Der heutige Weltmarkt wird durch Niedrigkosten-Länder in Über-Beschäftigung und Unter-Beschäftigung gespalten. Doch gibt es neben diesem „Dumping“ noch einen zweiten Verdrängungsmechanismus. (Die Neuverhandlung der Weltwirtschaft, Teil II) 

Raising rivals´ cost

Im ersten Teil dieser Artikel-Folge wurde dargestellt, wie ein unbegrenzter Welthandel dazu führen kann, dass Produktionsfaktoren (assets) in großem Maßstab außer Wert gesetzt werden und dauerhaft brachfallen. Es wurde ein bestimmter Mechanismus dargestellt, durch den die „Offenheit“ der Handelsbeziehungen einen zerstörerischen Charakter bekommen kann: Ein großes Land oder eine Ländergruppe, die mit niedrigen Löhnen und harten Umweltbelastungen leben kann, kann auf einem globalen Einheitsmarkt einen Großteil der weltweiten Produktion auf sich konzentrieren und die Produktionsfaktoren anderer Länder brachfallen lassen. Ein solcher Staubsauger-Effekt durch Unterbietung geschieht gegenwärtig durch China/Ostasien. Die zerstörerischen Wirkungen zeigen sich in den USA, und dies Beispiel der vormals führenden Industrienation der Welt deutet darauf hin, dass es um einen Vorgang von historischen Dimensionen geht. Nicht nur einzelne Branchen sind betroffen, sondern das industrielle Produzieren überhaupt. Und nicht nur den Ausgleich einer vormaligen Sonderstellung der USA handelt es sich, sondern um eine neue globale Schieflage: um eine weltweite Teilung zwischen Industrialisierung und De-Industrialisierung, zwischen Beschäftigung und Nicht-Beschäftigung der produktiven Kräfte. Vor diesem Hintergrund kann es ökonomisch vernünftig sein, ein gewisses Maß von Handelsbeschränkungen einzuführen – weil dies produktive Kräfte in weiten Teilen der Welt schützt. Das wäre auch im Sinne eines wohlverstandenen Liberalismus, weil es den Pluralismus der Nationen und Weltregionen sichert. Es genügt gegenwärtig also nicht, die Freihandelstheorie nur plakativ ins Feld zu führen. Die Lage zwingt dazu, noch einmal neu nachzudenken und sich ein umfassenderes Bild des Geschehens zu machen.

Ein zweiter Verdrängungsmechanismus

Zu diesem umfassenderen Bild gehört ein zweiter Mechanismus, durch den die „Offenheit“ eines großen Einheitsmarktes eine zerstörerische Wendung bekommt und der gegenwärtig zu beobachten ist. Beim Mechanismus 1 ging es um ein Unterbieten („Dumping“), wodurch das Preisgefüge nach unten verschoben wird und dadurch Anbieter ausgebootet werden. Beim Mechanismus 2 geht es um ein Anheben („Raising“) von Mindeststandards. Diese Form findet zunächst auf Binnenmärkten statt, wo schwächere Standorte und Landesteile buchstäblich zum Untergang gebracht werden. Ein Beispiel sind Mindestlöhne, die in Niedrigertragsbetrieben und –branchen nicht bezahlt werden können. Dieser Mechanismus kann aber auch international zur Anwendung kommen: Wenn ein Land oder eine Ländergruppe mit günstigen Bedingungen wirtschaftet, kann es Kosten tragen, die andere Länder mit schwierigeren Bedingungen nicht stemmen können. Wenn einige „wohlhabende“ Weltregionen im Welthandel hohe Mindeststandards (zum Beispiel bei Sozial- oder Umwelt-Normen) durchsetzen, können sie damit andere Standortregionen außer Funktion setzen und Konkurrenten loswerden. Man nennt diesen Verdrängungsmechanismus auch „Raising rivals´ cost“ (siehe Fußnote 1).

Ein Beispiel für die Wirkung dieses Mechanismus ist die deutsche Wiedervereinigung. Sie führte bei Normen, Preisen und Löhnen weitgehend das hochentwickelte Niveau der alten Bundesländer ein, wobei die Relationen der Währungseinheit eine wichtige Rolle spielten. Das konnten viele Betriebe in den neuen Bundesländern nicht tragen und gingen unter. Ähnliches geschah in vielen Fällen im Rahmen der EU in den Volkswirtschaften an der südlichen und östlichen Peripherie Europas. Die Übernahmepflicht aufwendiger und kostspieliger Sozial- und Umweltstandards im Namen einer „europäischen Vereinheitlichung“ belastete die dortigen Standorte – man denke nur an die „Umweltdesign-Richtlinie“ oder die „Chemie-Richtlinie“ der EU. Auch die Einführung des Euro wirkte in diese Richtung. Sie senkte zwar Kreditkosten, aber sie setzte auch die Möglichkeit außer Kraft, Schwächen bei der Entwicklung der Produktivität durch Abwertungen der Währung aufzufangen. Eine weiteren Form sind wachsende Bürokratiekosten. Die Regeln und Förderprogramme der EU sind vielfach so kompliziert, dass sie von Klein- und Mittelbetrieben (auch von vielen Kommunen oder von Forschungseinrichtungen) nicht allein bewältigt werden können. Das gilt auch für viele Regionen und Kommunen oder für Forschungseinrichtungen. Schon für die Teilnahme an Ausschreibungen brauchen sie technische und juristische Spezialisten, die sie oft weder bezahlen noch kontrollieren können.

Dieser Raising-Mechanismus führt aber auch zu Selbstblockaden. Das zeigte sich beim Scheitern des Freihandelsabkommens zwischen den USA und der EU („TTIP“). Hier haben sich zwei Hoch-Normen-Systeme gegenseitig lahmgelegt. Die Undurchschaubarkeit und der Regelungsaufwand erschienen so groß, dass die Hoffnung auf Skaleneffekte eines großen, einheitlichen Marktraums dies nicht mehr ausgleichen konnte.

Dieser Mechanismus wirkt nicht nur in Form des „Absaufen-Lassens“, sondern auch in Form des Absaugens von Arbeitskräften und Talenten. Sie werden von den bessergestellten ertragsstarken Ländern angezogen. Die schwächeren Länder verlieren ihre qualifizierten Arbeitskräfte und Talente, ihr personelles Rückrat („brain drain“) (siehe Fußnote 2). Zugleich wirkt die Durchsetzung verbindlicher Aufnahmequoten von Sozialmigranten (wie sie Deutschland betreibt) wie eine EU-weite Erhöhung der Sozialleistungen.

Schließlich noch ein Aspekt dieses Mechanismus, der oft unauffällig ist, weil er tief ins Privatleben reicht. Märkte umfassen nie alle menschlichen Aktivitäten. Sie befinden sich einem breiteren Umfeld von menschlichen Aktivitäten, die ohne Ware-Geld-Beziehungen stattfinden. Das Privatleben (die Haushalte) funktioniert nur auf einer breiten Grundlage unbezahlter, nicht geregelter Arbeit (Alltags-Verrichtungen). Die Gewinnung und Zubereitung von Nahrungsmitteln und die Gesundheitspflege sind solche Bereiche. Oft reichen sie weit in Landwirtschaft und Bauwirtschaft hinein. Sehr viele Volkswirtschaften wären ohne diese „Subsistenzwirtschaft“ gar nicht überlebensfähig. Aber durch gesteigerte Normen kann dies Selber-Machen außer Kraft gesetzt werden. Die Selbsthilfe-Kräfte können zur Untätigkeit verurteilt werden. So legt das „raising“ bei den Menschen viele Alltags-Fähigkeiten zur selbständigen Lebensführung brach. An ihre Stelle treten bestimmte, konsumtiven Dienstleistungen, insbesondere in den großen Metropolen, aber auch in den digitalen Netzen – zum Beispiel in Gestalt von Apps und Portalen wie Momondo, Lieferando und Co. Deren Produktivität ist mit der Ausschaltung vieler Erfahrungen und Fähigkeiten erkauft, mit denen sich die Menschen (und ihre Nachbarschaften) früher selbst geholfen haben.

Die beiden Mechanismen der Brachlegung

Ein unbeschränkter Welthandel kann wichtige Produktivkräfte außer Funktion setzen, hieß es am Anfang dieser Artikelserie. Die Erkenntnis dieses Problems ist dadurch etwas erschwert, weil es in zwei verschiedenen Formen auftritt, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen: Dumping und Raising – Senken und Heben. Doch wenn man beide Formen unterscheidet und im Blick hat, kann man das ganze Ausmaß des Problems erfassen. Sie sind heute beide in der Weltwirtschaft anzutreffen, manchmal auch an ein und demselben Ort. Es gibt Länder, die von beiden Mechanismen betroffen sind. Sie sind sozusagen zwischen die Mühlsteine von Dumping und Raising geraten. Ein Beispiel sind die europäischen Mittelmeerländer. In ihren Häfen liegen die Container-Schiffe mit den chinesischen Massenkonsumgütern. Und zugleich unterliegen ihre eigenen Konsumgüter-Industrien den erhöhten Normen der EU-Regulierung – und einer für ihre Verhältnisse zu starken Währung, dem Euro.

Entscheidend ist: Die Wirkung beider Mechanismen ist nicht auf die Enge von Märkten zurückzuführen, sondern sie entfalten ihre verheerende Kraft auf großen Einheitsmärkten. Denn mit der Größe des Raums wachsen die Unterschiede in den Bedingungen des Wirtschaftens – und das sowohl für die natürlichen als auch für die historischen Bedingungen. Aber die Einheitsmärkte setzen das Ungleiche gleich.

Ganz offensichtlich sind die beiden Phänomene „Brexit“ und „Trump“, soweit sie wirtschaftliche Fragen betreffen, ziemlich genau an diesen beiden Konfliktlinien entstanden. Die Trump-Mehrheit hängt zusammen mit der Besetzung amerikanischer Märkte durch chinesische (ostasiatische) und mexikanische Niedrigpreis-Industrien. Die Brexit-Mehrheit hängt zusammen mit der Hoch-Regulierung durch die bürokratische Vereinheitlichung des Brüsseler Verhandlungskartells und durch die extensiven Regulierungsansprüche des Luxemburger Europagerichts (EUgH). (siehe Fußnote 3)

Die Ordnungsalternative muss doppelt angelegt sein

Diese Situation macht Handelsbeschränkungen legitim. Sie müssen die schlechte Einheitlichkeit großer Märkte aufbrechen und es den am Welthandel teilnehmenden Ländern möglich machen, ihre jeweilige, besondere Lage zur Geltung zu bringen. Es geht also nicht um einen „Ausstieg“ aus dem Welthandel, sondern um Souveränität bei der Gestaltung der Teilnahme.

Wenn man nun davon ausgeht, dass es zwei gefährliche Mechanismen gibt und die Gefahren einer Brachlegung produktiver Kräfte von zwei Seiten drohen, muss auch die Antwort doppelt angelegt sein. Gewöhnlich denkt man bei Handelsbeschränkungen immer nur an eine Antwort: Die Einfuhr von Gütern zu Niedrigpreisen soll eingeschränkt werden, um das Preisniveau eines Binnenmarkts zu schützen. So kommt es vorzugsweise zu Importsteuern. Aber was kann man tun, wenn man sich in einem durch überhöhte Mindeststandards überteuerten Markt befindet? Dann muss man (begrenzte) Importe zu anderen, niedrigeren Normen zulassen, um den Normenzwang abzuschwächen und aufzubrechen. Dies ist mit Zollschranken nicht zu machen, sondern erfordert – soweit ich das überblicken kann – die Festlegung von Kontingenten (Obergrenzen) von Importgütern. Und wie wäre es mit folgender Pointe: Man spart sich bei Handelsabkommen zwischen verschiedenen Ländern eine detaillierte Aushandlung gemeinsamer Normen und lässt Güter des Partner-Landes nach dessen Norm in begrenzter Zahl zu. Man zeichnet sie entsprechend aus („hergestellt nach XY.Norm“) und überlässt es den Käufern, ob sie sie erwerben.

Eine Dosierung im Außenhandel muss also gar nicht zwangsläufig nur in Richtung „Abwehr“ (Protektion) ausfallen. Sie kann auch umgekehrt als „Zulassung“ eingesetzt werden. Die Dosierungsmöglichkeit muss nur da sein, damit man sie im Außenhandel einsetzen kann. Deshalb muss man sich von dem „Einheitsmarkt“, wo nur ein Alles-oder-Nichts gilt, verabschieden. Da liegt der Einsatz einer Neuverhandlung der Weltwirtschaft.

Und damit kommen wir auf die Regulierung der Migration zurück. Denn auch diese ist nicht pauschal nach einem Alles-oder-Nichts zu regeln. Auch hier brauchen wir Kontingente mit einem doppelten Charakter: Abwehr von Massenimmigration in die über lange Jahre aufgebauten Sozialsysteme eines Landes, Zulassung von Migrationskontingenten unter verschiedenen Titeln (Arbeitsmigration unterschiedlicher Dauer, eventuell auch Bevölkerungsaufbau, politisches Asyl/Kriegsflucht,). Oh, höre ich da einwenden, dieser üble Schreiberling will Menschen wie Güter behandeln. Nein, antwortet der üble Schreiberling, aber ich sehe in Gütern die Menschen mit ihren produktiven Kräften und deshalb kommt mir „der Mensch“ nicht nur in den Sinn, wenn ich einen Migranten sehe, sondern auch, wenn ich die Fabriken meines Landes sehe. (siehe Fußnote 4)

 

(bisher unveröffentlicht)

 

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Fußnoten:

1. Siehe zum Beispiel: Oliver Williamson, Wage cost as a Barrier to Entry: The Pennington Case. 85 Q. J. Econ. 16 (Feb.1968)

2. Paul Collier hat dies als akute Gefahr für die heutigen Herkunftsländer von Massenmigration analysiert (Paul Collier, Exodus – Warum wir Einwanderung neu regeln müssen, München 2014)

3. Als der britische Botschafter bei der EU, Ivan Rogers, Anfang 2017 zurücktrat, war sofort davon die Rede, dass dies für Großbritannien schwerste Konsequenzen haben würde, weil den Briten nun „one of the greatest experts“ in der komplizierten europäischen Regulation abhanden gekommen sei. Soll heißen: dass sie damit gar nicht mehr fähig wären, den EU-Austritt vernünftig auszuhandeln. (vgl. „UK has lost `one of the greatest experts´ on EU, says ex-Foreign Office chief”, Artikel in “The Guardian” am 4.1.2017)

4. Ich habe vor einem Jahr in einem Artikel (Auf meiner Webseite www.gerdheld.de unter „wordpress.gerdheld.de/wp-content/uploads/2017/01/Manuskript-2016-EU-Grundfreiheiten.pdf“) den Unterschied zwischen Freihandels-Politik und Migrations-Politik betont. Inzwischen sehe ich auf beiden Feldern die Notwendigkeit von Beschränkungen. So erscheint mir heute auch der „harte Brexit“ (Trennung zwischen GB und dem EU-Binnenmarkt) als einziger Weg, um eine transparente Neu-Aushandlung zu ermöglichen.