27.04.2016
Der Hype um die Migranten verdrängt ein tieferes, hausgemachtes Problem. Der deutsche Bildungsbetrieb tut sich schwer, wo sie der kommenden Generation Anpassungszwänge vermitteln muss und den Anforderungen des Arbeitslebens näherkommen muss
Die deutsche Lernkrise
Es ist eine merkwürdige Verdrängung: Da wird die Migrationswelle zur „größten Herausforderung seit dem Krieg“ bezeichnet und ihre Bewältigung zum Schlüssel für die Zukunft Deutschlands erklärt – und gleichzeitig findet, fast im Verborgenen, eine unaufhaltsam wachsende Krise in der Arbeitswelt unseres Landes statt. Dort gelingt es nicht mehr, den Nachwuchs für unsere Berufswelt heranzubilden. Das liegt nicht einfach daran, dass es in der Bevölkerung zu wenig junge Leute gibt, sondern daran, dass ein Großteil von ihnen nicht für eine Ausbildung zu gewinnen ist, die auf die berufliche Realität und die Leistungsanforderungen moderner Betriebsabläufe ausgerichtet ist. Ja, in Deutschland gibt es eine Lernkrise.
Gegenwärtig werden die Verträge für das am 1. September beginnende erste Lehrjahr geschlossen. Dabei setzt sich ein Trend fort, der sich schon in den vergangenen Jahren bemerkbar machte: Nicht mehr die unversorgten Lehrstellen-Bewerber sind das Thema, sondern die unbesetzten Lehrstellen. „Wir haben eine umgekehrte Lehrstellenlücke“, sagte der Berliner IHK-Hauptgeschäftsführer Jan Eder schon Anfang des Jahres (Berliner Morgenpost, 21.Januar). Im Jahr 2015 ist die Zahl der unterschriebenen Ausbildungsverträge um ein Prozent gesunken, während gleichzeitig 1000 Lehrstellen mehr als im Vorjahr angeboten wurden. Die Größe „unterschriebene Ausbildungsverträge“ zeigt noch nicht den wirklichen Umfang des Problems. Denn es zeigt sich, dass viele Ausbildungsverhältnisse abgebrochen werden oder nur notdürftig durchgehalten werden, während eigentlich bald feststeht, dass der Bewerber ungeeignet oder unwillens ist. In dem Artikel wird dies Problem noch sehr diplomatisch ausgedrückt. Da ist von der „sehr unterschiedlichen Motivation“ der Lehrlinge die Rede. Ein Firmeninhaber berichtet von einem Auszubildenden, der 85 Prozent seiner Berufsschultage verpasst hat und montags immer krank sei. Aber kündigen oder sanktionieren dürfe man ihn nicht. Ein anderer Betrieb ist dazu übergegangen, seinen Lehrlingen für gute Leistungen Boni bis zu 120 Euro zu zahlen.
Natürlich ist richtig, dass in Deutschland geburtenstarke Jahrgänge in Rente gehen, während geburtenschwache Jahrgänge in den Arbeitsmarkt eintreten. Doch wäre dies Problem zu meistern, wenn es nicht hohe und immer höhere Ausfälle auf dem Ausbildungsweg zu einem marktfähigen Beruf gäbe. Bei diesen Ausfällen spielen die Schulen eine besondere Rolle. Zwischen ihrem Lernbetrieb und der Berufswelt klafft ein immer größerer Spalt. Das ist keineswegs nur das Problem einer (angeblich) verwahrlosten Unterschicht, sondern findet auch auf einer höheren Bildungsetage statt – durch eine zunehmende Akademisierung des Bildungswesens. Im Jahr 1985 hatten noch 19,8 Prozent eines Jahrgangs ein Hochschulstudium aufgenommen, 2005 waren es schon 37,1 Prozent und im Jahr 2015 stieg sie dann auf 58 Prozent. Innerhalb von nur drei Jahrzehnten hat sich der Anteil von einem Fünftel auf weit über die Hälfte eines Jahrgangs erhöht. Würde man den Anteil wieder auf ein Drittel begrenzen, dann wäre ein Großteil der Ausbildungslücke geschlossen – und zwar aus den Reihen der Inlands-Bevölkerung.
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Lernkrise und Migrationskrise – Es gelingt es nicht mehr, das Wissen, die Fertigkeiten und die Motivation, auf denen Deutschland sich gründet, aus seinen inneren Ressourcen fortzusetzen. Aber die Regierenden sprechen nicht über diese Lernkrise. Sie sprechen lieber von einer „demographischen Krise“ und suchen ihr Heil in Bevölkerungspolitik. So haben sie uns viel tiefer in die „Flüchtlingskrise“ verwickelt, als es nötig wäre. Stattdessen wird versucht, durch äußere Zufuhr „neuer“ Menschen, durch biologische Mittel also, das Reproduktionsproblem unserer Arbeitskultur zu lösen. Super, wir zapfen einfach die Migrationswelle an. Aber warum sollte das eigentlich klappen? Wenn Deutschland es nicht schafft, die Lernkrise bei den eigenen Leuten zu überwinden – warum sollte es ihm dann bei den Einwanderern gelingen?
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Auch hier: Der Staat winkt durch – Dorothea Siems („Die Welt“ vom 11.4.2016) schreibt, ausgehend von einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung, dass „die politische gewollte Inflation der Bildungsabschlüsse mit einer dramatischen Absenkung der Anforderungen erkauft“ wurde. Die Studie spricht von einer „Kultur des Durchwinkens“, die sich im gesamten Bildungssystem von der Grundschule über das Gymnasium bis zur Universität etabliert habe und deren negative Folgen sich dann „spätestens beim Übergang in das Berufsleben“ zeigen. Zu dieser Kultur des Durchwinkens gehört auch, dass es an den Universitäten zahlreiche Fakultäten gibt, an denen die Durchschnittsnoten der Absolventen (aller Absolventen eines Jahrgangs) „gut“ oder besser sind. Das ist im Grunde Zertifikats-Betrug. Auch hier gibt es einen geduldeten außergesetzlichen Zustand, und das schon seit vielen Jahren.
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Anpassung (I) – In ihrem Artikel zitiert Dorothea Siems den Vorsitzenden des Deutschen Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, dass die Schüler an Gymnasien heute zwar besser in der medialen Aufbereitung und Präsentation seien, auch in der Anwendung von Fremdsprachen. Dass aber viele grundlegende Fähigkeiten wie das logische Analysieren von Texten oder Rechtschreibung heute vernachlässigt würden. „Alles, was mit mühsamem Üben und Wiederholen zu tun hat, kommt zu kurz.“ (Meidinger).
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Anpassung (II) – Etwas stimmt nicht mit dem Lernen in Deutschland. Aber was ist es? Liegt es an ungenügender Pädagogik? An ungenügendem Eingehen auf die jungen Leute? Eine andere Vermutung liegt eigentlich näher: Die Organisation des Lernens tut sich dort schwer, wo sie Anpassungszwänge vermitteln muss und damit den Anforderungen des Arbeitslebens näherkommt. Der Realitätsschock beim Eintritt in die Arbeitswelt ist dann groß. Und der Spalt zwischen den Prinzipien der Lernwelt und den Prinzipien der Arbeitswelt ist hierzulande über Jahrzehnte immer größer geworden.
Das gilt natürlich für die Branchen und Tätigkeiten, die mit Schmutz, Lärm, Eile oder Gefahren verbunden sind. Aber es gilt auch für Anforderungen, die überhaupt mit dem Berufsleben in einer arbeitsteiligen Welt zu tun haben: die Spezialisierung, die Wiederholung, die Eintönigkeit, die Disziplin des Arbeitstages, die Zwänge des Maschinenbetriebs et cetera. Es fehlt die Abwechslung, das freie Gestalten, der Glamour, das sogenannte „Kreative“. Man muss sich nur manche Werbekampagnen ansehen, um zu sehen, mit welchen Problemen sich die Anbieter von Lehrstellen herumschlagen: Da warb eine große Drogeriemarktkette mit der Aussage, in der Lehrzeit würden die Auszubildenden auch „Theater spielen“. Und eine Ministerin versuchte den jungen Leuten den Beruf der Altenpflege dadurch nahezubringen, dass sie ihn als eine Art „Stewardess“ darstellte. Währenddessen steigt die Quote derjenigen, die ihre Berufsausbildung abbrechen – von 21,5% (2008) auf 25% (2014), wie dem Berufsbildungsbericht 2015 der Bundesregierung zu entnehmen ist.
Aber das Bildungssystem bietet auch Möglichkeiten einer „Flucht nach oben“ vor den Anforderungen der Anpassung. Ein Hochschulstudium, eventuell noch mit Fachwechsel, verschiebt den Eintritt ins Arbeitsleben immer weiter nach hinten. Dazu gehört auch, dass „sich die Verteilung der Studierenden auf die einzelnen Fachrichtungen weit weniger an den Bedarfen des Arbeitsmarktes orientiert als das Angebot an betrieblichen Ausbildungsstellen“ (zitiert aus einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (2/2016) „Gesteuerte Zuwanderung in der Flüchtlingskrise“). Es ist deshalb kein Zufall, dass es dort, wo die Zwänge der Anpassung an einen bestimmten Stoff stärker sind, auch auf akademischem Niveau erhebliche Nachwuchssorgen gibt – in den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik).
Die Schwierigkeiten in der beruflichen Bildung sind deshalb keine Nebensache in einem sowieso immer kleiner werdenden Sektor. Vielmehr wird hier ein problematischer Gesamttrend nur deutlicher sichtbar: Aus dem Lernen verschwindet das, was Anpassung an fremde Umstände ist, insbesondere das Üben. Der Bildungsbereich entfernt sich damit von der modernen Welt. Er kapselt sich ab. Das deutsche duale System der beruflichen Bildung (Betrieb + Berufsschule) war einmal vorbildlich, weil es dieser Gefahr entgegenwirkte. Wenn es hier jetzt kriselt, dann ist das ein Alarmzeichen.
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Anpassung (III) – Wahrscheinlich kennen viele Menschen in ihrer Lebensgeschichte einen Moment, in dem sie zum ersten Mal in irgendeine „Industrie“ geraten sind: eine Halle, eine rationale Raumaufteilung, eine Dominanz von Dingen, die miteinander zeitlich eng vertaktet sind. So etwas gibt es auch im Kranken- oder Zeitungshaus, meine Halle war eine Kartonagenfabrik, wo ich einige Monate später meine Lehre begann. So ein Moment bleibt haften. Auch wenn man dann nicht weiter darüber nachdenkt, so vermittelt er doch einen Eindruck von der Härte, auf der unsere moderne Menschlichkeit aufgebaut ist. Insofern ist es kein banaler Schritt, wenn man sich für eine berufspraktische Ausbildung entscheidet. Eine solche Ausbildung ist recht dicht an der späteren Berufspraxis gebaut. In der Lehre ist man schon früh den Arbeitsrhythmen unterworfen, angefangen vom frühen Aufstehen. Man muss sich den Zwängen von Maschinen, von Wertschöpfungsketten, von eng getakteten Arbeitsabläufen anpassen. Die Spielräume zum Probieren oder gar zum „Sich selber erfinden“ sind gering. Die Abläufe liegen fest. Sie beruhen auf langen Rationalisierungserfahrungen. Ebenso die Fertigkeiten, die das Resultat einer längeren Berufsgeschichte sind.
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Anpassung (IV) – „Wir umgehen die Ausbildungskosten“ raunen unsere Ego-Liberalen, die in Wirklichkeit Sozialtechnokraten sind. Als ob es nur um ein sozialtechnisches Problem ginge und man elegant eine Kostenstelle vermeiden könnte. „Es sind doch junge Leute“, heißt es, und damit wird insgeheim die Erwartung verbunden, dass sie viel Lebensgier mitbringen und diese Gier alles schafft. Als ob es nicht vielfältige historische Erfahrungen mit industriefremden Bevölkerungen gibt (England des 18. Jahrhunderts, Deutschland des 19. Jahrhunderts, Süditalien des 20. Jahrhunderts), denen erst mühsam und oft mit brachialen Mitteln die Disziplin industrieller Arbeitsformen beigebracht werden musste. Und nun soll ein Land, das sich zu einem großen Teil „postindustriell“ dünkt, dies Disziplinierungswerk an einem Riesenkontingent von präindustrieller Migranten vollbringen – wo wir dies Werk an uns selber nicht mehr vollbringen können und mögen.
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Über zwei Dimensionen der Fremdheit – Unsere christlich-rot-grünen Migrationsfreunde nehmen für sich in Anspruch, besonders offen für das „Fremde“ zu sein. In ihrer Rede schwingt immer ein fester Glaube an die eigene Kühnheit mit: Wahnsinn, worauf sie sich einlassen. So viel Selbstaufgabe, wenn sie sich den ins Land kommenden „Anderen“ zuwenden. Aber wie wäre es mit einem anderen Prüfstein für das Fremde: die Arbeit in der Industrie, auch in der Agrarindustrie, in der Pflegeindustrie und in der Kulturindustrie. Da gibt es die Erfahrung einer noch härteren Fremdheit, bei der die Maschinen und großen technischen Infrastrukturen den Takt vorgeben. Bei der die physisch-stofflichen Prozesse mit ihren Sachzwängen regieren. Eine Fremdheit der Sachwelt gegenüber der Menschenwelt also. Gerade diese Fremdheit ist in der modernen Zivilisation immens gesteigert. Ohne sie wäre auch die millionenfache Berufstätigkeit in einem Land wie Deutschland nicht möglich. Und hatte nicht auch ein gewisser Herr Marx (und vor ihm schon Herr Hegel) von „Entfremdung“ und „Verdinglichung“ gesprochen, als kritischer Vorgang, gewiss, aber auch als unumgänglicher Vorgang? Wie wäre es also, wenn wir die Probe für die Anhänger des Fremden einmal in dieser Richtung stellen: Seid ihr bereit für einen Industrieberuf? Da würden wohl die meisten unserer Herzchen und Bübilein, die sich schon schwer tun, ein paar Stunden in einer Maschinenhalle oder auf einer Pflegestation auszuhalten, passen. So war das mit der „Offenheit“ dann doch nicht gemeint.
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Ein konservativer Gedanke zum 1.Mai – Heute, wo die industriefernen Milieus „den Menschen“ (den „reinen“ Menschen) zum A und O erklären, werden solche Herausforderungen gerne als „überholt“ erklärt. Mancher hält ja schon die Industrie für eine rechtspopulistische Veranstaltung. Der zunehmende Abstand der Bildungswelt von der Berufswelt ist ein wesentlicher Grund für die verbreitete Wirtschafts-Feindlichkeit – und für das Vorurteil, ein großes Unternehmen sei immer verdächtiger als ein kleines Unternehmen. Er ist auch ein Grund für den Riss, der heute durch die Sozialdemokratie geht. Die Lernkrise in Deutschland trifft sie in besonderer Weise.
(veröffentlicht am 29.4. in meiner Kolumne auf „Tichys Einblick“)