Zusammen mit den Bundestagswahlen findet in Berlin ein Volksbegehren statt, um die Schließung des Flughafens Tegel zu verhindern.
Gegen die rot-rot-grüne Hauptstadt-Demontage
10. September 2017
Das fortdauernde Baudebakel beim Berliner Flughafen BER ist bekannt. Viele sahen darin zunächst eher einen Sonderfall. Doch gab es auch den Verdacht, dass sich hier eine generelle Schwäche zeigt, die technische Infrastruktur unseres Landes auf Niveau zu halten. Dieser Verdacht wird nun durch eine neue Entwicklung in der deutschen Hauptstadt bestätigt. Berlin ist mit dem Problem konfrontiert, dass der neue Flughafen angesichts rasant steigender Passagierzahlen schon zu klein ist, bevor er überhaupt eröffnet wird. Eigentlich wäre das kein größeres Problem, da Berlin ja einen funktionierenden Flughafen hat: den Flughafen Tegel (TXL). Man müsste ihn nur erhalten und angemessen sanieren. Dann hätte man nicht nur eine Ergänzungslösung, um die Kapazitätslücke zu schließen, sondern auch einen Systemvorteil für die weitere Zukunft – ein zweites Tor für den Luftverkehr der Hauptstadt würde eine Ausweichmöglichkeit für Notfälle bieten und die langfristige Stadtentwicklung breiter aufstellen.
Aber ausgerechnet dieser Flughafen soll definitiv geschlossen werden, sechs Monate nach Eröffnung des BER. So will es eine Plan-Festlegung, die zu einer Zeit getroffen wurde, als die Entwicklung der Stadt und ihres Luftverkehrs stagnierte. Damals rechnete man mit 17 Millionen Passagieren (für 2007) und ging davon aus, dass der BER (für 25 Millionen ausgelegt) ausreichte. Doch dann änderte sich die Lage: Im Jahr 2016 wurden in Berlin bereits 32,9 Millionen Passagiere gezählt; 2020 werden 37 Millionen erwartet, 2040 sollen es 55 Millionen sein. Unter diesen Umständen wird die alte Plan-Festlegung zur Verkehrsfalle. Ohne den Flughafen Tegel droht eine jahrzehntelange Notsituation.
Angesichts dieser neuen Lage wurden die Stimmen immer zahlreicher, die forderten, das Junktim zwischen BER-Eröffnung und TXL-Schließung aufzuheben. Doch die Landesregierungen von Berlin und Brandenburg halten bis heute starrsinnig an der Tegel-Schließung fest und setzen alles auf einen nachträglichen Erweiterungs-Neubau des BER. Sie nehmen damit eine chaotische Situation in Kauf, in der der gesamte Luftverkehr von einem einzigen Areal abhängt, auf der ein unerprobter Neuflughafen und eine Erweiterungs-Baustelle stehen. So ist das Misstrauen der Berliner immer mehr gewachsen. Inzwischen gibt es eine fachlich fundierte und schlagfertige politische Bewegung. Im Frühjahr 2017 wurde ein Volksbegehren zur Offenhaltung des Flughafens Tegel durchgesetzt. Am 24. September, dem Tag der Bundestagswahlen, wird darüber abgestimmt.
Bei einer Umfrage von Infratest Dimap im Mai 2017 haben 69 Prozent der Berliner für einen Weiterbetrieb von Tegel gestimmt, nur 27 Prozent für eine Schließung. Auch wenn das Ergebnis am Ende knapper ausfallen wird, hat das Volksbegehren also eine echte Erfolgschance. Die Initiative trifft einen Nerv der Berliner. Nicht allein der Zorn über das BER-Versagen gibt den Ausschlag, sondern es gibt viele andere Erfahrungen, wie Verkehrseinrichtungen, Leitungssysteme, öffentliche Gebäude mit den Anforderungen einer wachsenden Stadt nicht Schritt halten und die Politik dem hilflos bis gleichgültig gegenübersteht. Die vorschnelle Demontage eines funktionierenden Flughafens fügte sich in dies Bild.
Das hat auch in der Politik zu Verschiebungen geführt. In Berlin unterstützen FDP, AfD und CDU den Weiterbetrieb, während SPD, Grüne und Linkspartei auf der Schließung beharren. Inzwischen hat auch die Bundeskanzlerin ihr Lager gewählt: Sie steht auf der rot-rot-grünen Seite, während der Verkehrsminister Dobrindt (CSU) für eine Prüfung des Weiterbetriebs eintritt.
Über das Argument „rechtlich unmöglich“
In dieser Situation finden gegenwärtig hektische Versuche der Tegel-Gegner statt, die Stimmen-Mehrheit doch noch umzudrehen. Dazu gehört die Behauptung, ein Offenhalten des Flughafens Tegel sei „rechtlich unmöglich“. Diesen Eindruck versucht ein Gutachten zu erwecken, das die Berliner Landesregierung Anfang September präsentierte. Bei näherem Hinsehen besagt das Gutachten allerdings nur, dass die Veränderung der Plangrundlagen zwischen den beteiligten Institutionen ausgehandelt werden muss. Und dass auch neue Klagen von Betroffenen möglich sind. Das Gutachten droht mit jahrelangen Auseinandersetzungen und sagt, dass die Offenhaltung „nach Maßstäben der pragmatischen Vernunft“ nicht möglich sei. „Mit Tegel kommen wir in Teufels Küche“, bekundet die Grünen-Politikerin Ramona Pop.
Ja, da ist etwas dran, aber in einem ganz anderen Sinn. Die Offenhaltung des TXL ist rechtlich sehr wohl möglich. Wenn es hier zu politischen und gerichtlichen Auseinandersetzungen kommt, liegt das nicht an dem Sachanliegen „Offenhaltung“, das ja eine entlastende Wirkung haben wird, sondern solche Auseinandersetzungen drohen insgesamt beim Anwachsen des Flugverkehrs. Sie drohen insbesondere dann, wenn 55 Millionen Passagiere auf einen einzigen Standort konzentriert werden und auf einer einzigen Achse in die Stadt geführt werden müssen. Dabei liegt das BER-Areal in einem Sektor der Metropolregion Berlin-Brandenburg, für den sowieso schon große Verkehrsprobleme prognostiziert werden. Man hat es gerade erst mit Müh und Not (und mit einer SPD-CDU-Koalition) geschafft, die Stadtautobahn A 100 einige Kilometer nach Osten weiterzubauen, was noch völlig unzureichend ist. Mit der gegenwärtigen rot-rot-grünen Koalition wäre selbst dieser begrenzte Weiterbau nicht möglich gewesen. Es ist ein Treppenwitz, wenn diejenigen, die überall in Deutschland die großen Infrastruktur-Projekte mit Gerichtsverfahren verschleppen und gegenwärtig noch weitergehende Klagerechte fordern, jetzt so tun, als wären sie glühende Anhänger der BER. Sie demontieren erstmal Tegel, um dann wieder auf den BER einzudreschen.
Wenn die Tegel-Schließer jetzt mit den drohenden rechtlichen Komplikationen argumentieren, so führt das zu einer ganz anderen Schlussfolgerung: Ein Bau- und Planungsrecht, das so kompliziert ist und das so viele blockierende Veto-Rechte enthält, muss vereinfacht werden. Dringende Anpassungen der Infrastruktur an veränderte Umstände müssen zügig hoheitlich durchsetzbar sein – im Namen des Allgemeininteresses einer freien Gesellschaft. Das wusste schon der große Liberale Adam Smith, der Einrichtungen des „Unterrichts- und Transportwesens“ ausdrücklich zu den Staatsaufgaben rechnete.
Die Last-Minute-Stories der Tegel-Gegner
Von offizieller Seite wird das BER-Projekt so dargestellt, als sei seine Kapazitätserweiterung auf 60 Millionen Passagiere so gut wie gebaut. Vor einigen Wochen zog der Berliner Flughafen-Chef Lütke-Daldrup einen „Masterplan“ aus der Tasche und erklärte: „Mit dem Masterplan 2040 weisen wir nach, dass der mittel- und langfristige Bedarf am BER ohne die Bestandsflughäfen TXL und Schönefeld sehr gut gedeckt werden kann.“ Ein Masterplan als Nachweis – das ist in der Stadt- und Regionalplanung ein, vorsichtig ausgedrückt, ungewöhnliches Verfahren und rechtlich ohne Bedeutung. Während er dem staunenden Publikum genaue Zahlen für das Jahr 2040 präsentiert, kann derselbe Lütke-Daldrup noch nicht einmal sagen, wann überhaupt die BER-Eröffnung stattfindet. Der Masterplan ist also eine Nebelkerze, die die finanziellen und rechtlichen Risiken verbergen soll, die eine Flughafen-Strategie mit einem einzigen Monopol-Flughafen BER enthält.
In einem Artikel in der Tageszeitung „Die Welt“ (3.9.2017) versucht Marcus Woeller, unter dem Motto „Stadt von morgen statt Flughafen von gestern!“ eine rosige Zukunft für das Tegel-Areal auszumalen. Es geht um den Plan, den die „Tegel Projekt GmbH“ im Auftrag des Berliner Senats ausgearbeitet hat (Kosten der Ausarbeitung: 29 Millionen Euro). Worin soll die „Stadt von morgen“ bestehen? Woeller schreibt: „Verfahren und Technologien, die nebenan von den Studenten der Beuth-Hochschule, die ins Terminalgebäude einziehen soll, entwickelt und von den Start-Ups im Industriepark zur Marktreife geführt werden, können im Wohnviertel gleich in der Praxis angewandt werden.“ Toll. Ein Riesenareal soll für Studenten, Start-Ups und ein paar tausend Wohnungen da sein. Wo früher ein Flughafen für alle Schichten der Berliner Bevölkerung stand, braucht man nun die Hochschulreife als Eintrittskarte. Ein Blick auf das Bebauungsmodell zeigt, dass der Quadratmeter-Verbrauch pro Nutzer in der neuen „Urban-Tech-Welt“ weit über einem Berliner Normalstadtteil liegt. Das alles für Tätigkeiten, die weitgehend von öffentlichen Mitteln (also auf Kosten der Steuerzahler) leben. Es handelt sich also um ein Vorhaben, das soziale Verdrängung und Abgrenzung von der Gesamtstadt beinhaltet. Ein Sondermilieu will sich „kleinräumig vernetzen“. Und dies Milieu verkleidet seine eigennützigen Interessen als „Die Stadt der Zukunft“.
Warum wird nicht über die zukünftige Gestalt der Gesamtstadt gesprochen?
In dem blinden Beharren auf der Schließung des Flughafens Tegel ist eine größere Demontage enthalten. Hier sind Interessen am Werk, die den gesamtstädtischen Zusammenhalt nicht mehr schätzen und verteidigen, sondern daran arbeiten, die großen Städte in eine Summe von Sondermilieus aufzulösen. Und es sind merkwürdige Kronzeugen, die da ein Urteil über Infrastrukturen sprechen und den Flughafen Tegel abschreiben: Marcus Woeller firmiert als „Kunstmarkt-Redakteur“.
Bei der Berliner Flughafenpolitik fällt auf, dass man eigentlich nur über die Kapazität des Flughafen-Areals und seiner Anlagen spricht. Der größere räumliche Rahmen – die Wirkung auf die Gestalt der Gesamtstadt und ihre täglichen Betriebsabläufe – spielt kaum eine Rolle. Flughäfen sind aber heute nicht nur Verkehrseinrichtungen, sondern eigene Wirtschaftsareale und Lebensräume. Sie ziehen Produktionsstätten, Servicebetriebe, Forschungseinrichtungen, Messe- und Kongresszentren an. Sie werden zu eigenen Stadtteilen und Gravitationszentren im Stadtganzen. Das ist ein zusätzliches Argument dafür, dass man nicht die gesamte zukünftige Flughafen-Kapazität im Süd-Osten Berlins konzentrieren sollte – wie das der Fall wäre, wenn man dem BER-Neubau immer weitere Neubauten hinzufügt. Vernünftiger wäre es, mit dem TXL einen Teil dieses Entwicklungspotentials im Nord-Westen der Stadt zu halten.
Und auch ein politisches Risiko sollte man nicht unterschätzen: Ein Monopol-Flughafen BER würde sich im Hoheitsgebiet des Landes Brandenburg befinden. Die Stadt Berlin wäre luftverkehrstechnisch in fremder politischer Hand.
„Tegel offen halten“ ist ein pragmatisches Anliegen
Am 24. September wird also eine Entscheidung fallen. Fällt sie zu Gunsten einer Schließung des Tegeler Flughafen aus, bedeutet das eine definitive, nicht mehr revidierbare Entscheidung. Fällt sie zu Gunsten einer Offenhaltung des Flughafens aus, ist dies weniger definitiv. Es bedeutet nur, dass der TXL nach der Eröffnung des BER erstmal über eine längere Frist – zehn, zwanzig Jahre – betrieben werden kann. In dieser Zeit kann sich zeigen, was der BER im Betrieb tatsächlich leistet und wie er sich in den Stadtbetrieb einfügt. Und Tegel kann, mit begrenztem Sanierungsaufwand, als bewährtes Standbein weiterarbeiten. Nur ein „Ja“ im Volksbegehren kann das starre Junktim zwischen BER-Eröffnung und TXL-Schließung aufbrechen. Das Votum „Tegel offen halten“ ist also ein vorsichtiges und pragmatisches Votum.
Vor wenigen Wochen hat Deutschland beim Wassereinbruch in einem Tunnel der europäischen Eisenbahnachse im Oberrheintal (Rastatt) die Erfahrung gemacht, wie anfällig Infrastruktur-Systeme sind, die keine Ausweichmöglichen bieten. Der monatelange Ausfall der Rheintal-Strecke hat verheerende wirtschaftliche Folgen. Vehement wurde gefordert, dass in Zukunft von vornherein Alternativstrecken mitgeplant werden. Es wäre kein gutes Zeichen für die deutsche Infrastrukturpolitik, wenn in der deutschen Hauptstadt die Möglichkeit eines zweigleisigen Flughafen-Systems ohne zwingenden Grund zunichtegemacht würde.
(erscheint demnächst im Magazin „Compact“)