Die Veränderung der Unterrichtspläne greift zentrale Elemente der neuzeitlichen französischen Geschichte an. Das trifft die europäische Moderne insgesamt.
Geschichte im Geist des Schuldgefühls
Die Schulreform an den französischen Collèges (mittlere Schulstufe) senkt nicht nur die Lernanforderungen, sondern sie enthält auch ein ideologisches Element. Dies zeigt sich dort, wo sie in den Inhalt des Unterrichts eingreift, insbesondere im Geschichtsunterricht. So soll zukünftig im Geschichtsunterricht der Collèges die Behandlung des Jahrhunderts der Aufklärung, das zum Verständnis der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften der Neuzeit grundlegend ist, nur noch eine Wahloption im Rahmen eines Panorama-Themas („Europa zwischen dem 17. Und 19. Jahrhundert“) sein. Gleichzeitig sollen die Geschichte des Islam und auch eine (stark negativ gefärbte) Geschichte der Kolonisation auf gleichem Rang stehen.
Der Historiker Pierre Nora erklärte, dass sich in diesem Lehrplan-Relativismus eine „Identitätskrise Frankreichs“ wiederspiegele, „eine der schlimmsten unserer Geschichte“. Die Bildungsministerin, deren Lächeln der Schriftsteller Jean d´Ormesson mit dem hochnäsig-forschen Ausdruck von Jennifer Jones im Lubitsch-Film „Cluny Brown auf Freiersfüßen“ verglich, nannte den Historiker und andere Kritiker ihrer Reform „Pseudointellektuelle“. Das ist eine ähnliche Demagogie wie sie bei der Verleumdung der „Reichen“ vorliegt: Man zeigt auf Menschen in irgendwie herausgehobener Position und unterstellt im gleichen Wort schon Täuschung und Missbrauch. Aus dem Munde einer Ministerin, die bisher nicht durch eigene wissenschaftliche Leistungen aufgefallen ist, war das nicht nur eine peinliche Entgleisung, sondern zeigte auch eine neue Übergriffigkeit der Politik gegenüber Wissenschaft und Kultur. Die Befreiung von solcher Übergriffigkeit gehört just zu jener Epoche der Aufklärung, deren Bedeutung im Unterricht nun herabgesetzt werden soll.
Inzwischen musste die Ministerin beim Thema „Epoche der Aufklärung“ einen Rückzieher ankündigen, aber die Gesamttendenz der Reform dieses Faches bleibt. Sie richtet sich gegen die Höhen der französischen und europäischen Geschichte. Sie reiht die Aufklärung als einen Zeitabschnitt neben vielen anderen ein, ohne nachhaltige Ausstrahlung auf die übrige Welt und ohne Bedeutung für die Gegenwart. Mehr noch: Der Akzent der Geschichtsbetrachtung verschiebt sich auf den Gesichtspunkt der Beschädigungen und Opfer, die Frankreich und Europa in ihrer neuzeitlichen Geschichte verursacht haben. Pierre Nora, der der Historikerschule der Annales nahesteht und damit keineswegs unter dem Verdacht steht, ein „Rechter“ zu sein, spricht von einem Geist der „Schuldgefühle“ in den neuen Lehrplänen.
Spielt hier die Herkunft der Ministerin – Frau Najat Vallaud-Belkacem hat einen marokkanisch-islamischen Migrationshintergrund – eine Rolle? Dieser Verdacht trifft nicht das Wesentliche. Denn die Tendenz, die Geschichte der Moderne als Schuldgeschichte zu schreiben und eine neue Erbsünde für die Länder Europas zu konstruieren, ist im Innern des alten Kontinents entstanden. Die Tendenz ist in Deutschland wohlbekannt, aber inzwischen gibt es auch in anderen Ländern (in Frankreich ebenso wie in Großbritannien oder den Niederlanden) solche Neigungen. Bisweilen ist sie mit der Hoffnung verbunden, man könne aus der „Aufarbeitung“ der Schuld eine neue Kraft für die Zukunft gewinnen. Das ist ein Fehlschluss. Die Anerkennung von Verlusten und Opfern gehört gewiss zur Wahrheit der Geschichtsschreibung, aber sie enthält nichts, was den positiven Sinn von Republik und Marktwirtschaft begründen könnte. Auch nichts, was die Autonomie von Wissenschaft und Kultur legitimieren könnte. Die Moderne ist ein komplexes und voraussetzungsvolles Gebilde. Sie stellt eine Entwicklungshöhe dar, die einen beträchtlichen – gedanklichen und praktischen – Aufwand erfordert. Sie besteht nicht einfach im Streben nach dem „guten Leben“ und im ebenso trivialen Ablehnen des schlechten Lebens. Sie verlangt das Ertragen beträchtlicher Gegensätze und belastender Umwege. Das ist keine Sache von Genen und Gefühlen. Insofern ist das Jahrhundert der Aufklärung eine Vergangenheit, die nicht vergeht – im positiven Sinn. Die „Legitimität der Neuzeit“ (Hans Blumenberg) erfordert deshalb auch Bildungsanstrengungen, die jede Generation von neuem bewältigen muss.
Deshalb ist es kein geringer Vorgang, wenn im Jahr 2015 in Frankreich ein Kampf darum geführt werden muss, dass im Geschichtsunterricht das Jahrhundert der Aufklärung ein zentraler Gegenstand ist.
Und das europäische Projekt? Niemand sollte glauben, dass man in einem vereinten Europa die Höhen wiederfindet, von denen man sich in den einzelnen Ländern verabschiedet hat. Wer die Nationalgeschichten als Schuldgeschichten schreibt, wird „europäisch vereint“ keine neue Unschuld bekommen. Wer die Legitimität der Nationen nicht begründen kann, kann sie auch für Europa nicht begründen. Er kann nicht erklären, warum die Welt Europa braucht. Was man jetzt im Bildungssystem Frankreichs und Deutschlands niederreißt, wird durch kein gesamteuropäisches Wunder wieder auferstehen.
(erschienen auf der Internetplattform „Die Achse des Guten“ am 7.6.2015 und auf der Internetplattform „Tichys Einblick“ am 15.6.2015. Eine Gesamtversion beider Teile erschien am 5.6.2015 als Essay in der Tageszeitung „Die Welt“)