kann durchaus eine gelungene Begegnung sein. Das zu betonen, ist heute wichtig. Denn meine Spanien-Erfahrung fand zu einer Zeit statt, als noch nicht bei allem und jedem „Europa“ beschworen wurde. Damals stand die dortige Zivilgesellschaft noch im Zeichen der spanischen Geschichte. Zugleich waren Arbeit, Studium und Leben deutscher Bürger in Spanien noch nicht so stark europäisch eingerahmt, wie es heute der Fall ist.

Der Pluralismus der Nationen ist eine seriöse Ordnungsalternative für Europa

Der Zweck dieses Beitrags war es, vor dem Hintergrund der europäischen Ordnungsalternative „Bundesstaat oder Staatenbund“ die zivilgesellschaftliche Dimension dieser Alternative zu erörtern. Die Argumentation konnte nur skizzenhaft und illustrierend ausfallen. Dennoch ergibt sich als erstes Fazit, dass eine kulturelle Erörterung der europäischen Entwicklungen die Skepsis gegenüber dem Prinzip „Immer-enger-vereint“ nicht verringert, sondern eher erhöht. Die Idee einer europäischen Zivilgesellschaft kann wenig gemeinsame Substanz bieten, sie läuft auf eine Verkürzung und Schwächung des Konzepts der Zivilgesellschaft hinaus.

Wichtiger als dieser Befund der Schwäche ist aber ein Befund der Stärke: Bei näherer Betrachtung zeigt sich die nationale  Form der Zivilgesellschaft als eine durchaus bedeutende Errungenschaft. Ebenso zeigt sich die Möglichkeit, aus den externen Beziehungen zwischen unterschiedlichen Zivilgesellschaften zusätzliche Orientierungen und Motivationen zu gewinnen – ohne dafür eine gesamteuropäische Kultursynthese bilden zu müssen. Der Reichtum Europas beruht auf der Kunst, mit Differenzen umzugehen und seine genuin pluralistische Ordnung dauerhaft zu halten. Die Eigenständigkeit und Selbstverantwortung der Zivilgesellschaft gegenüber dem politischen und dem wirtschaftlichen System führt weiter als die „Demokratisierung“ dieser Systeme durch eine Politisierung aller Anliegen. Wird Zivilität in diesem starken (Eigen-)Sinn und nicht nur als diffuse Öffentlichkeit verstanden, erscheint – zumindest in unserer Epoche – die nationale Fassung der Zivilgesellschaft unverzichtbar. Die Nationen stellen bereits eine komplexe Kombination zwischen generalisierender Offenheit und verantwortungsfähiger Bindung dar. Es gehört zum spezifischen Reichtum Europas, dass es eine ganze Reihe solcher geschichtsträchtiger Länder und Gesellschaften hervorgebracht hat. Auf diesem Nationenpluralismus beruht seine Strahlkraft.

Dennoch scheint es im Moment so, als befänden wir uns auf der Einbahnstraße des „Immer enger vereint“. Jede Alternative wird im Moment als Nostalgie, als provinzielle Engstirnigkeit und sogar als rechtsradikales Programm für undiskutabel erklärt. Wer gegenwärtig in Europa für einen pluralistischen Bund souveräner Staaten und Zivilgesellschaften plädiert, hat kein Heimspiel. Es wird sogar versucht, eine Diskussion über Ordnungsalternativen zu unterbinden und das Immer-Enger-Vereint als „alternativlos“ zu präsentieren.

Es wird auch der Eindruck erweckt, die ganze europäische Geschichte seit dem zweiten Weltkrieg liefe auf dies Einheitsziel zu. Doch so eindeutig ist die Geschichte in den 70 Jahren seit 1945 nicht gewesen. Man kann drei sehr verschiedene Phasen unterscheiden:

  • Eine erste Phase, in der die Versöhnung der Nationalstaaten und sektorale Gemeinschaftsbildungen (Montanindustrie) geschahen. Zwar gab es einen schwärmerischen Diskurs über die Vereinigten Staaten von Europa, aber die Stärke dieser Zeit bestand vor allem in einer gegenseitigen, bilateralen Neu- und Wiederentdeckung der Nationen. Hier wurde die deutsch-französische Freundschaft geboren, aber auch die Beziehungen zu Großbritannien, den Niederlanden, Italien und natürlich den USA auf neue Grundlagen gestellt. Es war auch die Zeit der zivilen Partnerschaften von Städten, Sportvereinen, Orchestern und vielen anderen Zivileinrichtungen.
  • Eine zweite Phase, die vor allem die 60er, 70er und 80er Jahre prägte, war multilateral, aber sie beschränkte sich auf eine Begleitung und Gestaltung eines gemeinsamen Marktes. Das europäische Projekt war eine Wirtschaftsgemeinschaft, bei der Harmonisierungen der Normen vorgenommen wurden, ohne dass ein gleiches Anspruchsniveau und eine gleiche Konkurrenzfähigkeit anvisiert wurden. Auf dieser Basis fanden die Nord-Westerweiterung und die Süd-Erweiterung statt, die EWG wurde zur EG. Sie entwickelte bestimmte Ausgleichsfonds (Agrarfonds, Regionalfonds), aber keinen umfassenden Ausgleich. In dieser Phase war die europäische Ordnungsidee öffnend. Wer für liberale Weltoffenheit war, setzte auf die EG als Türöffner gegen Blockaden und als Verbündeten beim Abbau von Privilegien.
  • Die dritte (gegenwärtige) Phase begann mit den 90er Jahren und kann als Replik auf die „Wende“ in Osteuropa verstanden werden; auch sollte die Einheit Europas in gewisser Weise die Einheit Deutschlands „überholen“. Erst jetzt standen staatliche Kernaufgaben auf der Agenda der europäischen Vergemeinschaftung. Das Thema der sozialen Gleichheit wurde zum neuen Großthema, auch das Thema eines Upgrading ökologischer Normen. Die sogenannte „Lissabon-Strategie“ versuchte eine einheitliche Steuerung von Wissenschafts- und Technologieentwicklung. Die Währungsunion und das Schengen-Abkommen erfassten Aufgaben, die bisher als Insignien der Souveränität galten. Die EU-Kommission und der Europäische Gerichtshof begannen, durch Verordnungen und Urteile systematisch in die Mitgliedsstaaten hineinzuregieren.[28] In diese Phase fiel dann die Schuldenkrise.

 

Erst seit dieser letzten Phase kann man wirklich davon sprechen, dass sich das europäische Projekt auf einer Einbahnstraße bewegt. Damit hat das europäische Projekt seinen Charakter verändert. Die zunehmende Europaskepsis ist eine Antwort auf diese letzte Phase – sie stellt nicht alles in Frage, was seit dem zweiten Weltkrieg geschaffen wurde. Über den nun eingeschlagenen Kurs gibt es allerdings bisher keine öffentliche Diskussion. Obwohl sie angesichts der Veränderungen eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist, ist sie noch nicht wirklich eröffnet. Dazu gehört, dass es überhaupt eine sachliche Darstellung der Alternativen gibt und damit ein rationales Abwägen möglich wird.

Dabei könnte die „Renaissance“, die im Titel der wissenschaftlichen Tagung, die Anlass für diesen Sammelband ist, angesprochen wird, eine hilfreiche Anregung sein. Die Denkfigur der „Wiedergeburt“ (oder schlichter: der Wiederkehr) bezieht sich auf die Möglichkeit, dass im Fortgang der Geschichte etwas unerledigt liegengeblieben ist. Dass etwas zurückgelassen und verloren wurde, was nicht durch den Fortschritt abgegolten und erledigt ist. In so einem Fall hilft kein „Vorwärts“ auf dem bisherigen Weg, sondern ein gewisses Zurückgehen – zu jenem Punkt, wo das Unerledigte zurückgelassen wurde.[29] Zu jener Wegscheide, wo ein Weg eingeschlagen wurde und ein anderer nicht weitergegangen wurde. So ein Fall könnte bei der Nationenfrage vorliegen. Der Weiterbau eines Pluralismus der Nationen wurde ja eingestellt und unsere Gegenwart hat nur eine sehr verzerrte, grobe, im Grunde vor-moderne  Vorstellung von der Nation. Insbesondere ihre zivilgesellschaftliche Dimension wird meistens verkannt, jedenfalls unterschätzt. Zurückzukommen wäre nicht nur auf die früheren Phasen der europäischen Zusammenarbeit nach dem zweiten Weltkrieg, sondern auch auf jene „Urkatastrophe“ Europas von 1914, die die Nationen als Träger der Moderne für immer desavouiert zu haben scheint. Seitdem stehen alle Nationen unter dem Generalverdacht, in ihrem Kern kriegstreibend zu sein. Aber ist die Option, den europäischen Pluralismus der Nationen weiterzuentwickeln, wirklich ernsthaft geprüft worden?

Wer an einer Alternative zum gegenwärtigen Immer-Enger-Vereint und an einer abwägenden Debatte zwischen unterschiedlichen Ordnungsmodellen für Europa interessiert ist, sollte mit der Möglichkeit von historischen Renaissancen rechnen.

 

Literatur:

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Tocqueville, A. de (1835/1994): Über die Demokratie in Amerika. Stuttgart.

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Weber, M. (1920/1988c): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, J.C.P. Mohr Verlag, Tübingen.

 



[1] Dies Schema ist eine sehr grobe Skizze, die sicher nicht alle Faktoren erfasst. Aber hier kommt es überhaupt auf die Gegenläufigkeit der Anforderungen an, die nicht durch den Verweis auf „mehr Demokratie“ überwunden werden kann. Damit scheiden einfache Lösungen durch das große „Globale“ oder das kleine „Lokale“ aus. Es gibt daher keine Staatsbildung, die nicht sowohl Innenpolitik als auch Außenpolitik enthalten müsste: Ein Teil der Aufgaben unterliegt der souveränen Verfügung eines Staates und Staatsvolkes, während ein anderer Teil im Zusammenwirken mit anderen, äußeren Souveränen geregelt werden muss. Die inneren Zuständigkeiten können abgestuft sein (Subsidiarität); aber auch die Außenpolitik kennt unterschiedlich feste Vereinbarungen bzw. Bündnismitgliedschaften.

[2] Ein interessanter Theorieansatz zur „institutionellen Ökonomie“ des modernen Staates findet sich bei Douglass C. North (1988). Grundlagen zur räumlichen Rationalität der territorialstaatlichen Differenzierung finden sich bei Gerd Held (2005).

[3] Das volle Zitat lautet: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jene Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“ (Böckenförde 1976, S.60)

[4] Weber (1895), Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (Zitiert nach: Schluchter 1985, S. 99). Für Max Weber ist diese Überfrachtung oft das Merkmal einer verselbständigten Bürokratie, die sich so der politischen Kontrolle entzieht.

[5] Michel Foucault hat den Bruch im Denken, der sich im 15./16. Jahrhundert in Europa vollzog, in der begrifflich-sprachlichen Ordnung (Episteme) nachgezeichnet (Foucault 1974).

[6] Thomas Mann (1914/1983): Gedanken im Kriege, S.199. Es spielt hier keine Rolle, dass Thomas Mann in dieser Schrift auch den unseligen Gegensatz von „deutscher Kultur“ und „westlicher Zivilisation“ formuliert und das Kulturelle als deutsche Sondereigenschaft fasst. Wir wissen es heute besser (und auch Thomas Mann hat sich von diesem Irrtum freigemacht). Richtig bleibt, das Kultur eine starke Bindung ist und keine beliebige Wahl.

[7] Vgl. Botho Strauss (2014), Allein mit allen. München. S. 44

[8] Vgl. Michel Foucault (1974), Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/M.

[9] Die französische Historiker-Schule der „Annales“ hat hier wichtige Arbeiten geliefert, insbesondere Fernand Braudel (vgl. Braudel 1979, 1990, 1949/2001) Er zeigt dabei sowohl die große Vielfalt lokaler Besonderheiten (z.B. in Frankreich) als auch manche weiträumige Kulturverwandtschaft (z.B. zwischen Mittelmeerufern). Das Interesse für diese Materialität der Kultur trifft sich mit der „leiblichen“ Orientierung verschiedener Vertreter der phänomenologischen Philosophie (zum Beispiel: Merleau-Ponty 1945).

[10] Man denke an das „Augustfieber 1914“ beim Ausbruch des 1.Weltkriegs, an die Leidenschaft der frühen Automobiljahre, an die Schreckensbilder des 11.September.

[11] Zur Möglichkeit eines „Zivilisationspatriotismus“, der mehr ist als ein Kommunikationsverfahren, vgl. G. Held, Tischsitten, Stahlbrücken, Verfassungsartikel, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 7.10.2001.

[12]  vgl. Tönnies 1912/2005, Plessner 1924/2002

[13] Ein früher Text, der sehr anschaulich diese Leistung der Zivilgesellschaft beschreibt und sie als Schutz vor einer „diktatorischen Mehrheit“ begründet, ist Alexis de Tocquevilles Abhandlung „Über die Demokratie in Amerika“ aus dem Jahr 1835 (vgl. Tocqueville 1835/1994).

[14] Ein berühmtes Beispiel ist der Einfluss religiöser Orientierungen auf das Wirtschaftsleben – Max Weber hat dies am Beispiel der protestantischen Ethik gezeigt (vgl. Weber 1920/1988). Ebenfalls zum Thema „Religion und Wirtschaft“: Alfred Müller-Armack (1959).

[15] Vgl. Tocqueville 1835/1994, S. 275

[16] Die Bildung solcher Gesellschaften kann überall auf der Welt stattfinden, aber daraus ergibt sich nicht automatisch eine einzige kosmopolitische Welt-Zivilgesellschaft. Immer gibt es bestimmte kulturelle Elemente, die dafür sorgen, dass wir von „dieser“ oder „jener“ Zivilgesellschaft sprechen. Es gibt sie nur im Plural. Die Bindungsfähigkeit wird durch einen Plural unabhängiger Zugehörigkeiten gewährleistet. Dabei ist ein Unterschied wichtig: Die kulturellen Besonderheiten, die die Individualität einer Nation ausmachen, sind „kleine“ und „leichte“ Besonderheiten. Es geht nicht um Überlegenheit, nicht um ein Stärker und Schwächer oder ein Besser und Schlechter. Auch nicht um Monopole auf bestimmte hohe Kulturleistungen, sei es nun in Musik, in Naturwissenschaft oder im Sport. Eine Zivilgesellschaft kann ihre Geschichte mit einem „Bei uns ist es so geschehen“ erzählen. Sie kann ihre Geographie wie eine Bildbeschreibung präsentieren: „Bei uns sieht es so aus“. Diese „leichten“ Besonderheiten sind trotzdem keine Gleichgültigkeiten. Es ist wie mit den Häusern einer Straße, wo wir doch nur zu einer Tür „meine Tür“ sagen.

[17] „Vielfalt“ ist dabei selber keine vielfältige, sondern eine monotone Aussage. In der französischen Sprache gibt es die Spruchweisheit: „Plus ca change, plus c´est la meme chose“ (Je mehr sich etwas ändert, umso mehr ist es dasselbe).

[18] Botho Strauss hat dies Primat der Einheit so beschrieben: „Die vergleichende Wissenschaft der Religionen und Kulturen hat Ferne und Andersheit zum Thema der Vermittlung gemacht und sie mithin getilgt. Es ist heute für den neugierigen Ungläubigen oder kulturellen Synkretisten nicht schwer, sich nacheinander und probeweise in einen Hindu, einen Marxisten, einen theosophischen Spiritisten, ja selbst in die Denkgewohnheiten des Neandertalers zu versetzen. Glauben, Meinen, Empfinden und sonstige Mentalprodukte aller Herren Länder und Zeiten stehen einem intuitiven Tourismus offen.“ (Strauss 2014, S. 70) Bei diesem Diktat der Vermittelbarkeit spielt der Einfluss der WWW-Kommunikation eine Schlüsselrolle: „Sie sprachen nicht, ihre Stimmen wurden bewegt wie Puppen an den Schnüren einer Zentralrede. Gleichsam als bestünde Sprache nur noch als volksweite Absprache darüber, was verständlich und sagbar wäre.“ (ebd., S. 85)

[19] Paul Ingenday 2015.

[20] Es fand ein völlig berufsfernes Bildungs-Upgrading statt, was sich in besonderer Weise in den Indus-triedistrikten zeigte. So lag in der „Schuhstadt“ Elche in den 80er und frühen 90er Jahren die Jugendarbeitslosigkeit erheblich unter dem spanischen Durchschnitt. Der Bildungsstand war auch unterdurchschnittlich, die Jugendlichen strebten früh in Arbeitsverhältnisse (Held 1998). Die damals verbreiteten befristeten Verträge und niedrigen Entlohnungen wurden keineswegs als „Müll“ empfunden – die Bezeichnung „contratos basura“ war unbekannt. Sie wurde auch von den örtlichen Gewerkschaften nicht verwendet. Mitte der 90er Jahre war dann zu beobachten, wie es in der Region eine regelrechte Kampagne gab, um die Jugendlichen in höhere Bildungsgänge zu treiben (unter führender Beteiligung von OECD und EU). Das führte zu einer Entfremdung von der lokalen Schuhindustrie.

[21] Nicht zufällig heißt die größte Tageszeitung Spaniens, die in der Spätphase des Regimes dem Wandel eine Stimme gab, „El País“ (Das Land)

[22] Sehr anschaulich und instruktiv ist die „Crónica sentimental de España“, die der später als Krimiautor bekannt gewordene Manuel Vázquez Montalbán 1971 veröffentlichte und die ein ganzes Panorama von Schlagertexten, Filmfiguren, Kleidungsstücken, Einrichtungsgegenständen, Fahrzeugen, Fußballidolen, Affären, Verbrechen etc. vor dem Leser ausbreitet. Zwei sehr unterschiedliche Romane („El Camino“ von Miguel Delibes und „Tranvía a la Malvarrosa“ von Manuel Vicent) vermitteln die Unterschiede zwischen den 50er und den 60er Jahren. Sie vermitteln auch die Unterschiede zwischen dem binnenländisch-strengen Spanien der kastilischen Meseta und dem mediterran-quirligen Küsten-Spanien – wobei in beiden sich die Öffnung der Transition schon andeutet.

[23] Zur Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen in Barcelona vgl. Held 1997.

[24] Im Licht dieses Wandels der Zivilgesellschaft in Spanien könnte auch mancher Zug der deutschen „Wende“ deutlicher hervortreten. In Ostdeutschland gab es zivilgesellschaftliche Ansätze, die freilich nicht so stark waren wie in Spanien, aber die ostdeutsche Zivilgesellschaft war, wie die spanische, zunächst „national“ auf den DDR-Rahmen bezogen. Hingegen war die westdeutsche Zivilgesellschaft deutlich „postnational“ und hatte die oben beschriebenen „weichen“ Züge. Die schnelle Wiedervereinigung führte daher auch zu einem zivilgesellschaftlichen Konflikt zwischen der harten Überlebens- und Oppositionszivilität im Osten und der weichen, touristisch-multikulturellen Zivilität im Westen. Dies mag eine überzogene Deutung sein, aber sie wäre eine nähere Erörterung wert.

[25] Der Begriff bezieht sich auf den Westfälischen Frieden von 1648, mit dem der Dreißigjährige Krieg beendet wurde.

[26] In räumlicher Hinsicht weist Europa eine Geographie der Polaritäten auf, zum Beispiel in der Nord-Süd-Dimension (Flandern – Oberitalien, Führungswechsel zwischen den Städten Venedig, Antwerpen, Genua, Amsterdam). Auch die Geschichte Frankreichs kann in diesem Sinn verstanden werden (Vgl. Braudel 1979; 1990). Eine Detailstudie über die Orange und ihre Konstituierung als „Südfrucht“ für den Norden findet sich bei Held 1993.

[27] Ein Beispiel dieser Differenzerfahrung ist meine Arbeit über die spanische „Schuhstadt“ Elche, die das dortige, teilweise recht ruppige Modell von Arbeit und Leben als Errungenschaft erläuterte und vor den allzu optimistischen Upgrading-Programmen, die die EU-Politik dort versuchte, warnte (vgl. Held 1998)

[28] Eine detaillierte Analyse dieses fundamentalen institutionellen Wandels findet sich bei Grimm 2012.

[29] Vgl. Gerd Held (2015): Die vergebliche Suche nach Super-Europa und die Wiederkehr der Nationen.