Eine merkwürdige Wehrlosigkeit, die bis zur Selbstaufgabe geht, herrscht im christlich geprägten Teil dieser Welt. Wir müssen über eine zweite Spielart des religiösen Nihilismus sprechen. Ist die Christdemokratie noch fähig zur Wahrung eines republikanischen Staatswesens? (Über die Religion, Teil 3) 

Die allzu frohe Botschaft der christlichen Erlösung

Die Reaktionen auf den Terrorangriff in Berlin haben erneut gezeigt, wie schwer sich Europa – und insbesondere das christlich-demokratisch regierte Deutschland – tut, um darauf eine adäquate Antwort zu finden und sich wirksam zu wehren. Die Kundgebung in Berlin wurde unter die Überschrift gestellt: „Zusammenstehen in Berlin. Gegen Hass. Für ein friedliches Zusammenleben.“ Das ist eine merkwürdig neutrale und distanzierte Formel – als würde hier von einer so großen Entfernung auf das Geschehen geschaut, dass man Täter und Opfer nicht mehr unterscheiden könnte. Auch die gehaltenen Reden waren merkwürdig. Sie erweckten den Eindruck, als müssten die Deutschen in dieser Situation ihre friedlichen Absichten beweisen. Von den Tätern – von dem angreifenden Feind, der sich da formiert hat – war nicht die Rede. Wer in diesen Tagen das Wort „Feind“ in den Mund nahm, musste sich vorhalten lassen, er predige „Hass“.

Dies Apeasement soll angeblich Respekt vor den Opfern ausdrücken. In Wirklichkeit geht man über die Toten und Verletzten vom Breitscheidplatz hinweg, als wären sie nicht eine bleibende Wunde in unserer Gesellschaft. Der Frieden ist gebrochen, aber es soll – bitte, bitte – alles so weitergehen wie bisher. Wo eine stärkere Videoüberwachung und eine konsequente Abschiebepraxis gefordert wurde, wurde dies postwendend abgelehnt. Die Losung „Zusammenstehen!“ ist eine Aufforderung zum Stillhalten.

Auch in diesem Apeasement ist also ein Nihilismus am Werk. Aber es ist nicht jener aggressiv-zerstörerische Kriegs-Nihilismus, von dem im zweiten Teil dieser Trilogie die Rede war. Es ist ein milder, gemütlich-passiver Nihilismus. Sein Zerstörungswerk ist schleichend, eine verdeckte Selbstaufgabe, eine schrittweise Unterwerfung unter fremde Gewalt und eine allmähliche Auflösung der Errungenschaften der zivilisierten Welt.

Auch dieser Nihilismus hat eine religiöse Dimension. Seine Aufforderung zum Zusammenstehen der Lämmer wird mit dem Gottesbild des „guten Hirten“ legitimiert. So kann die Religion eine Wendung bekommen, die zur Flucht aus der Verantwortung und Bewährung der Menschen vor Gott führt. Die offenen Horizonte und Errungenschaften der modernen Welt werden von innen her aufgegeben. Auch hier ist eine Theologie am Werk: Die Selbstauflösung kommt als Erlösung daher.

Es geht in diesem Beitrag also nicht um die geläufige Kritikfigur, die der Religion vorhält, dass sie zum Krieg führt, sondern um eine zweite Version des religiösen Nihilismus: die Verneinung des Daseins von innen durch Selbstaufgabe und Erlahmen der Selbstbehauptung. Und diese Selbstauflösung geschieht durch eine wohlfeile Erlösungsbotschaft.

Zwei aktuelle Schwächen der christlichen Theologie

Es geht um das Christentum. Die merkwürdige Wehrlosigkeit herrscht ja im christlich geprägten Teil dieser Welt. Und sie herrscht dort, wo politische Parteien regieren, die sich auf „christliche Werte“ berufen. Die Selbstauflösung muss einen Ansatzpunkt im Christentum haben. Aber habe ich nicht im ersten Teil dieser Trilogie die These vertreten, dass das Christentum einen starken Stachel zur Selbstbehauptung enthält? Hatte ich nicht hier ein Beispiel für die konstruktive Drehrichtung der Religion gesehen? Für eine positive Synergie zwischen Religion und säkularer Zivilisation? Das ist nach wie vor richtig, doch schließt es nicht aus, dass es auch eine andere Drehrichtung des Christentums gibt – und dass sie dominant werden kann.

Für eine destruktive Drehrichtung, die in ihrer Konsequenz nihilistisch ist, gibt es im Christentum der Gegenwart zahlreiche Indizien. Die aktuelle christliche Theologie hat zwei Schwierigkeiten, die auch ganz praktische Schwierigkeiten der Kirchen sind: Erstens tut sie sich schwer, überzeugende Aussagen und Rituale zur Verehrung Gottes anzubieten. Und sie hat Schwierigkeiten mit den modernen säkularen Institutionen. Zum einen kann sie Gott in seiner erhabenen und zugleich fordernden Größe nicht mehr wahrnehmen. Stattdessen neigt sie dazu, ihn den Menschen dadurch „nahezubringen“, dass man ihn vermenschlicht. Die Vorstellung und das Gefühl für das Heilige sind ihr fremd geworden. Krass gesagt: Den Kirchen ist in ihrer alltäglichen Praxis nichts mehr heilig. Und zugleich kann die christliche Theologie die Welt nicht mehr als Ort der Bewährung sehen. Sie sucht ihr Heil darin, Wirtschaft und Staat herabzuwürdigen. Sie ist nicht mehr in der Lage, die Mühe der Zivilisierung der Welt zu legitimieren – weder die wirtschaftliche Bearbeitung der Welt noch das Gewaltmonopol des Staates.

Dabei greifen die christlichen Kirchen ein Ressentiment auf, das sich in einem größeren Sektor der Wohlstandsgesellschaften unserer Zeit gebildet hat. Diesem Sektor sind die mühevollen Voraussetzungen des mühelosen Lebens fremd geworden sind. Zu diesem Ressentiment gehört die Vorstellung, dass die Zivilisation der Natur eine unnötige und törichte Gewalt antut und stattdessen eine möglichst „natürliche“ Ordnung gut und möglich ist. Und das Ressentiment gegenüber der modernen Zivilisation reicht noch weiter: Die eigentliche Bestimmung des Menschen soll überhaupt nicht mehr in der Außenbeziehung zur dinglichen Welt bestehen, sondern in der zwischenmenschlichen Binnenbeziehung – eben im „Zusammenstehen“.

So wird die aktive, produktive Drehrichtung der Religion blockiert und ins Gegenteil gewendet – in einen neuen ökologischen und sozialen Anti-Säkularismus. Zwar ist noch von der Trennung zwischen Kirche und Staat, von religiöser und säkularer Sphäre die Rede, aber es ist keine respektvolle Trennung mehr, keine Trennung in gegenseitigem Respekt. Vielmehr werden Anklagen und Ansprüche erhoben, die auf eine Zurückdrängung des Säkularen hinauslaufen.

Ist das alles nur eine vordergründige Machtlogik? Treiben die Kirchen und die christlichen Theologen, die diese Anklagen und Ansprüche erheben, ein bloßes Machtspielchen? Diese Annahme verkennt die Dimension des Vorgangs. Es gibt ein theologisches Fundament dieses Ressentiments. Hier ist tatsächlich ein Gottes-Bezug im Spiel, etwas genuin Religiöses. Es ist eine Wendung des Religiösen, die in besonderer Weise im Christentum angelegt ist: die Erlösungs-Idee. Erlösungs-Vorstellungen und –Hoffnungen gibt es in vielen Religionen. Aber im Christentum, mit der Idee von Gottes Sohn auf Erden, ist die Möglichkeit eines speziellen Kurzschlusses angelegt. Er lautet: „Ihr seid schon erlöst“. Damit ist Gott auf eine profane Weise in die Welt hineingeholt und auf ein irdisches Maß reduziert. Und zugleich ist Gott als Instanz, vor der die Menschen eine Vorstellung von Verantwortung und Bewährung entwickeln können, aufgelöst.

So wird jede größere Spannung aus der Welt genommen. Die Einmaligkeit des Daseins wird Spiel. Nichts ist wirklich ernst. Nichts ist wirklich fremd. Nicht ist.

Frau Käßmann in Hongkong

Unter der Überschrift „Immer nur Leistung zeigen?“ berichtet Margot Käßmann, Botschafterin der evangelischen Kirche für das Reformationsjubiläum 2017, in der Zeitung „Chrismon“ vom Juni 2016, von einer Erfahrung in Hongkong, um daran die Aktualität von Martin Luthers zu demonstrieren.

„Eine Professorin erzählte, sie habe sich in ihrer chinesischen Familie stets wie eine Getriebene gefühlt: Noch mehr leisten, noch besser sein in der Schule, ein Instrument spielen können und so weiter. Der Familie keine Schande machen und durch Leistung zeigen, wer Du bist, darum sei es gegangen. `Busy sein´ wird zum Lebensinhalt. Und bei den horrenden Mieten seien ein guter Job oder besser gleich mehrere Jobs notwendig, um gut leben zu können. Sie sei immer mehr verzweifelt und fast krank geworden dadurch. Durch einen Zufall kam sie mit dem christlichen Glauben in Kontakt. Sie sagt: `Als ich verstanden habe, was Luther meint mit der Rechtfertigung allein aus dem Glauben, da war das wie eine Befreiung, eine Konversion im wahrsten Sinne´. Dass wir Menschen von Gott nicht nach unseren Leistungen oder Fehlleistungen taxiert werden, dass war die Lebensentdeckung. Sie wurde Christin, studierte Theologie und unterrichtet heute am College.“

Eine fürwahr bemerkenswerte Geschichte. Und eine wunderbare Nutzanwendung von Luthers Rechtsfertigungslehre, nach der die Menschen nicht zur Bewährung in praktischem Tun auf der Erde seien, sondern ihr Heil allein durch das „Glauben“ erlangen würden („sola fide“). Ein hübscher Zirkelschluss: Ihr seid schon erlöst, wenn ihr es nur ordentlich glaubt. Den Rest hat Gottes Sohn für uns schon erledigt. Wie die Professorin nach ihrer „Konversion“ zum Christentum einen so tollen neuen Job gefunden hat, dass sie jetzt die Höchstmieten von Hongkong ganz ohne Stress bezahlen kann, wird nicht erklärt. Aber Frau Käßmann hat in ebenso steilen wie entspannten Glaubens-Karrieren ja ihre Erfahrungen – man denke nur an ihre Alkoholfahrt am Steuer einer Nobelkarosse durch das Hannoversche Rotlicht-Milieu. Die Freude über das „schon erlöst“ hat bei ihr also eine sehr konkrete Bedeutung.

Die Bewährungsidee

Lassen wir den Extremfall Käßmann einmal beiseite. Die Frage der Rechtfertigung unseres Daseins vor Gott wurde in der Frühzeit der Moderne mit neuer Intensität gestellt. Aber sie wurde keineswegs in dem Sinn gestellt, dass man das Heil durch die eigene Leistung (oder gar durch den Kauf von Ablassbriefen) erzwingen könnte oder mit Gott Handel treiben könnte, sondern in dem Sinn, dass wir uns Mühe geben müssen – ohne Heilsgewissheit. Diese Mühe können wir nur nach den Maßstäben des Ortes, auf den wir Menschen verwiesen sind, bemessen. Die folgende Passage aus John Miltons Epos-Gedicht „Paradise Lost“ (1667) ist in dieser Hinsicht erhellend:

„Sie wandten sich und sahen des Paradieses
Östlichen Teil, – noch jüngst ihr seliger Sitz –
Von Flammengluten furchtbar umwallt,
Die Pforte selbst von riesigen Gestalten,
Mit Feuerwaffen in der Hand umschart.
Sie fühlten langsam Tränen niederperlen, –
Jedoch, sie trockneten die Wangen bald:
Vor Ihnen lag die große weite Welt,
Wo sie den Ruheplatz sich wählen konnten,
Die Vorsehung des Herrn als Führerin.
Sie wanderten mit langsam zagem Schritt
Und Hand in Hand aus Eden ihres Weges.“

Hier wird die alttestamentarische Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies noch einmal aufgegriffen. Es lohnt sich, hier genau zu lesen: Das alte „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“ (1. Buch Mose, Vers 3-19) bekommt nun, in der beginnenden Moderne, einen neuen Akzent: „Jedoch, sie trockneten die Wangen bald, vor ihnen lag die große weite Welt.“ Eine andere Perspektive hat sich eröffnet – eine weltbezogene, aktivierende Öffnung. Da kein menschlicher Willensakt einen solche geschichtlichen Perspektivwechsel bewirken kann, kann man auch sagen „wurde offenbart“. Diese Öffnung kommt ganz ohne Erlösungsversprechen aus. Von einer vorzeitigen Erlösung durch Gottes Sohn ist nicht die Rede. Keine Entspannung des menschlichen Daseins findet statt. An der Schwelle zur Moderne öffnet sich an einer ganz andere Stelle das Fenster der Religion. Der Geist der Arbeit und die Wahrnehmung der Welt in ihren produktiven Anlagen kommt in die Welt: Schaut genau auf den Ort, auf den Ihr verwiesen seid. Und das Ganze aus einer Situation der Knappheit und Schwäche heraus – nicht als bloßes Einsammeln der Früchte einer paradiesischen Erde.

Wenn das Wort „Herausforderung“ in Deutschland nicht so abgedroschen wäre, könnte man mit Fug und Recht sagen: Das Religion wird zur Herausforderung. Eine ungeheure Steigerung des Außenbezugs der Menschen findet statt – nichts, was mit „Zusammenstehen der Menschen“ zu erledigen wäre. Erst jetzt kann „Arbeit“ in einem tieferen Sinn (und nicht nur als niedere Tätigkeit, als Schmach und Strafe) gedacht werden. Die Milton-Passage wird in Max Webers „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ zitiert. Aber es geht nicht nur um den Protestantismus. Eine ähnliche Wendung ist, in anderer Form, auch auf römisch-katholischer Seite in Kunst und Wissenschaft schon in der Renaissance oder dem Barock nachweisbar. Und vielleicht auch auf jüdischer Seite? Der Neuansatz des Religiösen geht ja über einzelne Glaubensgemeinschaften hinaus.

Frühe Quellen des christlichen Erlösungsglaubens

Woher kommt dann aber die destruktive Drehrichtung des Christentums? Ist sie nur eine spätmoderne Reaktion auf die Anspannung dieses Zeitalters? Es gibt eine Spur, die bis in die Entstehungszeit des Christentums führt, und zeigt, dass im Christentum schon früh ein starkes Ressentiment gegen alles Fordernde in religiösen und weltlichen Dingen wirksam war. Man muss Friedrich Nietzsche nicht in seiner Totsagung Gottes folgen, aber die folgenden Passagen aus dem Aphorismus „Der erste Christ“ sind erhellend. Es geht um die Bekehrung des Paulus:

…Und endlich leuchtete ihm der rettende Gedanke auf: ihm dem wütenden Eiferer des Gesetzes, der innerlich dessen todmüde war, erschien auf einsamer Straße jener Christus, den Lichtglanz Gottes auf seinem Gesichte, und Paulus hörte die Worte: `Warum verfolgst Du mich?´ Paulus Kopf war auf einmal hell geworden. `Es ist unvernünftig´ sagte er sich, `gerade diesen Christus zu verfolgen! …Bisher hatte ihm jener schmähliche Tod Jesu am Kreuz als Hauptargument gegen die Messianität, von der die Anhänger der neuen Lehre sprachen, gegolten: wie aber, wenn er nötig war, um das Gesetz abzutun! – Die ungeheuren Folgen dieses Einfalls, dieser Rätsellösung wirbeln vor seinem Blicke, er wird mit einem Mal der glücklichste Mensch….Denn er ist von jetzt ab der Lehrer der Vernichtung des Gesetzes!“
… Selbst wenn es noch möglich wäre zu sündigen, so doch nicht mehr gegen das Gesetz, `ich bin außerhalb desselben´… Gott hätte den Tod Christi nie beschließen können, wenn überhaupt ohne diesen Tod eine Erfüllung des Gesetzes möglich gewesen wäre; jetzt ist nicht nur alle Schuld abgetragen, sondern die Schuld an sich vernichtet; jetzt ist das Gesetz tot, jetzt ist die Fleischlichkeit, in der es wohnt, tot – oder wenigstens in fortwährendem Absterben , gleichsam verwesend. Noch kurze Zeit inmitten dieser Verwesung! – das ist das Los des Christen, bevor er, eins geworden mit Christus, aufersteht mit Christus, an der göttlichen Herrlichkeit teilnimmt mit Christus und `Sohn Gottes´ wird, gleich Christus. Damit ist der Rausch des Paulus auf seinem Gipfel…Dies ist der erste Christ, der Erfinder der Christlichkeit! Bis dahin gab es nur einige jüdische Sektierer.“
(Friedrich Nietzsche 1880/81, Morgenröte – Gedanken über die moralischen Vorurteile. Erstes Buch, Nr.68)

Der Mythos des „reinen“ Ur-Christentums

An dieser Stelle kann ein bisschen religionsgeschichtliche Aufklärung nicht schaden. Werner Dahlheim (Die Welt zur Zeit Jesu, 2013) beschreibt die eigenartige Zwischenposition der Gruppe von Aposteln, Propheten und Lehrern, die zum Ausgangspunkt der christlichen Gemeindebildung wurde. Sie entschied sich dagegen, als Sekte ins Abseits der Wüste zu ziehen und ging in die Städte, vor allem in die von griechischer Kultur geprägten Städte des römischen Reiches. Aber sie fügten sich dort dennoch nicht in das normale Stadtleben ein:

„Viele von ihnen zogen, gelöst von den Zwängen einer bürgerlichen Existenz, als Wanderprediger von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, wo sie Tage und Wochen von ortsansässigen Gemeinden versorgt wurden. Allein zu ihnen passen die in den Evangelien bewahrten Ideale eines heimat-, besitz- und familienlosen Daseins: `Siehe, wir haben, was wir hatten, verlassen und sind Dir nachgefolgt´. Mancher mag diesen Satz als Freibrief für seinen Bruch mit der etablierten Welt gelesen haben. Gebunden an niemanden und nur seinem Auftrag verpflichtet, brauchte er nichts von der Lehre Jesu den sozialen Gegebenheiten anzupassen.“
(Dahlheim 2013, S. 92; das Binnenzitat stammt von Petrus)

Die Gruppe um Jesus und Jesus selber waren schon Wanderprediger in der Region um den See Genezareth gewesen. Dahlheim nennt die Jesus-Gruppe eine Wander-Prediger-Gruppe. In den ersten Jahrhunderten der Christenheit sahen sich die Anhänger des neuen Glaubens im Römischen Reich dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie nicht an den staatlichen Pflichten teilnahmen und eine Parallelwelt in den Städten bildeten. (Sie passten zu Ciceros (älterem) Diktum über Menschen, die „sich von der Gemeinschaft absondern, weil sie dazu nichts beitragen an Arbeitseifer, an Mühe und an Fähigkeiten.“ (Dahlheim 2013, S. 387).

Nicht Abgehobenheit ist das Problem, sondern Einebnung

An dieser Stelle wird deutlich, welches Ressentiment hier im Christentum am Werke ist. Es richtet sich gegen das Gesetz, gegen die staatliche Ordnung und gegen die stadtbürgerliche Seßhaftigkeit und Eigentumsordnung. Der Zeitgeist neigt zu einer Kirchenkritik, die sich gegen das Dogmatische, gegen das Hierarchische, gegen das Gebieterische richtet, das der Glaube an Gott in der Kirche annimmt. Die Kritik, die bei Friedrich Nietzsche anklingt, ist eine andere. Er wandte sich dagegen, die anspruchsvollen Höhen des Glaubens zu schleifen. Nicht die Abgehobenheit sei das Problem, sondern die Einebnung. Nicht die Anspannung ist das Übel, sondern die Entspannung. Nietzsche sah dies nicht nur als späte Tendenz im Christentum an, sondern von Anfang an in ihm angelegt und geradezu konstitutiv für das Christentum. Man muss dieser prinzipiellen Aburteilung (die leicht zur Selbst-Überhebung führt) nicht folgen, aber man sollte ihr ruhig ein bisschen zuhören.

Ich bin nicht in der Lage, dies wirklich im Rahmen einer Religionsgeschichte ausführlich darzustellen und zu belegen. Und noch weniger im Rahmen einer Theologie. Aber ich möchte hier eine veränderte Blickrichtung vorschlagen und zeigen, dass es dort etwas zu sehen gibt.

Eine solche veränderte Blickrichtung ist gegenwärtig hilfreich, wenn man auf das nun angebrochene „Lutherjahr 2017“ schaut. Eine Reihe von Publikationen zu Luther ist sichtlich bemüht, dem Publikum den Reformator als „Rebell“ oder gar „Wutbürger“ nahezubringen – und damit wieder in die Kerbe des Gegen-die-da-oben (und gegen jegliche Ordnungsmacht) zu hauen. Zugleich scheint dies der gemeinsame Nenner zu sein, auf dem sich im Lutherjahr die evangelische und die katholische anzunähern versuchen. Auch der amtierende Papst Franziskus scheint nun „luthern“ zu wollen. Er gibt sich als eine Art „Basis“-Papst und „Protestant“ gegen die Kurie in Rom.

Doch kann man mit Recht fragen, ob die oben genannten Probleme des Christentums – die Glaubwürdigkeit in der Anbetung Gottes und der Respekt vor den Leistungen der säkularen Zivilisation – gelöst werden. Oder ob sie im Gegenteil noch weiter verstärkt werden. Zeichnet sich nicht ein Christentum ab, dass eher ein Sozial-Kult des „Fremden“ ist? Eine globale Meta-Religion, die ein Patchwork aller möglichen Glaubensbruchstücke ist, und deren Gottesbild jede Kontur verloren hat? Und führt nicht genau das zu jener Wehrlosigkeit und Selbstaufgabe, die im christlichen Teil der Welt angesichts der aggressiven Radikalisierung des Islams und einer weltweiten Landnahme durch Massenmigration zu beobachten ist?

Die historische Auseinandersetzung mit der „toten Hand“

Die religiöse und säkulare Welt der Moderne ist nicht durch friedliches „Zusammenstehen“ entstanden. Sie musste in harten Kämpfen die lähmenden und zerstörerischen Bindungen aufbrechen, die wie ein nasser Sack auf ganzen Ländern lagen. Ein Beispiel kann das verdeutlichen. Der Historiker Gwyn A. Williams beschreibt in seinem Buch „Goya“ (deutsche Ausgabe Reinbek 1978) die gesellschaftliche Situation Spaniens folgendermaßen:

„Im Spanien der Volkszählung von 1797 mit seinen zehn Millionen Einwohnern betrug der Anteil der aktiven Bevölkerung magere 25%. Noch immer gab es 400.000 `Aristokraten´, und noch immer war die Ideologie des `hidalgo´ vorherrschend und fand ein breites Echo bei einem städtischen Plebs, der größtenteils noch immer in einer vorindustriellen, vorkapitalistischen Welt der Gelegenheitsarbeit, halber Bettelei und ungesicherten Handwerkertums lebte, in der die stolzierenden, pikaresken `majos´ und `majas´ die Helden stellten, für die das Leben ein Stil war, der auf Messers Schneide ausgelebt wurde. Noch immer gab es 170.000 Kleriker, 2000 Klöster, 1000 Konvente und ein nicht unansehnliches Heer von 85.000 Mönchen und Nonnen.“

Das zeugt von einem scheinaristokratisch und religiös verbrämten Passivismus, einer tiefen Lethargie. Es erinnert daran, dass das frühneuzeitliche Europa kein Verteilungsproblem hatte, sondern ein Aktivierungsproblem. In der Zeit, von der die zitierte Passage berichtet, gab es in Spanien ein geflügeltes Wort: die „tote Hand“. Damit war die Anhäufung von Besitztümern, Privilegien und Ämtern in der Hand eines künstlich aufgeblähten Klerus gemeint. Diese „tote Hand“ lähmte ganz Spanien und die aufgeklärten, bürgerlichen Kräfte (die es auch gab) versuchten in einem zähen, wechselhaften Kampf, den Griff der toten Hand auf Spanien zu lockern. Aus dieser Zeit stammt auch der Begriff der „Desarmortisation“ (in dem das Wort „mort“ = Tod enthalten ist). Es bezeichnete die Enteignung von Kirchengütern (Grundbesitz und Baulichkeiten) und ihre Überführung in produktive Nutzungen.

Ähnelt dies frühmoderne Szenario nicht auf fatale Weise unserem gegenwärtigen, postmodernen Szenario, mit seinem wuchernden Sozialstaat, seinen Eitelkeiten und Scheinhelden, seiner in den Großstädten angesammelten Bevölkerung der Prekär- oder Scheinbeschäftigungen? Ist die ganze „Flüchtlingsindustrie“ nicht ein typisches Unternehmen der toten Hand? Zeugt die ganze „Sozialdebatte“, die auf höchstem Förderungsniveau dennoch ständig neue Benachteiligungen entdeckt, nicht von einer wirtschafts- und staatsfremden „Arroganz der Erlösten“?

Eine Zwischenbilanz

Diese Trilogie über die Lage der Religion arbeitet mit zwei Leit-Unterscheidungen: Der Unterscheidung zwischen einer konstruktiven und einer destruktiven Drehrichtung der Religion. Und – innerhalb der destruktiven Drehrichtung – mit zwei Formen der Daseins-Verneinung. Unsere Gegenwart ist sehr stark vom Zusammenspiel dieser zwei Formen des religiösen Nihilismus geprägt. Die aggressive islamische Radikalisierung und die christlichen Selbstauflösung wirken als gegenseitige Verstärker und führen in einen wahren Teufelskreis. Die Verstärkung von Willkür und Terror auf der einen Seite führt auf der anderen Seite nur zu Gesten der Betroffenheit und der Unterwerfung. Und diese Gesten machen die Aggressoren noch waghalsiger, noch höhnischer und noch zahlreicher. Umso wichtiger ist es, auf die erste Unterscheidung wieder zurückzukommen und die konstruktive Drehrichtung der Religion wiederzuentdecken. Ihre Höhen müssen wieder eingenommen werden. Das bedeutet aber, dass eine dritte Unterscheidung wichtig wird: Die konstruktive Drehrichtung der Religion, die zur komplexen Architektur der Moderne gehört, trennt deutlich zwischen religiöser und säkularer Sphäre – im gegenseitigen Respekt. Damit wurde eine starke Schutzmauer gegen die Ausbreitung nihilistischer Tendenzen gesetzt, und der Bildung eines säkularen Staats-Absolutismus entgegengewirkt An dieser dritten Unterscheidung zu arbeiten, wird jetzt dringlich.

Verliert die Christdemokratie ihre staatstragende Rolle?

Unter der Kanzlerschaft Angela Merkels hat sich eine eigenartige Entwicklung vollzogen. Auf der einen Seite werden die Regierungsansprüche Deutschlands immer weitläufiger: Energiewende, Migrationsöffnung, Rettung von Schuldenstaaten, Russland-Feindschaft – bis hin zum Anspruch, die Obama-Weltpolitik zu beerben. Auf der anderen Seite zieht sich die Politik immer mehr auf das Verbale und die Mittel moralischer Beeinflussung („Werte“) zurück. Die gesetzlich-praktischen Dispositive der Republik wurden geschwächt: Grenzschutz, Wehrpflicht, eindeutige Staatsbürgerschaft, Haftungsbegrenzung der Staatshaushalts. Inzwischen wird der Bundesregierung in Gutachten bescheinigt, dass sie Verfassungspflichten verletzt. Im Agieren des Staates gegenüber der wilden Massenmigration sind gerade in den letzten Wochen katastrophalen Versäumnisse deutlich geworden. Zugleich wandelt sich die moralisch-verbale Tonlage der Merkel-CDU: Sprach sie früher noch von „Herausforderungen“, so ist jetzt das „Zusammenstehen“ das neue Leitwort. Die Regierungsrede wird also immer starrer, die Auftritte der Kanzlerin immer formelhafter.

Das alles ist mehr als eine Personalie. Das Dauerregime von Merkel ist Ausdruck einer inneren Entwicklung der Christdemokratie in Deutschland, aber auch der Christdemokratie in Europa. Die Christdemokratie hat die Bewegungen, die unter der Kanzlerin vollzogen wurden, in ihrem Inneren vollzogen. Dabei wurden Anlagen, die von Anfang an in der christlich-demokratischen Partei vorhanden waren, wirksam. Schon immer hatte die Christdemokratie ein zweideutiges, zwiespältiges Verhältnis zwischen Staatsräson und Glaubensräson. Schon immer war nicht klar, ob diese Partei im Krisenfall mit der Wehrhaftigkeit des Verfassungsstaates regieren würde oder doch auf die moralische Selbstregulierung einer „Zivilgesellschaft“ setzen würde – und auf die befriedende Wirkung des Wohlstands.

In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, in der existenziellen Krise Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg und dem Sturz des NS-Regimes, tat die christlich-demokratische Parteibildung gute Dienste. Der Rückbezug auf die Religion war hilfreich. Er lehrte Demut und gab doch Halt. Aber dieser Direktbezug auf die Religion erweist sich jetzt als unzureichend. Er wird zur Last, ja zur Falle. Vor dem Hintergrund der wiedergewonnen Souveränität Deutschlands und seines gewachsenen internationalen Gewichts fällt es dem christlich-demokratischen Bezugssystem sichtlich schwer, ein Maß (und eine Grenze) für die eigene Rolle zu finden. Ebenso fällt es ihr schwer, nun wirklich in Krisen die Hoheit eines republikanischen Staatswesens durchsetzen und seine Sanktionsmittel entschieden einzusetzen. Die Unentschiedenheit zwischen „wehrhaft“ und „zivil“ paralysiert das Handeln.

Nun wird auch deutlich, dass die Formel „christlich-demokratie“ keineswegs der Normalfall für die politische Parteibildung in modernen Zeiten ist. Die klassischen Republiken – Großbritannien, Frankreich, die USA – kennen solche Parteien nicht. Die Verbindung von Religion und Politik wird dort nicht so groß plakatiert wie in der deutschen CDU. Die Parteien, auch die konservativen Parteien, sind auf die spezifischen Möglichkeiten und Mittel des Staates bezogen. Sie definieren sich republikanisch.

So kann es sein, dass wir 2017 nicht nur im Streit um Ende oder Fortsetzung einer Kanzlerschaft stehen, sondern uns schon mitten in einer größeren tektonischen Verschiebung der politischen Landschaft befinden: Das Dauerregime der Angela Merkel wird – über kurz oder lang – zur Ablösung der christlich-demokratische Partei als Gründungs- und Führungspartei der Bundesrepublik führen. Die Staatsauflösung, die diese Kanzlerin betreibt, wird dazu führen, dass die Wiederherstellung der Staatlichkeit ohne eine führende Rolle der Christdemokratie stattfinden wird. Diese Partei hat ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Sie hat das Vertrauen, dass der christliche Direktbezug per se schon eine Schutzgarantie unsere Bundesrepublik ist, zerstört.

 

 

(unveröffentlichtes Manuskript)