Wenn die Regierenden das Glück der Menschen beschwören, sollte man auf der Hut sein.
Frau Doktor Merkels Glückstherapie
Vor gut einer Woche hat die Bundeskanzlerin – gemeinsam mit ihrem Vizekanzler – in der deutschen Hauptstadt einen sogenannten „Regierungsdialog“ gestartet. „Gut leben in Deutschland – was uns wichtig ist“ lautet die Überschrift des Vorhabens. Mit „uns“ sind die Bürger gemeint. Die Regierenden bekunden, dass sie nun endlich wissen möchten, was den Bürgern wichtig ist. Das ist nett, aber auch ein bisschen überraschend. Eigentlich sollte man in einer parlamentarischen Demokratie mit Marktwirtschaft und unabhängiger Öffentlichkeit davon ausgehen, dass die Regierenden genügend Gelegenheit haben, den Bürgerwillen zu erfahren. Wie hat die Kanzlerin, die ja schon ein paar Jahre im Amt ist, eigentlich bisher regiert? „Wir sind neugierig“, sagt sie. Das klingt auf jeden Fall gut – echt offen und so. Allerdings enthält der Titel des geplanten Dialogs bereits eine Vorfestlegung für das, was dem Bürger wichtig zu sein hat: Es soll um das „gute Leben“ gehen.
Nun handeln gegenwärtig die politisch brennenden Themen nicht gerade davon, was für ein „gutes Leben“ wünschenswert wäre. Eher geht es um den Umgang mit Kosten, Anstrengungen und Risiken. Die Energiewende zeigt die geheimen Kosten „naturnaher“ Lösungen. Bei der Wohnungsversorgung in Großstädten geht es um das Dilemma zwischen der Belastung durch mehr Dichte und der Belastung durch höhere Mieten. Beim Internet um Datenzugang versus Datenschutz. In der Außenpolitik steht man im Zwiespalt zwischen wachsenden Ansprüchen von außen und der Furcht, bei einem „Nein“ international als böser Mann dazustehen. Wohin man blickt – das einfache gute Leben ist nirgends in Sicht. Es steht gar nicht zur Wahl. Politik in dieser Zeit heißt, irgendwie einen mittleren Weg zwischen Gut und Schlecht, zwischen Gewinn und Opfer zu bestimmen und den dann ohne endloses Hin und Her zu gehen. Wenn man die Bürger stattdessen auffordert, sich mit der „guten Lebensqualität“ zu befassen, entfernt man sie von den politischen Entscheidungsaufgaben. Man versetzt sie in eine künstliche Naivität. Sie sollen sich mit dem Wünschen beschäftigen.
Aber dies Wünschen soll mit wissenschaftlich-bürokratischer Akribie betrieben werden. Über 150 Veranstaltungen soll es geben; bei einigen sollen auch Minister, Kanzlerin und Vizekanzler anwesend sein. Die organisierten Interessen – Kirchen, Gewerkschaften, Vereine, Sozial- und Wirtschaftsverbände – sind dabei. Über mehrere Stufen soll der Prozess ablaufen. Nach dem Austausch mit den Bürgern kommt eine wissenschaftliche Auswertung, die den Wünschen die Weihen des Objektiven und Systematischen geben soll. Und dann soll – natürlich – ein „Aktionsplan“ der Bundesregierung erarbeitet werden. Dann hätten wir ihn geschafft, den historischen Schritt der Demokratie zur Wissenschaft und ihrer planvoll-verwaltungstechnischen Umsetzung.
Ganz neu ist der Versuch der Glückspolitik allerdings nicht. Schon in der vergangenen Legislaturperiode hatte Frau Merkel den sogenannten „Zukunftsdialog“ gestartet. Damals sollten die Bürger auch Lebensfragen beantworten, zum Beispiel „Wie wollen wir zusammenleben?“ oder „Wovon wollen wir leben?“ Danach wurde berichtet, dass 11600 Vorschläge auf der Internetseite gemacht wurden und 74000 Kommentare geschrieben wurden. Darunter so sonnige Ideen wie die Freigabe von Cannabis, mehr Hilfe für die Eltern bei der Kindererziehung, Lärmschutz, saubere Energie und schnelles Internet für alle. Und da man schon beim Dialogisieren war, wurde gleich ein weiterer Dialog vorgeschlagen: ein „Dialog mit dem Islam“, und zwar in diesem Fall sogar ein „offener“ Dialog. Das reine Wünschen kann also ganz schön ins Kraut schießen. Es gab dann drei Bürgergespräche mit je 100 Interessierten, eine Konferenz mit sage und schreibe 50 Schülern und eine Debatte mit Studenten „unter Hinzuziehung von ausländischen Regierungschefs“. Eine verführerische Unmittelbarkeit ist hier im Spiel: Man simuliert eine direkte Einflussnahme. Die Fallhöhe vom Rendezvous mit der Macht zurück in die Wirklichkeit ist dann freilich beträchtlich.
Aber genau so funktioniert die Glückspolitik. Sie fixiert den Bürger im reinen Wünschen. Indem sie ihm die Rolle des Mit-Planenden anbieten, entzieht sie ihm die Rolle des Wählenden. Er ist kein Wähler mehr, weil die Bedürfnisse und Wünsche, die er vorbringt, gar keine wählbaren Alternativen sind. Sie definieren nicht einen Regierungskurs in den Grenzen einer Legislaturperiode und den Bilanzzwängen eines Staatshaushalts. Für die Regierenden ist diese Verwandlung des Wählers in einen Wunschzettel-Schreiber von Vorteil. Sie können sich so von dem Handlungsdruck, der eigentlich durch die Übertragung von Macht auf Zeit entsteht, zurückziehen und eine bequeme Wartestellung zurückziehen. Vieles aus dem Regierungsdialog, so bekundet Frau Doktor Merkel, werde „nicht sofort machbar“ sein. Aber, so fährt sie fort, man dürfe „die Umsetzung nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben“. Einerseits und andererseits – die Physikerin des unangreifbaren Schwebezustands ist in ihrem Element.
„Sie freut sich, wenn es den Bürgern gut geht, vorausgesetzt, dass diese ausschließlich an ihr Wohlergehen denken.“ So hat, schon im Jahr 1835, der politische Philosoph Alexis de Tocqueville über eine Regierung geschrieben, die – in Zeiten der Demokratie – eine neue Form der Vormundschaft anstrebt. Wenn die Bürger ihren Blick nur noch auf das gute Leben richten, braucht man dazu keine brutale Diktatur. Der Staat kann die Gesellschaft in ein feines Netz von Maßnahmen, Projekten und Dialogen einspinnen. Tocqueville kannte noch nicht das Wörtchen „einbinden“, aber er hat den einbindenden Staat schon vorausgeahnt: „Er bedeckt die Oberfläche der Gesellschaft mit einem Netz kleiner,, verwickelter, enger und einheitlicher Regeln…er bricht den Willen nicht, sondern er schwächt, beugt und leitet ihn; er zwingt selten zum Handeln, steht vielmehr ständig dem Handeln im Wege; er zerstört nicht, , er hindert die Entstehung; er tyrannisiert nicht, er belästigt, bedrängt, entkräftet, schwächt, verdummt und bringt jede Nation schließlich dahin, dass sie nur noch eine Herde furchtsamer und geschäftiger Tiere ist, mit der Regierung als Hirte.“
(erschienen auf der Internetplattform „Die Achse des Guten“ am 22.4.2015)