Die Ereignisse beim G20-Gipfel in Hamburg sind viel zu schnell als Betriebsunfall zu den Akten gelegt worden. Aber hier ist deutlich geworden, dass sich der Rechtsstaat in Deutschland in einem Zerfallsprozess befindet.
Die Parallel-Mächte
4. August 2017
Die Unsicherheit über die „entfesselte“ Gewalt, die mehrere Tage lang die zweitgrößte Stadt der Republik in Bann hielt, ist tief. Aber woher rührt eigentlich diese Unsicherheit? Kommt sie wirklich von der Heftigkeit der Gewalt? Nein, sie ist entstanden, weil hier ein Zerfall sichtbar wurde. Das Gewaltmonopol des Staates konnte sich nicht behaupten, der Landfrieden war tagelang außer Kraft gesetzt. Damit verlor das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft seine Verlässlichkeit. Der Schutzvertrag, der diesem Verhältnis zugrunde liegt, wurde nicht mehr erfüllt. Da dies nicht einmal ehrlich ausgesprochen wird, kann die Verlässlichkeit auch nicht wiederhergestellt werden. Die Gewalt-Willkür steht nun als dauernde Drohung vor der Stadt – und vor der ganzen Republik.
Es ist wichtig, sich die Ereignisse noch einmal als Ganzes vor Augen zu führen. Es ist tatsächlich etwas Ungeheuerliches geschehen. Denn es wurde – unter dem Deckmantel des Demonstrationsrechtes – eine Massenversammlung zugelassen, deren ausdrückliches Ziel es war, eine internationale Regierungskonferenz zu verhindern oder zumindest stark zu beschädigen. Die Routen der „Demonstrationen“ waren darauf ebenso angelegt wie ihre Dauer und die Logistik mit festen „Camps“. Das alles kann nur als eine Belagerung charakterisiert werden. Hier sollte nicht eine öffentliche Kundgebung stattfinden, sondern es wurde der Landfrieden aufgekündigt. Nicht nur in Einzeltaten wurde das Gesetz gebrochen, sondern in der Gesamtanlage. Diese Belagerung wurde von zahlreichen Akteuren, die im Namen der „Zivilgesellschaft“ auftraten, als legitim angesehen. Und es wurde teilweise von staatlichen Institutionen zugelassen – von Verwaltungsbehörden der Hansestadt und von Verwaltungsgerichten, die die Genehmigungsauflagen noch einmal ganz wesentlich schwächten. Das geschah in systematischer Verkennung der vorliegenden Aufrufe, der sichtbaren Vorbereitungen und der vorliegenden Erfahrungen mit ähnlichen Ereignisse in anderen Städten.
Aber die jetzige „Aufarbeitung“ will von diesem Gesamtcharakter der Hamburger Gewalttage nichts wissen. Von einer kritischen Revision der Verwaltungsentscheidungen und Gerichtsurteile ist nichts zu hören. Wenn aber etwas, das in einer wehrhaften Republik ein wahrhafter GAU wäre, so geflissentlich verniedlicht wird, lässt das ein fundamentales Problem der heutigen „Politik“ erahnen: Könnte es sein, dass sich diese Politik grundsätzlich vom Gewaltmonopol des Staates und seinem Schutzvertrag mit der Gesellschaft verabschiedet hat? Herrscht nun eine „Politik ohne Staat“, in der alles aushandelbar ist? Will man Deutschland daran gewöhnen, dass Belagerungen zur Normalität eines „offenen Landes“ gehören? Gewiss wird keine Regierung und kein Gericht das ausdrücklich sagen, aber praktisch wird so gehandelt. Es findet eine Entwertung zentraler Rechtsgüter statt. Und eine schleichende Umorganisation der Gewaltenteilung. Verschiedene Parallel-Mächte tauchen auf, die sich anmaßen, jeweils ihr eigenes Gesetz zu machen.
Über den Landfriedensbruch
Wie weit diese Entwertung zentraler Rechtsgüter geht, lässt sich an einem Gegenstand zeigen: dem „Landfriedensbruch“. Der „Landfrieden“ ist kein individuelles Rechtsgut, sondern ein von allen Bürgern gemeinsam geteiltes Gut, das mit dem Gewaltmonopol des Staates untrennbar verbunden ist. In einem Land, das in seiner Geschichte mehrfach von Zerfall und Bürgerkrieg heimgesucht war, liegt es nahe, dies Rechtsgut besonders zu schätzen. Der § 125 (Landfriedensbruch) des Strafgesetzbuches lautet im Absatz 1:
„Wer sich an
1. Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen, oder
2. Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit,
die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden, als Täter oder Teilnehmer beteiligt oder wer auf die Menschenmenge einwirkt, um ihre Bereitschaft zu solchen Handlungen zu fördern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
Das ist umfassend und eindeutig: Es geht um Menschen oder Sachen; um Gewalttätigkeiten oder die Bedrohung mit Gewalttätigkeiten; um die Beteiligung an Handlungen als Täter oder als Teilnehmer aus einer Menschenmenge heraus; und um die Aufwiegelung einer Menschenmenge zu solchen Handlungen. Schon damit sind zahlreiche Vorgänge während der Hamburger Gewalttage und in ihrem Vorfeld erfasst. Zusätzlich führt der § 125a folgende „besonders schwere Fälle des Landfriedensbruchs“ auf:
„Wenn der Täter 1. Eine Schusswaffe bei sich führt, 2. Eine andere Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führt, 3. Durch eine Gewalttätigkeit einen anderen in die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung bringt, oder 4. Plündert oder bedeutenden Schaden an fremden Sachen anrichtet.“
Diese vier Tatbestände des schweren Landfriedensbruchs gehören zu den Tatbeständen, die nach § 116 strafbar sind, wenn sie als Drohung eingesetzt werden. In diesem Zusammenhang muss auch an die „Nötigung von Verfassungsorganen“ erinnert werden (§ 105 StGB):
„Wer (1) ein Gesetzgebungsorgan des Bundes oder eines Landes oder einen seiner Ausschüsse, oder (2) die Bundesversammlung oder einen ihrer Ausschüsse oder (3) die Regierung oder das Verfassungsgericht des Bundes oder eines Landes rechtswidrig mit Gewalt oder durch Bedrohung mit Gewalt nötigt, ihre Befugnisse nicht oder in einem bestimmten Sinne auszuüben, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu 10 Jahren bestraft.“
So hat der bekannte Verleger Jakob Augstein anlässlich des G20-Gipfels via Twitter erklärt, es gehe darum, durch Aktionen den Preis so „hochzutreiben“, dass in Zukunft niemand mehr eine große internationale Konferenz in Hamburg durchführen wolle. Das kann man als Drohung mit schwerem Landfriedensbruch und als Aufforderung zur Nötigung von Verfassungsorganen einstufen.
Die Umwertung der Rechtsgüter
Ist der Bruch des Landfriedens nur eine Frage der Interpretation? Eine reine Ermessensfrage von Verwaltung und Gerichten? Der Wortlaut der Gesetze ist durchaus präzise. Er bietet eigentlich keine großen Interpretationsspielräume. Dabei sollte man bedenken, dass hinter dem schriftlich fixierten Wortlaut der Gesetzgeber (das Parlament) steht. Die Macht einer demokratischen Legislative fußt letztlich auf der begrifflichen Präzision, von der die Bindungskraft für die anderen Teile des Rechtsstaates (Exekutive und Judikative) abhängt. Die Eindeutigkeit der Gesetze ist auch der Anhaltspunkt, auf den das wählende Volk für sein Urteil und seine Wahl des Parlaments angewiesen ist. Doch gibt es eine Möglichkeit, Gesetze noch auf andere Weise auszuhebeln. Man nimmt keine Uminterpretation vor, sondern eine Umwertung: Man wägt zwischen den verschiedenen Rechtsgütern anders ab. Einige Güter werden für vorrangig erklärt, während andere auf den zweiten Rang zurückgesetzt werden. Dieser Vorgang kann die Absicht des demokratischen Gesetzgebers unter Umständen völlig durchkreuzen.
Das ist hier offenbar geschehen. Die oben zitierten Gesetze wurden nicht wirklich ernst genommen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8. Juli 2017) findet sich folgende Erklärung, warum in Hamburg die Vorbereitung und die Logistik der Gewaltaktionen so weitgehend toleriert wurden: „Das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder hervorgehoben, dass der Versammlungsfreiheit aus Artikel 8 des Grundgesetzes in einer Demokratie besondere Bedeutung zukommt. Jeder Deutsche habe das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Von vornherein aufgelöst werden kann eine Versammlung nur, wenn andere gleichwertige Rechtsgüter bedroht sind – und das auch nur als Ultima Ratio, wenn Auflagen oder andere Maßnahmen also nicht weiterhelfen.“
Hier geschieht eine erstaunliche Relativierung des Landfriedens. Die Versammlungsfreiheit wird zum zentralen Rechtsgut erklärt, vor dem andere Rechtsgüter zurückstehen müssen. Es gibt zahlreiche Erfahrungen, dass aus der Menge, die Demonstrationen bilden, jene Handlungen verübt werden, die als (schwerer) Landfriedensbruch definiert sind. Um die Einschränkung, die das Grundgesetz schon in den Artikel 8 eingebaut hat („friedlich und ohne Waffen“) durchzusetzen, ist es am Versammlungsort oft schon zu spät – jedenfalls für eine individuelle Überprüfung (auf Waffen oder Mittel der Vermummung). Wer die Entwicklung der Dinge bis zu diesem Punkt treiben lässt, gibt das Rechtsgut des Landfriedens praktisch auf. Er erfüllt auch nicht den Grundgesetzartikel 8 in seinem gesamten Inhalt. Er spaltet den Grundgesetzartikel und filtert ein völlig bedingungsfreies Versammlungsrecht heraus. Für dies Schrumpfrecht wird dann der Titel „Grundrecht“ in Anspruch genommen. Dies Vorgehen ist in Deutschland deshalb besonders gravierend, weil es zur Verfassungskultur der Bundesrepublik gehört, dass schon im Grundgesetz Einschränkungen eingebaut sind, die den Missbrauch der Grundrechte durch Feinde von Republik und Demokratie verhindern. Diese Verfassungskultur heißt „wehrhafte Demokratie“.
Eine Berufung auf die Verfassung, die in Wirklichkeit nur einzelne Bruchstücke aus der Verfassung herausgreift, ist eine Verletzung der Verfassung.
Während Gewaltgruppen schon durch die Hamburger Innenstadt marodierten, erklärte Frau Kipping (Vorsitzende der Linkspartei): „Es widerspricht schlicht den im Grundgesetz verankerten Grundrechten, wenn friedlich Protestierende selbst jenseits der ohnehin fragwürdigen Demonstrationsverbotszone mit Wasserwerfern, Pfefferspray und körperlichem Zwang angegriffen werden.“ Hier macht sich jemand seine eigenen Grundrechte, um den Verfassungsstaat als Verfassungsfeind darzustellen.
Die Duell-Theorie
Weil sich der Landfrieden nicht als Summe von Einzelrechten ergibt, muss er als übergreifendes Rechtsgut definiert werden und begründet so das Gewaltmonopol des Staates. Der Landfrieden kann nicht dem freien Spiel aller möglichen Gewaltpotentiale überlassen werden. Die Massenmedien unserer Zeit haben offenbar Schwierigkeiten, diese Konstellation zu verstehen. Sie neigen dazu, nur die äußerliche Auffälligkeit des gewaltsamen Zusammenstoßes zu sehen. So wurden die Hamburger Ereignisse in den Medien, insbesondere in den Life-Reportagen vor Ort, als eine Art „Duell“ präsentiert: die „Aktivisten“ auf der einen Seite, die Polizei auf der anderen Seite. Am Donnerstag (6.Juli) hatte die N24-Redaktion Karten vorbereitet, auf denen die „sensiblen“ Straßen markiert waren und auch „die Trump-Villa“ war als besondere Trophäe verzeichnet. Bei einer Life-Schalte in eine blockierte Straße machte sich der dortige Reporter sichtlich die Sache der Belagerer zu eigen und schien ganz von der Frage bestimmt, ob die Belagerer „es wohl schaffen können“.
Der Berliner „Tagesspiegel“, der für sich den Titel eines „Leitmediums der Hauptstadt“ führt, brachte am Samstag (dem 8. Juli) eine Seite 3, auf der Hartmut Dudde, der Einsatzleiter der Polizei, als Hauptverantwortlicher für die marodierende Gewalt präsentiert wurde. In der gleichen Ausgabe machte der Hauptkommentar sogar gleich den ganzen Rechtsstaat verantwortlich: „Das Auftreten des Rechtsstaats vor und während des Gipfels dürfte wenig angenehme Folgen haben. Für Hamburg selbst, weil die Stadt weltweit negative Schlagzeilen abbekommt. Eine Befriedung des Umfeldes der örtlichen und sehr starken linksradikalen Szene ist nun für längere Zeit kaum vorstellbar.“ Hier wird die Verteidigung des Landfriedens gegen die Aufgabe der „Befriedung“ eines bestimmten Milieus ausgetauscht. Bemerkenswert ist auch die Tonlage der Selbstverständlichkeit, mit der das alles – völlig argument- und abwägungsfrei – vorgetragen wird. Offenbar gibt es eine gewisse Nähe zwischen dem Medienmilieu und dem Belagerer-Milieu.
Man sollte eigentlich meinen, dass angesichts der zunehmenden Übergriffe, denen Polizisten (auch Feuerwehrleute und Sanitäter) im Einsatz ausgesetzt sind, ein verstärkter Schutz durch den Gesetzgeber einhellig begrüßt wird. Das ist keineswegs der Fall. Es gibt Leute, die es sogar umgekehrt sehen: besonders schutzbedürftig wären demnach die „Betroffenen“ von polizeilichen Handlungen. Solche Statements hört man sogar von Juristen. Es geht um den Straftatbestand „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ (§ 113 StGB). Auf Pläne, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamter schärfer zu ahnden, antwortete der Rechtsprofessor Tobias Singelnstein (Freie Universität Berlin) in einem Editorial der Zeitschrift „Strafverteidiger“ (Heft 8-2015): Ein besonderer Schutz für Polizisten würde negieren, „dass einschlägige Situationen – unabhängig von ihrem Anlass – Konflikte darstellen. Konflikte, in denen auf der einen Seite staatliche Instanzen mit besonderen, machtvollen Befugnissen sowie einer guten Ausrüstung und Ausbildung stehen, auf der anderen Seite Bürger, die sich in der Regel in einer Ausnahmesituation befinden.“ Eine solche Argumentation schiebt den Schutzauftrag des Staates (den „Anlass“) beiseite und will nur ganz neutral einen „Konflikt“ zwischen unterschiedlichen Personen sehen. Diese Konflikttheorie entkleidet den Polizeibeamten seines Amtes und Auftrags – im Namen einer fiktiven Gleichheit. Ob dem Rechtsprofessor klar ist, dass er mit einer solchen Begründung dem Verfassungsstaat insgesamt die Legitimation entzieht?
Die Parallelmächte
Als die Polizei im Vorfeld des G20-Gipfels die Errichtung von Camps in öffentlichen Parks, in denen Gipfel-Gegner übernachten sollten, prinzipiell unterband, weil sie Gewalttätern keine Unterschlupfmöglichkeiten geben wollte, gab es sofort ein vielfältiges Ersatz-Angebot von den verschiedensten Einrichtungen und Privatpersonen, Die FAZ (8.Juli) schreibt: „Wer Quartier suchte, konnte etwa im Schauspielhaus gleich am Bahnhof vorsprechen, wo einst schon gestrandete Flüchtlinge willkommen waren oder `auf Kampnagel´ im dortigen Kulturzentrum, oder in Wohnungen, deren Klingelschilder mit einem roten Punkt markiert sind.“ Diejenigen, die die Unterkünfte anboten, waren weder willens noch in der Lage, die Absichten derer, die sie da unterbrachten, zu überprüfen. Sie nahmen also billigend in Kauf, dass ihre Einrichtungen oder Wohnungen Teil der Belagerungs-Logistik wurden, und dass auch Leute, die schweren Landfriedensbruch und eventuell sogar Anschläge auf Leib und Leben von Polizeibeamten verübten, bei ihnen unterkamen. Das bedeutete, dass hier zivile Akteure gegenüber dem Rechtsstaat als konkurrierende Mächte auftraten: Zu diesen Parallelmächten gehörten Einrichtungen der Kunst und der Wissenschaft. Aber auch der Kirchen, was fatal an die mittelalterliche Konstellation erinnerte, in der die Kirchenführungen als konkurrierende weltliche Mächte auftraten.
Grundgesetz Artikel 5, Absatz 3 lautet: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“
Der Begriff „Aktivist“ hat eine bemerkenswerte Karriere gemacht: Er war ursprünglich ein Kampfbegriff der SED-Diktatur, der damit die Angehörigen des eigenen Parteiumfelds (der sogenannten „Massenorganisationen“) auszeichnete. Inzwischen wird er in ganz Deutschland gebraucht, für alle, die für irgendein Anliegen auf die Straße gehen oder „Aktionen“ durchführen. Das gilt aber nur, wenn man ein rot-grünes Anliegen verfolgt. Merke: Wer für einen Stopp illegaler Migration demonstriert, ist nicht „Aktivist“ sondern „Rassist“.
Die Gerichte als Parallel-Macht?
Nicht nur zivilgesellschaftliche Akteure traten in Hamburg als eigenständige, mit dem Rechtsstaat konkurrierende Mächte auf, sondern auch einzelne Abteilungen des Staates selber traten mit einer bemerkenswerten Eigenmächtigkeit auf. Es war ein Hamburger Verwaltungsgericht, das ein generelles Verbot von Protestcamps in der Stadt untersagte. Woher nimmt ein solches Gericht die Kompetenz, solche Camps zu genehmigen? Was stellt es dem (vor Gericht dargelegten) Fachwissen der Polizei und den Erfahrungen anderer Gipfel-Belagerungen entgegen? Warum stellt man Camps, die deutlich auf einen engen, dauerhaften und unkontrollierbaren Kontakt mit dem G20-Gipfel angelegt waren, pauschal unter den Schutz des Demonstrationsrechts? Welche Haftung übernimmt das Gericht, wenn sich herausstellt, dass aus dieser von ihm zugelassenen Konstellation schwere Gewalttaten gegen Personen und Sachen verübt werden?
Häufig wird der Eindruck erweckt, dass sich Gerichtsurteile strikt „aus dem Recht“ ergeben und insofern zwingend so ausfallen müssen. Aber die Einengung und Herabstufung des Tatbestands „Landfriedensbruch“ und die Dehnung und Aufwertung des Sachverhalts „Demonstration“ ergibt sich keineswegs zwingend aus „dem“ Recht. Solche Umwertungen von Rechtsgütern sind – im weiteren Sinne – politisch. Hier spielen Weltbilder und Rechtsdoktrinen eine Rolle. Umso wichtiger ist es daher, dass nicht nur die Unabhängigkeit der Gerichte betont, sondern auch die Bindung an die Gesetze. Der Artikel 97, Absatz 1 des Grundgesetzes ist in dieser Hinsicht eindeutig: „Die Richter sind unabhängig und nur den Gesetzen unterworfen.“ Den Gerichten kommt keine gesetzgebende Gewalt zu. Es ist durchaus legitim und wünschenswert, wenn Gerichte in Urteilen auf eine geänderte Lage oder ein geändertes Rechtsempfinden hinweisen, und wenn sie den Gesetzgeber zum Handeln auffordern. Aber sie überschreiten ihre Rolle, wenn sie selber in ihren Urteilen schon die zu ändernden Gesetze vorwegnehmen. Sie führen sich dann als Gesetzgeber auf, ohne dazu die demokratischen Verfahren und die Legitimation zu haben. Hier eröffnet sich ein Raum für das Entstehen einer Parallelmacht. Einer sehr großen Parallelmacht. Und einer weitgehend verdeckten Macht. Denn über die Zusammensetzung eines Gerichts, über die Linie seiner Urteile und über die Rechtsdoktrinen, die es bestimmen, erfährt die Öffentlichkeit wenig – viel weniger jedenfalls, als sie über ihre Parlamentsabgeordneten und die Bestimmungsgründe eines dortigen Mehrheitsvotums erfährt.
Die Schutzfrage und die Schuldfrage
Eine zweite Möglichkeit zur Ausbildung illegitimer Eigenmacht besteht auf dem Gebiet der Bestrafung. Wenn Gerichte exzessiv von der Verhängung von Bewährungsstrafen Gebrauch machen, so steht hier sichtlich ein bestimmtes Menschen- und Gesellschaftsbild Pate. Denn sie muten der Gesellschaft die Präsenz eines verurteilten Straftäters zu. Das heißt, sie setzen den Schutzvertrag zwischen Staat und Gesellschaft an dieser Stelle außer Kraft und setzen auf die Selbstheilungskräfte der Gesellschaft. Und wenn dann noch dem Täter eine verminderte Schuldfähigkeit zuerkannt wird, dann rückt auf merkwürdige Weise die Schuldfrage wieder in den Mittelpunkt – diesmal geschieht es nicht, um Rache zu üben, sondern um sich fürsorglich über den Täter zu beugen. Aber sowohl die Rache-Idee als auch die Fürsorge-Idee haben mit der eigentlich wichtigen Frage – der Schutzfrage der Gesellschaft – nichts zu tun.
Zwei sehr verschiedene Vorstellungen von Gewaltenteilung
Vielleicht ist es kein Zufall, dass in jüngster Zeit recht viel von der „Gewaltenteilung“ die Rede. als einer Grundlage unseres Rechtsstaats die Rede ist. Aber man muss sich vor einer Verwechslung hüten. Die Gewaltenteilung meint keine Aufteilung der Macht auf mehrere miteinander konkurrierende Parallelmächte. Die Gewaltenteilung im modernen, republikanischen Sinn steht insgesamt unter der Herrschaft des Gesetzes. Das unterscheidet sie von der mittelalterlichen Ordnung, in der verschiedene Mächte ihre eigenen Gesetze machten und an Stelle des einen, unteilbaren Rechtsstaats ein ständiges Ringen oder Überlappen von Machtansprüchen herrschte. In mancher Hinsicht könnte man von einem ständigen Belagerungszustand sprechen.
Die Belagerung des Rechtsstaats
Ich habe eingangs geschrieben, dass die Aktionen der G20-Gegner gegen den Hamburger Gipfel den Charakter einer Belagerung hatten. Diese Aussage muss nun erweitert werden: In Hamburg wurde eine weitaus umfangreichere Belagerung sichtbar, die sich vor unseren Augen abspielt. Ihr Zielobjekt ist der Rechtsstaat als solcher. Er sieht sich einer zunehmenden Zahl von Parallelmächten mit wachsenden Ansprüchen gegenüber. Dazu gehören zivile Akteure, die sich als ihre eigenen Gesetzgeber aufführen, aber auch Teile des Staates, die sich zunehmend auf eigene Faust bewegen. Sie greifen sich bestimmte Bruchstücke aus der Verfassung heraus und erklärt sie für absolut – ohne Rücksicht darauf, ob damit ein tragfähiger Gesamtzustand erreicht wird. So wird der Rechtszustand eines Landes wird zum Willkürzustand.
Vor kurzem sprach die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Ayden Özoguz, folgende Sätze: „Auch mit Blick auf die hohen Flüchtlingszahlen ist klar: Wir stehen vor einem fundamentalen Wandel. Unsere Gesellschaft wird weiter vielfältiger werden, das wird auch anstrengend, mitunter schmerzhaft sein. Unser Zusammenleben muss täglich neu ausgehandelt werden.“ Deutlicher kann man den Wechsel vom Rechtszustand zum Willkürzustand nicht zum Ausdruck bringen. Der Wechsel ist kein Unfall, sondern tatsächlich beabsichtigt. Frau Özoguz bekennt sich ausdrücklich zum „Fundamentalen“ des Wandels. Es gibt kein vorgängiges Recht mehr, alles ist „aushandelbar“ – im rechtsfreien Raum mit allen möglichen, selbsternannten Parallel-Mächten. Noch ist es nicht soweit, aber die Belagerer sind schon da.
(erschienen bei „Tichys Einblick“ am 4.8.2017)