23.03.2016

Das EU-Türkei- Abkommen reduziert Massenzuwanderung nicht, sondern führt nur einen Zwangsumtausch ein und rückt die Türkei in eine Schlüsselstellung.

(Der Migrationsmythos, Teil 11)

Eine Art Ablasshandel

Die Bilder von den leeren Aufnahmezentren an der österreichisch-bayrischen Grenze können den Eindruck erwecken, dass nun eine „Wende“ im Migrantenstrom nach Europa eingetreten ist und dass diese Wende dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei zu verdanken ist. Doch zum einen ist diese Flaute einer Maßnahme zu verdanken, die gar nicht Teil des Abkommens ist: die Schließung der mazedonischen Grenze und weiterer Grenzen auf der Balkanroute. Zum anderen hält die große Mobilmachung in den Quellgebieten an. Die Masse der Entwurzelten, die sich im europäischen Vorfeld sammelt, wächst weiter. Und schon werden wieder mehr Boote in der Ägäis, in der Adria und im Seegebiet vor der libyschen Küste gesichtet.

Das hat durchaus etwas mit dem EU-Türkei-Abkommen zu tun. Denn mit diesem Abkommen hat es die Europäische Union – unter führender Verantwortung der deutschen Bundesregierung – versäumt, eindeutig die Aussichtslosigkeit der gegenwärtigen Migrationswelle klar zu machen und ihr mit ebenso eindeutigen Grenz-Maßnahmen entgegenzutreten. Dies Abkommen ist ausdrücklich kein Reduktionsabkommen, sondern nur ein Abkommen über die Ersetzung einer Migrationsform (der „wilden“) durch eine andere Migrationsform (der „geordneten“) – und zwar im Zahlenverhältnis 1:1. Das Abkommen führt nicht zu einer Reduzierung des Grenzverkehrs, sondern nur zu einer zusätzlichen Schleife im Grenzverkehr. Aber auch die moralische Grundposition, von der aus die deutsche Regierung im Bündnis mit der EU-Bürokratie die Verhandlungen mit der Türkei anging, war das Gegenteil einer Migrationsbegrenzung. Die deutsche Bundeskanzlerin hat die Verhandlungen von vornherein in den Schatten eines großen Schuldvorwurfs gestellt, eines Vorwurfs an Europa. Sie hat behauptet, es gereiche Europa „nicht zur Ehre“, dass es sich der Aufnahme einer größeren Zahl von Migranten verweigere. Damit hat Frau Merkel jenen Schuldkomplex bemüht, der Europa einreden will, sein Wohlstand sei im Grunde illegitim und es könne sich nur durch eine weltweite Umverteilung ein gutes Gewissen machen. Dieser Geist hat es ins deutsche Kanzleramt geschafft, hat als „humanitärer Imperativ“ einen CDU-Parteitag in Bann geschlagen und schickt sich nun an, in Europa den Ton anzugeben. Die erste Konsequenz dieser Politik aus dem Geist des schlechten Gewissens ist freilich recht schäbig: Man übergibt Erdogans Türkei die Schlüsselgewalt zum europäischen Haus.

Die Tücken eines Tauschgeschäfts

Es ist durchaus sinnvoll, sich die Geschichte und die Details dieses Migrations-Deals mit der Türkei anzusehen. Bereits am 14.2.2016 berichtete Michael Martens in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von einem Vorschlag aus dem Institut „Europäische Stabilitätsinitiative“ (ESI), der für eine Kombination aus Rückführung von illegalen Migranten in die Türkei und Direktabnahme von Migranten aus türkischen Lagern plädierte. „Diese Idee findet inzwischen vom Kanzleramt bis zur niederländischen EU-Ratspräsidentschaft immer mehr Unterstützer“, schreibt Martens und berichtet, der EU-Ratspräsident Donald Tusk habe den Chef des ESI, Gerald Knaus, vor kurzem nach Brüssel eingeladen, um über eine solche Lösung zu sprechen. Es ist also nicht so, dass das EU-Türkei-Abkommen auf einen „Vorschlag der Türken“ zurückgeht. In dem zitierten FAZ-Bericht ist allerdings von einer 1:1-Umtauschrate zwischen illegalen und legalen Migranten noch nicht die Rede. Eine solche feste Rate ist abwegig, denn sie wird zwischen zwei ganz unkompatiblen Größen eingerichtet: Warum sollte der Bedarf bei der humanitären Aufnahme der Zahl der illegalen Grenzübertritte entsprechen? Er kann sowohl größer als auch kleiner sein. Mehr noch: Willigt Europa in eine solche Rate ein, wird es zum Spielball der Entwicklung der illegalen Grenzübertritte. Er macht sich von einer fremden Größe abhängig.

Wo setzt das EU-Türkei-Abkommen an? An der Türkisch-Griechischen Grenze (in der Ägäis). Logisch? Nicht unbedingt. Denn die Türkei ist nicht das Ursprungsland der Migrationswelle, sondern nur Durchgangsland. Das Abkommen müsste eigentlich einen Anreiz schaffen, diesen Status als Durchgangsland zu verringern – also schon beim Einströmen in die Türkei und beim Weiterziehen an die Ägäisküste ansetzen. Das tut es nicht, sondern nimmt das Durchmigrieren als vollendete Tatsache hin. Mehr noch: Sind die Migranten in der Türkei angekommen, fördert es das Durchmigrieren. Denn nur dann, wenn illegale Migranten in Griechenland ankommen, kann der Deal stattfinden. Erst dann kann die Rücknahme eingeleitet werden, und die Türkei kann über den 1:1-Umtausch ihre „Lagerbestände“ an Migranten verringern. Am Ende dieser Migranten-Umtausch-Schleife hat sie dann weniger Migranten. Sie wird also, im Rahmen dieses Abkommens, kein Interesse an scharfen Kontrollen an der Ägäis entwickeln. Sie wird dazu neigen, sich auf Scheinkontrollen zu beschränken, damit das Tauschgeschäft weitergeht und der „Umsatz“ hoch bleibt.

Und Griechenland? Es hat auch kein Interesse an besonders scharfen Abwehrmaßnahmen. Wenn es nämlich weiß, dass die umgetauschten Migranten im gesamten EU-Raum verteilt werden, bleibt bei ihr ebenso wenig hängen wie vorher bei der Durchwinke-Praxis.

Das einzige Element, das wirklich gewirkt hat, war die Schließung der mazedonischen Grenze durch ein Bündnis europäischer Staaten. Nur diese Schließung hat dafür gesorgt, dass Griechenland endlich mit der systematischen Registrierung und dem Aufbau von geschlossenen Lagern begonnen hat. Doch eben diese Grenzschließung ist gar nicht Teil des EU-Türkei-Abkommens! Die Schließung der Grenzen auf dem Balkon wird weder begrüßt noch unterstützt. Man übergeht sie mit eisigem Schweigen.

Die Befürworter des EU-Türkei-Abkommens argumentieren subjektiv-psychologisch. Der Tausch illegaler gegen legale Migranten würde auf die Illegalen eine abschreckende Wirkung haben. Der illegale Grenzübertritt würde sich ja nicht mehr „lohnen“. Die Zahl der illegalen Grenzübertritte würde also zurückgehen und sich damit auch das Tauschgeschäft von selbst erledigen. Es würde gewissermaßen „sanft einschlafen“. Das darf man bezweifeln. Man muss die illegalen Migranten ja ergreifen und festhalten, um sie dann rückführen zu können. Das erfordert eine Härte und Motivation auf Seiten der Grenzländer, die man bisher dort nicht fand. Das Tauschgeschäft wird die Motivation nicht unbedingt erhöhen, denn es bietet ja keine längere Perspektive. Wenn die Abschreckung wirkt, gibt es kein Tauschgeschäft mehr. Die Übernahme legaler Kontingente wäre beendet. In praktischer Hinsicht macht das Abkommen die Kontrollaufgabe auf europäischer Seite eher schwieriger. Die griechische „Schleife“, die die Migranten vor ihrer Rückführung machen müssen, öffnet Tür und Tor für ein Untertauchen von Migranten, für neue Schleuseraktivitäten und Korruption. Dabei sollte man bedenken, dass bei vielen Migranten eine Risikobereitschaft „auf Leben und Tod“ zu finden ist. Hinzu kommt, dass die Kontrolle des griechischen Staates über das eigene Territorium sowieso sehr brüchig ist. Wenn schon die deutsche Regierung nach ihrer Grenzöffnung keine verlässliche Kontrolle der Massenmigration zustande gebracht hat, wie sollte es da die griechische Regierung können?

Die Jahrhundert-Alternative: In Grenzen investieren

Die Grenzverächter dieser Welt haben eine merkwürdige Logik. Sie beschweren sich lauthals über die Anstrengungen, Verzögerungen und Kosten, die eine funktionierende Grenze beinhaltet. Aber sie sagen nie, welche Anstrengungen, Verzögerungen und Kosten ohne Grenzen anfallen. Dann nämlich müssen alle Vorgänge im jeweiligen Inland kontrolliert und bearbeitet werden. Genauer: Sie müssen in der Fläche bearbeitet werden. Das ist natürlich viel aufwendiger: Ein Kilometer Linie ist leichter zu kontrollieren als ein Quadratkilometer Fläche. Die grenzfeindliche Politikdoktrin der deutschen Regierung (und der EU-Kommission) hat zu einer europaweiten Chaos-Fläche geführt, in der man mit verschiedenen Identitäten fast völlig nach Belieben zirkulieren kann.

Wie es besser geht, zeigt die sogenannte „Westroute“ (Westafrika, Mauretanien, Marokko, Spanien). Sie war einmal die Route mit den meisten illegalen Übertritten nach Europa. Allein im Jahr 2006 kamen fast 32000 Afrikaner über die Meerenge von Gibraltar bzw. über die Kanarischen Inseln. Das ist schon fast vergessen, denn die Zahlen sind drastisch gesunken. Ein Bericht von Jochen Stahnke (in der FAZ vom 9.10.2015) nennt für die erste Jahreshälfte 2015 die Zahl von 342 Migranten, die Spanien durch illegale Bootsüberfahrten erreichten. Die Zahl von 5000-6000 Migranten, die Spanien insgesamt aufgenommen hat, ist für einen südeuropäischen Grenzstaat erstaunlich gering. Was ist hier geschehen? Spanien hat die Zusammenarbeit mit Marokko, aber auch mit Mauretanien, Senegal und Cap Verde systematisch ausgebaut. Es handelt sich um eine Mischung von Entwicklungspolitik und Sicherheitspolitik, mit einem deutlichem Akzent auf der Sicherheit, wobei man auch vor der Lieferung militärischer Ausrüstung an ein autoritäres Regime (Ould Abdel Aziz in Mauretanien) nicht zurückschreckte. Die Kooperation machte den Außeneinsatz der spanischen Guardia Civil auf fremdem Hoheitsgebiet möglich und die sofortige Rückführung illegaler Migranten. Das ist eine ganz praktische Widerlegung der These, gegen den Ansturm von Süden wäre keine Grenze (und besonders keine Seegrenze) zu halten. Es ist auch keineswegs so, dass das mit einer totalen „Abschottung“ bezahlt worden wäre: Der Waren- und Pendlerverkehr über die spanisch-marokkanische Grenze ist durchaus lebhaft und hat in den letzten 10 Jahren noch zugenommen.

Die Massenmigration unserer Zeit ist kein Sachverhalt, der mit Tauschgeschäften geregelt werden kann. Die Migration muss wieder auf ein verträgliches Maß zurückgeführt werden und deshalb läuft jede wirkliche Lösung am Ende doch auf ein Zurückweisen hinaus. Dies Zurückweisen aber führt zum Instrument „Grenze“. Oder genauer: zu einem gestaffeltes System von Grenzen, das möglichst nahe bei den Entstehungsregionen der heutige Migrationswelle ansetzt. Schaut man auf das erfolgreiche Grenzsystem an der Westroute, so ergibt sich nicht das Bild einer großen, gesamteuropäischen Reichsgrenze, sondern ein weiter ausgreifendes und zugleich engeres Bild: Weiter, weil das Grenzsystem außereuropäische Länder einbeziehen muss und an ihr Interesse als eigenständige Staaten appellieren muss. Enger, weil es auf die besondere Situation einzelner Korridore zugeschnitten sein muss – also aus mehreren Einzelsystemen bestehen muss. Die Vorstellung eines neuen „großen Limes“ gehört zu einem Eurozentrismus, der nicht in die moderne Welt passt.

Auf dem Süd-Ost-Korridor wird die Situation solange ein Provisorium bleiben, wie nicht die Lage an der türkisch-syrischen Grenze stabilisiert ist und der Staat Syrien und die amtierende Regierung als legitimer Vertragspartner anerkannt ist. Dort sollte das Hauptgewicht aller Anstrengungen liegen. Aber die Situation wird auch solange ein Provisorium bleiben, wie es in der Mitte Europas noch eine deutsche Regierung gibt, die mit pauschalen Aufnahmezusagen das Migrationsfieber anheizt.

Die Erfahrungen an der mazedonischen Grenze und die Erfahrungen mit der Regelung auf der Westroute sind ermutigend. Sie sind auch zukunftsweisend. Wenn man davon ausgeht, dass Europa wahrscheinlich noch ein ganzes Jahrhundert unter Migrationsdruck stehen wird, lohnt es sich, in Grenzen zu investieren. Das gilt materiell und rechtlich. Was werden wir noch bei den materiellen Grenzanlagen an Differenzierungen der Schließung, Öffnung und Lagerung sehen? Und wann kommen wir endlich zu einer zeitgemäßen Neuordnung des internationalen Rechts, die sowohl den individuellen Menschenrechten als auch dem Recht der Völker auf eine staatlich verfasste Selbstbehauptung ihren Platz verschafft?