Das Verkehrssystem der deutschen Hauptstadt war einmal ein internationales Vorbild. Heute wirkt die Verkehrspolitik orientierungslos. Höchste Zeit, dass die Menschen Gehör finden, die auf Tempo angewiesen sind.

Das schnelle Berlin

26. November 2012

Michael Zenker (43) ist selbstständiger Zimmermeister und legt mit seinem Transporter im Jahr 24000 km zurück, das sind 15% seiner täglichen Arbeitszeit. Es gibt im Moment viel Arbeit, vor allem Dachsanierungen. “Meine Baustellen liegen überall in Berlin oder Brandenburg,“ sagt er, „das Handwerk, das nur den eigenen Kiez bedient, gibt es kaum noch.“ Wenn er morgens von seiner Wohnung am Prenzlauer Berg aufbricht, geht es zuerst zu seinem Lager in Britz und dann zum Kunden. Ein täglicher Dreiecksverkehr also. Den Standort für das Lager hat er gewählt, als er viele Kunden im Berlin Südwesten hatte, aber sein Markt ist gewandert und er kann mit Wohnung und Lager nicht immer wieder umziehen. Also müssen die Aufträge mit mehr Fahrkilometern bearbeitet werden und da wird dann die Pünktlichkeit ein ganz wichtiges und zerbrechliches Gut. Michael Zenker ist über jeden Tag froh, an dem die Fahrerei einmal ohne größere Hindernisse und Zwischenfälle abgeht.

Das könnte auch Klaus Wohnig (46) unterschreiben. Er fährt für einen ambulanten Pflegedienst mit dem Stammgebiet Neukölln/Kreuzberg. Seine Touren reichen bis nach Charlottenberg und Steglitz hinein. Bei einer Runde mit 6 Patienten sitzt er 1,5 – 2 Stunden im Auto, „es gibt auch Runden mit 10 Patienten und an manchen Tagen sind zusätzlich Einkäufe zu erledigen. 20-30% unserer Arbeitszeit sind Fahrzeit.“ Umsteigen auf Bus oder Bahn? Unvorstellbar, das würde 4-5 Stunden mehr Zeit kosten. Die Verkehrsituation ist nicht durchgängig schlecht, aber doch häufig grenzwertig. „Morgens im Berufsverkehr kann es schon mal 45 Minuten von Kreuzberg nach Charlottenburg dauern“. Die Patienten sind sehr auf ein pünktliches Eintreffen ihres Pflegedienstes angewiesen. „Manche haben Verständnis für unsere Probleme, manche auch nicht.“ Es kommt vor, dass Leistungen verschoben werden, damit bei Zeitverlusten auf der Straße die Tour überhaupt geschafft wird. „Der Pfleger will gute Arbeit machen, aber er muss immer schon an den nächsten Patienten denken.“ Auf eine weitere Ausdehnung von Tempo 30 ist Klaus Wohnig deshalb sehr schlecht zu sprechen. „Wenn alle langsamer fahren, würden die Anfahrtskosten höher und man müsste mehr Pflegeautos auf die Straße bringen. Dann würde alles noch voller.“

Geschwindigkeit ist nicht alles, aber ohne Tempo wären die langsameren Momente des Lebens gar nicht möglich. Doch hört man nicht selten die Meinung, auf unseren Straßen würde eine sinnlose Hast herrschen. In seiner Geschichte „Momo“ erfand der Kinderbuchautor Michael Ende die bösen „Zeitdiebe“ – Männer in grauen Anzügen, die mit ihren Minutenkalkulationen den großzügigen Zeitvorrat des Lebens kaputt machten. Sind unsere Zimmermeister und Pflegedienstfahrer also Zeitdiebe, wenn sie möglichst kurze Fahrzeiten wünschen? Nein, es ist umgekehrt. Ein zäher Verkehr raubt ihnen – und ihren Kunden – wertvolle Zeit. Schnelligkeit kann ein Gebot der Sorgfalt sein. Wer entschleunigen will, muss erstmal beschleunigen. Dabei kommt man um motorisierte Verkehrsmittel nicht herum. Es ist keine Marotte, dass Michael Zenker und Klaus Wohnig ihr Auto wie ihren Augapfel hüten.

Arbeit, die nicht warten kann

„Das Handwerk kann nicht auf öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad umsteigen“, sagt Daniel Jander von der Pressestelle der Berliner Handwerkskammer. 17000 der 30000 Mitgliedsbetriebe sind besonders stark auf Kraftfahrzeuge angewiesen, bei 80% sind es Kleintransporter bis 2,8t. Sie dienen, angesichts immer aufwendigerer Werkzeuge und Materialien als fahrende Werkstatt und Lager. Zugleich sind die Einsatzorte immer weiter verteilt. Wer sich spezialisiert, muss den Einzugsbereich vergrößern. „Das Handwerk ist heute viel abhängiger von einem flüssigen Straßenverkehr. Deshalb warnen wir vor weiteren Verlangsamungen.“ Daniel Jander ist froh, dass in Berlin zum 1. November ein vereinfachter „Handwerksparkausweis“ für Gebiete mit Parkraumbewirtschaftung eingeführt wird. Er kann eine ganze Reihe von Gewerben aufzählen, für die Schnelligkeit und Pünktlichkeit wichtig sind: Auf größeren Baustellen müssen strikt bestimmte Zeitfenster eingehalten werden, um den Gesamtablauf nicht durcheinander zu bringen. Aber auch der private Hausbesitzer, der sich extra frei nimmt, muss sich darauf verlassen können, dass der Dachdecker pünktlich kommt. Ein besonders wichtiges Rädchen im Großstadtgetriebe sind die sogenannten SHK-Handwerker: Sanitär, Heizung, Klima – da muss bei Ausfällen schnell reagiert werden, sonst können unter Umständen immense Schäden eintreten. Auch das Elektro-Handwerk hat heute hochmobile Schnelldienste, die dafür sorgen müssen, dass die Berliner Stadtmaschine reibungslos läuft.

Es ist vor allem die Zunahme von Dienstleistungen, die ein neues Tempobewusstsein mit sich bringt. Natürlich musste auch früher schnell gearbeitet werden, aber das geschah überwiegend im Innern von Fabrikhallen, Kaufhäusern und Großbüros. Heute haben sich viele Arbeitsgänge zu eigenen Diensten entwickelt, die sich von Einsatzort zu Einsatzort bewegen. Diese „Externalisierung“ führt dazu, dass viele Gewerbe und Berufe in wachsenden Umfang mobil sein müssen. Das Gesundheitswesen zum Beispiel, mit ihren Kurierdiensten für Arzneimittel, Dentallabor-Produkten, Blutkonserven, mit ihren Rettungsdiensten, ärztlichen Bereitschaftsdiensten und dem Großbereich der ambulanten Pflege. Aber auch im Bereich „Essen und Trinken“, wo das Catering, der Getränkenotdienst, der Bio-Bringeservice und viele andere Geschäftsideen am Start sind, wird die Qualität der Lieferung wesentlich durch die Fahrzeit beeinflusst. Der Klassiker ist natürlich der Pizza-Service. Die Firma Joey´s Pizza ist mit bundesweit 5000 Mitarbeitern und täglich 32000 ausgelieferten Gerichten eine der Branchen-Großen in Deutschland. „Eine Joey´s Pizza soll spätestens 30 Minuten nach der Bestellung beim Kunden sein“, erklärt Katja Latuske von der Marketing-Abteilung, „Von dieser Vorgabe hängen Zuschnitt und Auswahl des Liefergebiets ab“. Im Durchschnitt wird ein Drittel der Zeit für die Zubereitung von Pizza oder Salat aufgewendet und zwei Drittel für den Weg zum Kunden. Auch bei den Beschäftigten sind zwei Drittel als Fahrer beschäftigt. Die Situation im Straßenverkehr ist für das Unternehmen existenziell. Es steht vor einer Raum-Zeit-Zwickmühle: Das Liefergebiet muss groß genug sein, damit der Kundenkreis das Geschäft tragen kann, und es muss doch so klein gehalten werden, das jede Pizza knusprig beim Kunden ankommt.

Ein weiterer Großtrend kommt hinzu. Viele Menschen wählen eine Wohnung am Stadtrand, weil sie die grüne Umgebung wünschen. Oder weil sie den teuren Mieten der Innenstadt ausweichen wollen. Beiden Faktoren dehnen die großen Städte aus und diese Ausdehnung muss durch mehr Verkehr bewältigt werden. Die Bevölkerungszahl mag sinken, aber die heutigen Lebensgewohnheiten erzeugen neuen Verkehr und gleichen die Rückgänge mehr als aus. Die Statistiken sind da stur: Menschen und Güter legen immer mehr Kilometer zurück und zwei Drittel davon werden motorisiert erbracht. In Berlin sind es, sehr grob gerechnet, an jedem Tag 100 Millionen Kilometer, die von Menschen und Gütern motorisiert mit privaten und öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden. Eine gewaltige Zahl. Wenn man eine allgemeine Durchschnittsgeschwindigkeit von 25 km/h ansetzt, werden für diese tägliche Fahrleistung 4 Millionen Stunden aufgewendet. Würde die Geschwindigkeit nur um 1 km/h sinken, wäre ein Mehraufwand von 166000 Stunden fällig – jeden Tag. Es ist daher alles andere als gleichgültig, wie schnell oder langsam die Berliner Straßen (und Schienen) sind.

Was heißt eigentlich „schnell“?

Schnelligkeit ist ein hohes Gut, doch was heißt eigentlich „schnell“? Nicht nur die Spitzengeschwindigkeit gibt den Ausschlag, sondern auch die Gleichmäßigkeit der Bewegung. „Auf die Flüssigkeit des Verkehrs kommt es an“, sagt Professor Dietrich Henckel vom Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin, „Wenn eine hohe Geschwindigkeit immer wieder durch Bremsen unterbrochen wird, kann das am Ende mehr Zeit und Nerven kosten. Es zwingt auch zu größeren Abständen zwischen Fahrzeugen und das führt zu mehr Staus.“ Aber natürlich gilt immer noch das Grundgesetz der Strömungsphysik, nach dem die schnellere Leitung mehr Elemente bewältigt. Eine breitere, gerade Vorfahrtsstraße bewegt eine Fahrzeugzahl, die auf Nebenstraßen schon zum Stau führt. Bei der Schnelligkeit kommt es also auf zwei Dinge an – auf ein hohes Niveau, das aber noch Stetigkeit erlaubt. „Zügigkeit“ ist das Schlüsselwort.

Es ist deshalb irreführend, sich die Schnelligkeit der modernen Großstadt nach dem Vorbild der Feuerwehr vorzustellen, die mit Blaulicht durch die Stadt jagen muss, um Menschenleben zu retten. Sie ist nur ein Extrem. Die Gesamtgeschwindigkeit einer Stadt wird viel stärker durch andere Taktgeber bestimmt: Zum Beispiel durch die beruflichen Vielfahrer und durch die mobilen Dienste. Das kann Ardavan Ershad (68) bestätigen. Er hat lange Jahre in Berlin Taxi gefahren und auch Taxifahrer ausgebildet. „Als professioneller Fahrer bist Du nicht immer am Drängeln“, sagt er. Bei seinen Fahrgästen hat er beobachtet, dass nur 10% es extrem eilig haben und „unter Strom stehen“. Die anderen Kunden sind gelassener. Doch wenn das Taxi auf den großzügigen Berliner Hauptstraßen in langsamen Kolonnen steckt, wächst auch bei ihnen die Anspannung. Über das Durchschnittstempo einer Stadt wird nicht im einzelnen Kiez entschieden, sondern im gesamtstädtischen Verbindungsnetz. Für die Straße ist hier das Tempolimit von 50 km/h ein solides Zivilisationsmaß. Dazu hat sich heute auch das Tempo-30-Maß eingebürgert – auf Nebenstraßen.

Einen Sinn für Geschwindigkeit gibt es auch bei den Fußgängern. Der Schritt, den die berufstätigen Berliner frühmorgens auf dem Weg zur Arbeit gehen, ist viel schneller als der Schritt, den man am späteren Morgen vor den Läden im Kiez antrifft. Aber der professionelle Fußgänger hastet nicht atemlos durch die Straßen, sein Vorbild ist nicht „Lola rennt“. Er hat seinen zielbewussten Schritt und ärgert sich, wenn herumstehende Leute den ganzen Bürgersteig versperren. Er zählt auch darauf, dass auf den S-Bahn-Rolltreppen die Langsamen die linke Seite für die Eiligen freilassen – auch das ist ein metropolitanes Zivilisationsmaß, das dem Zugereisten mit knappem, bisweilen ruppigem Ton beigebracht wird.

Das schnelle Berlin hat viele Facetten. Es besteht aus vielen verschiedenen Geschwindigkeiten, die alle ihren spezifischen Platz haben. Nicht ein einziger monotoner Takt hämmert durch die Stadt, sondern ein aus den verschiedensten Takten zusammengesetzter, immer wieder wechselnder Rhythmus. Wer an ihm teilhaben will, muss sich auch in die Nöte eines anderen Verkehrsteilnehmers hineinversetzen können. Wer auf vierspurigen Straßen beschleunigt, kann trotzdem das Tempo 30 auf Nebenstraßen schätzen. Wer an den notorischen Ausfällen der S-Bahn leidet, müsste sich auch in die Nöte des staugeplagten Autofahrers hineinversetzen können. Das schnelle Berlin könnte ein großes Bündnis sein. Aber so ist es nicht.

Eine ausgedehnte Stadt wie Berlin lebt von schnellen Verkehrsachsen

„Man soll uns das Leben nicht immer komplizierter machen“ sagt der Zimmermeister Zenker. Damit drückt er ein Gefühl vieler Berliner aus, die den Eindruck haben, dass ihre Bedürfnisse von der Verkehrspolitik nicht mehr ernstgenommen werden. Dabei geht es nicht nur um die eklatanten Fehlleistungen bei Großthemen wie der S-Bahn und dem Flughafen-Neubau, sondern auch um die vielen, oft nur träge betriebenen Baustellen, um die unaufhaltsame Zunahme der Schlaglöcher und immer kompliziertere, unfallträchtige Verkehrsregelungen. Zudem scheinen sich Verkehrspolitik, Wissenschaft und Medien mehr mit Visionen „E-Mobil-Hauptstadt“ und „Fahrrad-Metropole“ zu befassen, ohne dass die Leistungsprobleme solcher Träger auch nur ansatzweise gelöst wären. So drängt sich ein Verdacht auf, auch wenn ihn niemand laut ausspricht: der Verdacht, dass die Politik überhaupt das Bewusstsein für die Zeitknappheiten einer Metropole verloren hat. Das schnelle Berlin existiert für sie gar nicht mehr.

Dabei ist die deutsche Hauptstadt in ihrer Grundanlage wahrscheinlich eine der schnellsten europäischen Metropolen. „Es fährt sich eigentlich gut Taxi in Berlin“, sagt der Taxifahrer Ershad, wenn er an die großzügig bemessenen Verkehrsadern denkt. In den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts erlebten diese Adern ihre erste Bewährungsprobe. Sie waren die nötige Ergänzung des ins Umland erweiterten „Groß-Berlin“. Die großen Straßen vermittelten, zusammen mit der starken Präsenz der Schienenwege, auch ein neues, faszinierendes Stadtgefühl, wie es anderswo in Deutschland nicht zu finden war. In unserer Zeit ist die Weiträumigkeit mit ihren vielen Zentren ein Trumpf. Wenn alles in die Stadtmitte drängt, ist eine entspannte Vielfalt auf Dauer nicht haltbar. Ein weiträumiges Berlin aber braucht für seinen Zusammenhalt schnelle Verkehrswege. Es muss sein Tempo nicht schamhaft verbergen, auch nicht seine Automobile. Die Politik muss endlich wieder begreifen, dass die vielen Menschen, die beim Arbeiten und Leben das Auto benutzten, für den Zusammenhalt der Stadt unterwegs sind.

(erschienen als Reportage in den Tageszeitungen „Die Welt“ und „Berliner Morgenpost“ am 26.11.2012)

Das Verkehrssystem der deutschen Hauptstadt war einmal ein internationales Vorbild. Heute wirkt die Verkehrspolitik orientierungslos. Höchste Zeit, dass die Menschen Gehör finden, die auf Tempo angewiesen sind.

Das schnelle Berlin

26. November 2012


 

Michael Zenker (43) ist selbstständiger Zimmermeister und legt mit seinem Transporter im Jahr 24000 km zurück, das sind 15% seiner täglichen Arbeitszeit. Es gibt im Moment viel Arbeit, vor allem Dachsanierungen. “Meine Baustellen liegen überall in Berlin oder Brandenburg,“ sagt er, „das Handwerk, das nur den eigenen Kiez bedient, gibt es kaum noch.“ Wenn er morgens von seiner Wohnung am Prenzlauer Berg aufbricht, geht es zuerst zu seinem Lager in Britz und dann zum Kunden. Ein täglicher Dreiecksverkehr also. Den Standort für das Lager hat er gewählt, als er viele Kunden im Berlin Südwesten hatte, aber sein Markt ist gewandert und er kann mit Wohnung und Lager nicht immer wieder umziehen. Also müssen die Aufträge mit mehr Fahrkilometern bearbeitet werden und da wird dann die Pünktlichkeit ein ganz wichtiges und zerbrechliches Gut.  Michael Zenker ist über jeden Tag froh, an dem die Fahrerei einmal ohne größere Hindernisse und Zwischenfälle abgeht.

   Das könnte auch Klaus Wohnig (46) unterschreiben. Er fährt für einen ambulanten Pflegedienst mit dem Stammgebiet Neukölln/Kreuzberg. Seine Touren reichen bis nach Charlottenberg und Steglitz hinein. Bei einer Runde mit 6 Patienten sitzt er 1,5 – 2 Stunden im Auto, „es gibt auch Runden mit 10 Patienten und an manchen Tagen sind zusätzlich Einkäufe zu erledigen. 20-30% unserer Arbeitszeit sind Fahrzeit.“ Umsteigen auf Bus oder Bahn? Unvorstellbar, das würde 4-5 Stunden mehr Zeit kosten. Die Verkehrsituation ist nicht durchgängig schlecht, aber doch häufig grenzwertig. „Morgens im Berufsverkehr kann es schon mal 45 Minuten von Kreuzberg nach Charlottenburg dauern“. Die Patienten sind sehr auf ein pünktliches Eintreffen ihres Pflegedienstes angewiesen. „Manche haben Verständnis für unsere Probleme, manche auch nicht.“ Es kommt vor, dass Leistungen verschoben werden, damit bei Zeitverlusten auf der Straße die Tour überhaupt geschafft wird. „Der Pfleger will gute Arbeit machen, aber er muss immer schon an den nächsten Patienten denken.“ Auf eine weitere Ausdehnung von Tempo 30 ist Klaus Wohnig deshalb sehr schlecht zu sprechen. „Wenn alle langsamer fahren, würden die Anfahrtskosten höher und man müsste mehr Pflegeautos auf die Straße bringen. Dann würde alles noch voller.“

   Geschwindigkeit ist nicht alles, aber ohne Tempo wären die langsameren Momente des Lebens gar nicht möglich. Doch hört man nicht selten die Meinung, auf unseren Straßen würde eine sinnlose Hast herrschen. In seiner Geschichte „Momo“ erfand der Kinderbuchautor Michael Ende die bösen „Zeitdiebe“ – Männer in grauen Anzügen, die mit ihren Minutenkalkulationen den großzügigen Zeitvorrat des Lebens kaputt machten. Sind unsere Zimmermeister und Pflegedienstfahrer also Zeitdiebe, wenn sie möglichst kurze Fahrzeiten wünschen? Nein, es ist umgekehrt. Ein zäher Verkehr raubt ihnen – und ihren Kunden – wertvolle Zeit. Schnelligkeit kann ein Gebot der Sorgfalt sein. Wer entschleunigen will, muss erstmal beschleunigen. Dabei kommt man um motorisierte Verkehrsmittel nicht herum. Es ist keine Marotte, dass Michael Zenker und Klaus Wohnig ihr Auto wie ihren Augapfel hüten.

Arbeit, die nicht warten kann   

   „Das Handwerk kann nicht auf öffentliche Verkehrsmittel oder das Fahrrad umsteigen“, sagt Daniel Jander von der Pressestelle der Berliner Handwerkskammer. 17000 der 30000 Mitgliedsbetriebe sind besonders stark auf Kraftfahrzeuge angewiesen, bei 80% sind es Kleintransporter bis 2,8t. Sie dienen, angesichts immer aufwendigerer Werkzeuge und Materialien als fahrende Werkstatt und Lager. Zugleich sind die Einsatzorte immer weiter verteilt. Wer sich spezialisiert, muss den Einzugsbereich vergrößern. „Das Handwerk ist heute viel abhängiger von einem flüssigen Straßenverkehr. Deshalb warnen wir vor weiteren Verlangsamungen.“ Daniel Jander ist froh, dass in Berlin zum 1. November ein vereinfachter „Handwerksparkausweis“ für Gebiete mit Parkraumbewirtschaftung eingeführt wird. Er kann eine ganze Reihe von Gewerben aufzählen, für die Schnelligkeit und Pünktlichkeit wichtig sind: Auf größeren Baustellen müssen strikt bestimmte Zeitfenster eingehalten werden, um den Gesamtablauf nicht durcheinander zu bringen. Aber auch der private Hausbesitzer, der sich extra frei nimmt, muss sich darauf verlassen können, dass der Dachdecker pünktlich kommt. Ein besonders wichtiges Rädchen im Großstadtgetriebe sind die sogenannten SHK-Handwerker: Sanitär, Heizung, Klima – da muss bei Ausfällen schnell reagiert werden, sonst können unter Umständen immense Schäden eintreten. Auch das Elektro-Handwerk hat heute hochmobile Schnelldienste, die dafür sorgen müssen, dass die Berliner Stadtmaschine reibungslos läuft.

   Es ist vor allem die Zunahme von Dienstleistungen, die ein neues Tempobewusstsein mit sich bringt. Natürlich musste auch früher schnell gearbeitet werden, aber das geschah überwiegend im Innern von Fabrikhallen, Kaufhäusern und Großbüros. Heute haben sich viele Arbeitsgänge zu eigenen Diensten entwickelt, die sich von Einsatzort zu Einsatzort bewegen. Diese „Externalisierung“ führt dazu, dass viele Gewerbe und Berufe in wachsenden Umfang mobil sein müssen. Das Gesundheitswesen zum Beispiel, mit ihren Kurierdiensten für Arzneimittel, Dentallabor-Produkten, Blutkonserven, mit ihren Rettungsdiensten, ärztlichen Bereitschaftsdiensten und dem Großbereich der ambulanten Pflege. Aber auch im Bereich „Essen und Trinken“, wo das Catering, der Getränkenotdienst, der Bio-Bringeservice und viele andere Geschäftsideen am Start sind, wird die Qualität der Lieferung wesentlich durch die Fahrzeit beeinflusst. Der Klassiker ist natürlich der Pizza-Service. Die Firma Joey´s Pizza ist mit bundesweit 5000 Mitarbeitern und täglich 32000 ausgelieferten Gerichten eine der Branchen-Großen in Deutschland. „Eine Joey´s Pizza soll spätestens 30 Minuten nach der Bestellung beim Kunden sein“, erklärt Katja Latuske von der Marketing-Abteilung, „Von dieser Vorgabe hängen Zuschnitt und Auswahl des Liefergebiets ab“. Im Durchschnitt wird ein Drittel der Zeit für die Zubereitung von Pizza oder Salat aufgewendet und zwei Drittel für den Weg zum Kunden. Auch bei den Beschäftigten sind zwei Drittel als Fahrer beschäftigt. Die Situation im Straßenverkehr ist für das Unternehmen existenziell. Es steht vor einer Raum-Zeit-Zwickmühle: Das Liefergebiet muss groß genug sein, damit der Kundenkreis das Geschäft tragen kann, und es muss doch so klein gehalten werden, das jede Pizza knusprig beim Kunden ankommt.

   Ein weiterer Großtrend kommt hinzu. Viele Menschen wählen eine Wohnung am Stadtrand, weil sie die grüne Umgebung wünschen. Oder weil sie den teuren Mieten der Innenstadt ausweichen wollen. Beiden Faktoren dehnen die großen Städte aus und diese Ausdehnung muss durch mehr Verkehr bewältigt werden. Die Bevölkerungszahl mag sinken, aber die heutigen Lebensgewohnheiten erzeugen neuen Verkehr und gleichen die Rückgänge mehr als aus. Die Statistiken sind da stur: Menschen und Güter legen immer mehr Kilometer zurück und zwei Drittel davon werden motorisiert erbracht. In Berlin sind es, sehr grob gerechnet, an jedem Tag 100 Millionen Kilometer, die von Menschen und Gütern motorisiert mit privaten und öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden. Eine gewaltige Zahl. Wenn man eine allgemeine Durchschnittsgeschwindigkeit von 25 km/h ansetzt, werden für diese tägliche Fahrleistung 4 Millionen Stunden aufgewendet. Würde die Geschwindigkeit nur um 1 km/h sinken, wäre ein Mehraufwand von 166000 Stunden fällig – jeden Tag. Es ist daher alles andere als gleichgültig, wie schnell oder langsam die Berliner Straßen (und Schienen) sind.

Was heißt eigentlich „schnell“?

   Schnelligkeit ist ein hohes Gut, doch was heißt eigentlich „schnell“? Nicht nur die Spitzengeschwindigkeit gibt den Ausschlag, sondern auch die Gleichmäßigkeit der Bewegung. „Auf die Flüssigkeit des Verkehrs kommt es an“, sagt Professor Dietrich Henckel vom Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin, „Wenn eine hohe Geschwindigkeit immer wieder durch Bremsen unterbrochen wird, kann das am Ende mehr Zeit und Nerven kosten. Es zwingt auch zu größeren Abständen zwischen Fahrzeugen und das führt zu mehr Staus.“ Aber natürlich gilt immer noch das Grundgesetz der Strömungsphysik, nach dem die schnellere Leitung mehr Elemente bewältigt. Eine breitere, gerade Vorfahrtsstraße bewegt eine Fahrzeugzahl, die auf Nebenstraßen schon zum Stau führt. Bei der Schnelligkeit kommt es also auf zwei Dinge an – auf ein hohes Niveau, das aber noch Stetigkeit erlaubt. „Zügigkeit“ ist das Schlüsselwort.

   Es ist deshalb irreführend, sich die Schnelligkeit der modernen Großstadt nach dem Vorbild der Feuerwehr vorzustellen, die mit Blaulicht durch die Stadt jagen muss, um Menschenleben zu retten. Sie ist nur ein Extrem. Die Gesamtgeschwindigkeit einer Stadt wird viel stärker durch andere Taktgeber bestimmt: Zum Beispiel durch die beruflichen Vielfahrer und durch die mobilen Dienste. Das kann Ardavan Ershad (68) bestätigen. Er hat lange Jahre in Berlin Taxi gefahren und auch Taxifahrer ausgebildet. „Als professioneller Fahrer bist Du nicht immer am Drängeln“, sagt er. Bei seinen Fahrgästen hat er beobachtet, dass nur 10% es extrem eilig haben und „unter Strom stehen“. Die anderen Kunden sind gelassener. Doch wenn das Taxi auf den großzügigen Berliner Hauptstraßen in langsamen Kolonnen steckt, wächst auch bei ihnen die Anspannung. Über das Durchschnittstempo einer Stadt wird nicht im einzelnen Kiez entschieden, sondern im gesamtstädtischen Verbindungsnetz. Für die Straße ist hier das Tempolimit von 50 km/h ein solides Zivilisationsmaß. Dazu hat sich heute auch das Tempo-30-Maß eingebürgert – auf Nebenstraßen.

   Einen Sinn für Geschwindigkeit gibt es auch bei den Fußgängern. Der Schritt, den die berufstätigen Berliner frühmorgens auf dem Weg zur Arbeit gehen, ist viel schneller als der Schritt, den man am späteren Morgen vor den Läden im Kiez antrifft. Aber der professionelle Fußgänger hastet nicht atemlos durch die Straßen, sein Vorbild ist nicht „Lola rennt“. Er hat seinen zielbewussten Schritt und ärgert sich, wenn herumstehende Leute den ganzen Bürgersteig versperren. Er zählt auch darauf, dass auf den S-Bahn-Rolltreppen die Langsamen die linke Seite für die Eiligen freilassen – auch das ist ein metropolitanes Zivilisationsmaß, das dem Zugereisten mit knappem, bisweilen ruppigem Ton beigebracht wird.

   Das schnelle Berlin hat viele Facetten. Es besteht aus vielen verschiedenen Geschwindigkeiten, die alle ihren spezifischen Platz haben. Nicht ein einziger monotoner Takt hämmert durch die Stadt, sondern ein aus den verschiedensten Takten zusammengesetzter, immer wieder wechselnder Rhythmus. Wer an ihm teilhaben will, muss sich auch in die Nöte eines anderen Verkehrsteilnehmers hineinversetzen können. Wer auf vierspurigen Straßen beschleunigt, kann trotzdem das Tempo 30 auf Nebenstraßen schätzen. Wer an den notorischen Ausfällen der S-Bahn leidet, müsste sich auch in die Nöte des staugeplagten Autofahrers hineinversetzen können. Das schnelle Berlin könnte ein großes Bündnis sein. Aber so ist es nicht. 

Eine ausgedehnte Stadt wie Berlin lebt von schnellen Verkehrsachsen

   „Man soll uns das Leben nicht immer komplizierter machen“ sagt der Zimmermeister Zenker. Damit drückt er ein Gefühl vieler Berliner aus, die den Eindruck haben, dass ihre Bedürfnisse von der Verkehrspolitik nicht mehr ernstgenommen werden. Dabei geht es nicht nur um die eklatanten Fehlleistungen bei Großthemen wie der S-Bahn und dem Flughafen-Neubau, sondern auch um die vielen, oft nur träge betriebenen Baustellen, um die unaufhaltsame Zunahme der Schlaglöcher und immer kompliziertere, unfallträchtige Verkehrsregelungen. Zudem scheinen sich Verkehrspolitik, Wissenschaft und Medien mehr mit Visionen „E-Mobil-Hauptstadt“ und „Fahrrad-Metropole“ zu befassen, ohne dass die Leistungsprobleme solcher Träger auch nur ansatzweise gelöst wären. So drängt sich ein Verdacht auf, auch wenn ihn niemand laut ausspricht: der Verdacht, dass die Politik überhaupt das Bewusstsein für die Zeitknappheiten einer Metropole verloren hat. Das schnelle Berlin existiert für sie gar nicht mehr.

   Dabei ist die deutsche Hauptstadt in ihrer Grundanlage wahrscheinlich eine der schnellsten europäischen Metropolen. „Es fährt sich eigentlich gut Taxi in Berlin“, sagt der Taxifahrer Ershad, wenn er an die großzügig bemessenen Verkehrsadern denkt. In den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts erlebten diese Adern ihre erste Bewährungsprobe. Sie waren die nötige Ergänzung des ins Umland erweiterten „Groß-Berlin“. Die großen Straßen vermittelten, zusammen mit der starken Präsenz der Schienenwege, auch ein neues, faszinierendes Stadtgefühl, wie es anderswo in Deutschland nicht zu finden war. In unserer Zeit ist die Weiträumigkeit mit ihren vielen Zentren ein Trumpf. Wenn alles in die Stadtmitte drängt, ist eine entspannte Vielfalt auf Dauer nicht haltbar. Ein weiträumiges Berlin aber braucht für seinen Zusammenhalt schnelle Verkehrswege. Es muss sein Tempo nicht schamhaft verbergen, auch nicht seine Automobile. Die Politik muss endlich wieder begreifen, dass die vielen Menschen, die beim Arbeiten und Leben das Auto benutzten, für den Zusammenhalt der Stadt unterwegs sind.

 

 

(erschienen als Reportage in den Tageszeitungen „Die Welt“ und „Berliner Morgenpost“ am 26.11.2012)