Im Advent zeigt sich die christliche Grundlage der Modern: Und sie zeigt sich nicht nur im Miteinander der Menschen, sondern im Leuchten der dinglichen Welt.
Die Welt hat Zeit bekommen
Die christliche Adventszeit hat etwas Magisches. „Mitten im kalten Winter“, wie es in einer Liedstrophe heißt, erhält die Welt einen unerwarteten Glanz. Lichter werden angezündet, Tannengrün kommt in Wohnungen und Straßen; es duftet nach Gebäck, Gewürzen und warmen Getränken. In vielen Familien werden Strohsterne gebastelt und Plätzchen aus Teig gestanzt, es wird gesungen und vorgelesen. Eigentlich ist das etwas ganz Unnatürliches und Künstliches. Denn nach der Logik der Jahreszeiten wird es jetzt dunkler und kälter. Die Umwelt verschließt sich und verstummt. Da denkt man eher an die Vergänglichkeit des Daseins. Doch nun ereignet sich etwas ganz Unwahrscheinliches: Mit dem Advent erhebt sich mitten in einer abweisenden Umwelt eine Welt voller Geschichten, Bilder und Musik. Und hinter den Lichtern auf dem Adventskranz – „erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier“ – steht eine große Geschichte. Sie berichtet von einem Gott, der zeigt, dass ihm die irdischen Dinge und Menschen nicht gleichgültig sind. Advent – lateinisch adveniat – bedeutet, dass „etwas kommt“. Die kleinen Dinge der Adventszeit sind Vorboten, die zu uns aus einer unfassbaren Ferne kommen und unsere Welt aufwerten. Sie sind Zeugnisse dafür, dass Gott dieser Welt zugetan ist. Das irdische Dasein ist keine bedeutungslose, nur dem Tod geweihte Sache. Man mag die Geschichte von dem auf die Erde geschickten Sohn Gottes in vielen Einzelheiten bezweifeln, aber der christliche Glaubensgrund eines allmächtigen Gottes, der uns zugetan ist, ist darüber erhaben. Die Magie des Advents reicht weit über Christi Geburt hinaus.
Die modernen Menschen stehen viel stärker unter dem Einfluss dieser Magie, als sie sich bewusst sind. Zu ihren Grundgewissheiten zählt, dass sie darauf bauen können, dass es eine Zukunft gibt – der Weltuntergang findet eben doch nur im Kino statt. Wie könnten die Menschen Familien gründen, Unternehmen aufbauen, den Rechtsstaat weiterentwickeln – wenn sie nicht an einen größeren Zeithorizont glauben würden? Woher aber nehmen sie die Gewissheit, dass ihnen Zeit gegeben ist? Man kann es den täglichen Katastrophen ja nicht ansehen, dass sie sich nicht zum Weltuntergang steigern. Und doch haben wir gegen solche Phantasien einen geistigen Halt.
Hier liegt eine geistige Schwelle, die die Neuzeit vom Mittelalter trennt. Dessen Geistesleben stand weitgehend im Schatten der Erwartung eines nahen Weltuntergangs. Man kann sich heute kaum vorstellen, in so einem Schatten zu leben. Jedes Ereignis bedeutete Drohung, jeder Freude folgte der Schrecken auf dem Fuße. Willkür und Gewalt zerhackten die Zeit und Gott wurde von einer Kaste zur Geheimsache erklärt. Eigentlich jedoch passt das Christentum nicht zu dieser finsteren Perspektive. Welchen Sinn sollte Christus auf der Erde haben, wenn diese nur auf die Apokalypse warten darf? Die Adventsbotschaft kündet eben nicht vom nahen Weltuntergang. Es ist nicht das jüngste Gericht, das sich hier nähert. Eher im Gegenteil: Gott gibt der Existenz auf Erden mehr Bedeutung. Er machte den Menschen das irdische Dasein zur Gabe und Aufgabe. Uns wird Zeit gegeben – das ist die Botschaft. Deshalb strahlt das Christentum eine Ruhe aus, die der Geschichte noch ganz fremd ist. Obwohl die Einrichtung der Adventszeit auf das 7. Jahrhundert zurückgeht, steht der Advent in einem Spannungsverhältnis zur Mentalität des Mittelalters. Er weist über es hinaus, in die Neuzeit.
Hier kommt der Advent im Grunde erst wirklich zum Zug. Erst hier wird er zu einem Eckpfeiler des gelebten christlichen Glaubens. Die schönsten Adventslieder wie „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“, „Wie soll ich Dich empfangen“ oder „Es kommt ein Schiff geladen“ datieren aus dem 17. Jahrhundert. Den ersten Adventskranz ließ der Theologe Johann Hinrich Wichern 1839 im „Rauhen Haus“ in Hamburg aufhängen. Und der Adventskalender mit seinen 24 Türen ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Könnte es also sein, das der Advent eine Botschaft von Gott bringt, die uns Menschen erst verspätet erreicht? Kommt der tiefere Sinn des Christentums vielleicht erst mit der Neuzeit bei uns an? Der Advent lehrt uns ja eine Kultur des Wartens. Die Wahrheit des christlichen Glaubens beruft sich nicht auf ein Erstgeburtsrecht. Das Christentum ist eine späte Religion. Es hat seinen Weg gerade erst begonnen.
In den modernen Adventszeiten gibt es einen merkwürdigen Zusammenklang von Religiösität und Säkularität. Der Glauben hat Melodien und Bilder gefunden, die Demut und Vertrauen in eine offene Welt bringen. Zugleich ist die Tatkraft der Menschen gewachsen. Entdeckerdrang, Wirtschaftsgeist und Landesstolz füllen die Erde und geben ihr Glanz. Bisweilen ist das zu grell, aufdringlich und maßlos – wie die Menschen eben so sind. Und doch gibt es auch hier die Magie eines „Adveniat“: Das Lichtermeer der Großstadt zelebriert auf seine Weise das Geschenk der Zeit, das uns gegeben ist. Die Kirchen müssen damit nicht konkurrieren. Sie haben ihre eigene, ruhigere Adventskultur. Bei aller Kritik an Hektik und Kommerz sollte man bedenken, dass der Advent heute der christliche Ritus ist, der die größte Teilnehmerzahl hat. Daran wird auch klarer, in welchem Sinn unsere westliche Zivilisation tatsächlich auf christlicher Grundlage aufbaut und warum wir diese Grundlage nicht einfach durch ein multireligiöses Patchwork ersetzen können. Zum Advent versammelt sich, der Welt und Zukunft zugewandt, das christliche Abendland.
(Überarbeitete Version eines Leitartikels, der in der Tageszeitung „Die Welt“ am 27.11.2010 unter der Überschrift „Die Magie des Advents“ erschien)