Infrastrukturen sind Zivilisationsträger. Ihre Krise zeigt, wie weitgehend unsere Zeit die technischen Fundamente eines modernen Landes aus den Augen verloren hat. (Aus dem Archiv: Oktober 2014)
Erosion der technischen Mitte
15.10.2014
Fast über Nacht ist die Infrastrukturkrise zum öffentlichen Thema geworden. Gewiss gab es schon länger Klagen über defekte Brücken und Straßen, Fachleute warnten schon länger vor einem Sanierungsstau, aber das wurde zunächst als typische Übertreibung von Interessengruppen einsortiert. Nun wird die Öffentlichkeit gewahr, dass im Land seit Jahren und Jahrzehnten ein Erosionsprozess stattfindet, der Grundlagen von Wirtschaft und Gesellschaft berührt. Obwohl es immer wieder gelungene Bauvorhaben und Sanierungen gibt, gelingt unter dem Strich die Bestandserhaltung nicht mehr. Diese Misere betrifft nicht nur bestimmte Zweige sondern die gesamte Breite der technischen Infrastruktur: Straßen, Schienenwege, Brücken, Schleusen, Bahnhöfe, Stromleitungen, Kanalisation und anderes mehr. Es handelt sich um eine systematische Krise, die mit bestimmten Struktureigenschaften zu tun hat. Schwierigkeiten bereitet hier gar nicht so sehr eine besonders komplizierte und anfällige Hochtechnologie, sondern die Belastungsmasse, die die technischen Träger kontinuierlich bewältigen müssen. Entsprechend ist bei der Finanzierung nicht die einmalige Bewilligung von Geld oder das Auflegen eines Sonderprogramms die zu lösende Aufgabe, sondern die dauerhafte Zuordnung von Mitteln der öffentlichen Haushalte.
Bei plötzlich auftretenden Krisen ist der erste Reflex, hier eine Vernachlässigung zu vermuten und zu fordern, dass nun „mehr getan“ werden müsse – was dann sogleich in „mehr Geld“ übersetzt wird. Das ist voreilig. Man kann nicht von der Infrastrukturkrise sprechen und die Tatsache übergehen, dass in den letzten Jahrzehnten der Bau und Betrieb von Verkehrs- und Versorgungsanlagen immer schwieriger und teurer gemacht wurde. Insbesondere Umweltauflagen haben diese Wirkung. Bisweilen kostet allein die Berücksichtigung des Lärmschutzes mehr als der eigentliche Wegebau. Hinzu kommt, dass die Beteiligung von Interessengruppen und die Einräumung von Einspruchsrechten immer weiter gesteigert wurden. Dafür kann man manch guten Grund anführen, doch nun legt die Infrastrukturkrise eine andere Blickrichtung nahe: zurück zu den eigentlichen Kernaufgaben der Anlagen und zu deren Leistungsfähigkeit. Deshalb sollte jetzt nicht sofort nach einem „Mehr“ gerufen werden, sondern es sollte zunächst all das auf den Prüfstand kommen, was den Infrastrukturen in der jüngeren Vergangenheit das Leben schwer gemacht hat. Gerade beim Thema „Umwelt“ zeigt sich, dass es nicht nur um Geld geht, sondern auch um den rechtlichen Status und Schutz, den die Verkehrs- und Versorgungseinrichtungen im Land haben. Die Bedeutung dieses Schutzes zeigt in diesen Wochen noch ein weiterer Vorgang: Die Streiks bei der Bahn und im Flugverkehr haben deutlich gemacht, in welchem Maße einzelne Gruppen die Möglichkeit haben, den Betrieb von Infrastrukturen zu blockieren und das als Druckmittel einzusetzen. Hier neigen die Gerichte seit einiger Zeit dazu, den Verbands- und Streikrechten gegenüber den Mobilitätsrechten der Allgemeinheit einen Vorrang einzuräumen – zum Beispiel bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit von Warnstreiks oder der Pflicht zu einer Mindestversorgung (Notdienst).
Spätestens an diesem Punkt wird deutlich, dass bei der Infrastrukturkrise in Deutschland mehr im Spiel ist als eine vorübergehende Finanzierungslücke. Die Misere ist mit Entwicklungen des Staatswesens in Deutschland verflochten. Und nicht um eine Unterlassungskrise handelt es sich, sondern um eine Verdrängungskrise: Die Kernaufgabe der Infrastrukturen wurde in der Aufmerksamkeit des Gesetzgebers von Sozial- und Umweltzielen überlagert. Diese Überlagerung gibt es schon in der öffentlichen Wahrnehmung. Straßen und Brücken werden nur wichtig, wenn sie einmal nicht funktionieren. Im Grunde sind sie ein Anliegen wider Willen – kein Thema des Guten, bei dem man auf jenes Lob hoffen kann, das beim Engagement für die Mitmenschen oder für den Naturschutz winkt. Wer eine Straße baut, darf nicht erwarten, beim Bundespräsidenten für sein zivilbürgerliches Engagement eingeladen zu werden.
Die Leistungen einer Straße
Worin besteht eigentlich die Leistung einer Straße? Sie ermöglicht die physische Fortbewegung von Menschen und Gütern. Wir sind es gewohnt, beim Verkehr auf die Fahrzeugführer und Fahrzeuge zu achten, aber deren Aktion wäre völlig hilflos ohne die Mitwirkung der Unterlage, die eine Straße darstellt. Sie muss die Gegebenheiten eines Geländes befestigen, glätten, abgrenzen und auch lesbar machen. Die Natur enthält alle möglichen Widrigkeiten: Bodenbeschaffenheit, Steigungen, Wettereinflüsse, Unübersichtlichkeit. Sie ist nicht von vornherein auf Mobilität angelegt. Im Alltag fällt dieser Sachverhalt kaum auf. Erst bei einem Ausfall, zum Beispiel bei Fahrbahnschäden oder Überflutungen, wird das anders. Dann machen sich die Naturkräfte bemerkbar und die erhebliche Leistung der Infrastruktur wird sichtbar. Es ist vor allem eine Tragleistung, die zwischen Boden und Fahrzeug vermittelt und die dort sinnfällig wird, wo Brücken mit ihren Pfeilern, Stahltrossen und Fahrbahnkästen stehen. Hinzu kommt der „Griff“, den die Fahrbahnoberfläche ausübt und die Fahrzeuge überhaupt erst steuerbar macht. So vermittelt die Straße zwischen den Gegebenheiten der natürlichen Umwelt und der modernen Mobilität.
Der Ausdruck „Infrastruktur“ klingt trocken und abstrakt, und daran ist etwas Wahres. Denn sie ist der Lebenswelt der Menschen und auch dem wirtschaftlichen und politischen Leben vorgelagert. Selten stellt eine Straße als solche ein Erlebnis dar, meistens ist sie nur eine zu überwindende Strecke. Deshalb zehren auch die Reportagen über große Straßen davon, dass der Berichtende immer wieder aussteigt und einzelne Orte oder Menschen besucht. Und doch ist die Stabilität des „Dazwischen“ der Straße so wichtig wie die Stabilität einer Währung, auch wenn – in beiden Fällen – ihre positive Wirkung indirekt und schwer zu messen ist. Ähnliches gilt im Bezug zur natürlichen Umwelt. Das graue, monotone, abweisend harte Asphaltband ist kein naturnahes Gebilde. Um ihre Leistung zu erbringen, müssen Infrastrukturen die Natur durchschneiden, die Böden versiegeln, Flora und Fauna – horribile dictu – „ausgrenzen“. Auch die Belastung der Anlieger gehört dazu. Doch kommt diese unfreundliche Fremdheit nicht erst mit der Straße in die Welt. Sie ist schon in der gesteigerten Mobilität der Menschen angelegt, letztlich in ihren modernen Freiheitsrechten. Naturfern sind schon die menschlichen Berufs- und Lebensziele oder die komplex zusammengesetzten Güter für den gesellschaftlichen Bedarf. In diesem Sinn muss man die Verkehrsstatistiken ernst nehmen: Nach der jüngsten Prognose des Bundesverkehrsministeriums wird zum Beispiel das Güterverkehrsaufkommen auf der Straße 2014 um 4% wachsen, 2015 um 2,7% – also stärker als das Bruttoinlandsprodukt. Solche Zahlen belegen auch, dass trotz Internet keine „Entmaterialisierung“ der sozialen Bedürfnisse stattfindet. Die menschliche Freiheit kann sich nicht nur in Worten, Bildern und digitalen Kommandos verwirklichen.
Gegenüber einer allzu freischwebenden Freiheit des Menschen bildet die Straße sogar ein mäßigendes Element. Als Bauwerk bringt sie die physischen Gesetze der realen Welt in Anschlag – zum Beispiel im aufwendigen Schichten-Aufbau der Fahrbahn und in der ständigen Abwehrarbeit gegen Verschleißerscheinungen. Die Straße erdet die Mobilität, sie ist die hardware der menschlichen Freiheit. Sie holt die Wünsche und Phantasien auf den Boden der Tatsachen zurück. Dies zeigt sich auch in der besonderen Zeichenwelt der Straße. Es ist eine Welt strikter Gebote und Verbote. Verkehrszeichen sind weder interpretierbar noch interaktiv. Die disziplinierende Welt der Fahrbahn ist keine „soziale Konstruktion“ und frei verhandelbar, aus ihren Kurvenradien, Spurbreiten, Markierungen, Rechtsfahrgeboten und Geschwindigkeitsbegrenzungen sprechen die Gesetze von Schwerkraft und Massenträgheit. Ihre Macht ist ein klassischer Fall von moderner Sachautorität.
Insgesamt ist eine Straße also immer die Frucht einer doppelten Anpassung: Sie passt die Widrigkeiten der Natur an die Mobilität des Menschen an, aber sie passt auch die Willkür des Menschen an die äußere Realität an. Sie ist Vermittlung zweier Seiten – eine gebaute Mitte.
Infrastrukturen als Schrittmacher der Moderne
Was hier für die Straßen gesagt wurde, gilt für die Verkehrs- und Versorgungssysteme insgesamt, also für das, was mit dem Begriff „technische Infrastruktur“ zusammengefasst wird. Erst mit der Moderne bekommen die einzelnen Anlagen systematischen Charakter. Sie werden zu einer flächendeckenden Gesamtstruktur, zu einer aus dem Naturraum herausgebauten Plattform – einer Plattform, die die landschaftlichen Naturkräfte beruhigt und vergleichmäßigt, sie aber auch dynamisiert und bündelt. Erst dadurch entsteht das „Land“ im modernen Sinn, das Territorium. Infrastrukturen bilden sein Rückrat. Diese Mitte des Landes ist für Wirtschaft und Staat mindestens so wichtig wie die oft zitierte Mitte der Gesellschaft. In der Geschichte der Neuzeit bildet die Lösung von Infrastrukturproblemen ein großes, oft unterschätztes Tätigkeitsfeld. In Frankreich war es der systematische Straßenbau, der mit dem „corps des ponts et chaussées“ einen festen, im ganzen Land operierenden technischen Beamtenstab hervorbrachte. In England spielten der Kanalbau und die Bildung regionaler und marktorientierter Konsortien früh eine Rolle.
Planung, Bau und Betrieb von Infrastrukturen stellte die Akteure vor komplexe Probleme, die im Rahmen einer einfachen Rollenzuschreibung nicht zu lösen waren. Der Bau eines flächendeckenden Straßennetzes wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, wenn „alle Straßen“ Sache des Königs gewesen wären. Man musste eine Rangunterscheidung zwischen nationalen und lokalen Straßen einführen. Mit dem erhöhten technischen Aufwand musste eine Ausdünnung der Zentralaufgaben stattfinden. „Mehr Staat“ musste zugleich „weniger Staat“ werden. Zugleich musste der Staat sich in einem ganz neuen Maß in Sachfragen bewähren und sich Facheliten öffnen. Im englischen Fall, der stärker am Markt orientiert war, gab es eine andere kritische Schwelle. Hier mussten einzelne private bzw. regionale Akteure sich für Aufgaben zusammenfinden, die ihren Eigennutzen überstiegen – zum Beispiel bei der Festlegung der Streckenführung und des Größenzuschnitts.
Neben technischen Aufgaben stellten sich auch neuartige rechtliche Aufgaben. Weil die effiziente Anordnung im Raum vielfach mit bestehenden Eigentumsrechten kollidierte, mussten rechtsstaatliche Enteignungsverfahren legitimiert werden. Zum anderen musste aber auch ein besonderer Rechtsstatus eingeführt werden, damit die neuen Gemeingüter nicht durch Zerstörung oder Blockade von Minderheiten in Beschlag genommen wurden. So war es historisch nicht nur die Einhegung des (Bürger-)Krieges, sondern auch die Entwicklung der Infrastruktur, die zur Bildung einer übergreifenden „Leviathan“-Macht im Sinne von Thomas Hobbes führte.
Ein drittes Grundproblem gab es bei der Finanzierung. Mit den Infrastrukturen mussten große Geldmittel vorausschauend und langfristig bereitgestellt werden. Das war ohne einen festen Haushaltsposten nicht darstellbar und bildete einen starken Anstoß zur Etablierung eines geordneten Staatsbudgets. Das Finanzproblem gab es auch im „englischen“ Szenario. Hier mussten Formen entwickelt werden, in den private Akteure langfristig Kapital einsetzen konnten. Der Infrastrukturbau erforderte also die Überschreitung einer allzu engen Definition von Privatinteresse und eine Erweiterung der Marktmechanismen.
Insgesamt kann man – in technischer, rechtlicher und finanzieller Hinsicht – konstatieren, dass diese Weiterentwicklung von Staat und Marktwirtschaft gelang. Grundlagen waren schon vor dem Beginn des Eisenbahnzeitalters gelegt. Nur so waren dann später auch die Bauleistungen der Gründerzeit, mit denen das Stadtelend eingehegt wurde, möglich. Wären Staat und Markt wirklich von den Zerrbildern „absoluter Herrscher“ und „egoistischer Kapitalisten“ geprägt gewesen, wären sie an der historischen Schwelle des Infrastrukturbaus gescheitert. Das ist nicht der Fall. Diese Geschichte ist ein gelungenes Kapitel der Moderne und wird meistens von ihren radikalen Kritikern ignoriert. Für unsere Gegenwart bedeutet das, dass wesentliche Probleme des komplexen Baus, des nachhaltigen Betriebs und der soliden Finanzierung historisch schon gelöst sind. Diese Mitte des Landes ist etabliert. Sie muss nicht erst für angeblich „völlig neue“ Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfunden werden. Die Länder, in denen heute die Infrastruktur stagniert oder verwahrlost, machen schlicht ihre Hausaufgaben nicht.
Im Werthorizont der Gegenwart fehlt die sachliche Mitte
Wenn hierzulande eine Misere der Infrastruktur eingerissen ist, sind offenbar nicht nur einzelne Fehlsteuerungen im Spiel. Die Misere betrifft die ganze Breite technischer, rechtlicher und finanzieller Aufgaben und sie hat sich über Jahrzehnte aufgebaut. Daraus kann man folgern, dass etwas mit den Problemwahrnehmungen und Zukunftserwartungen in Deutschland – und in anderen hochentwickelten Ländern – nicht stimmt. Politik und Öffentlichkeit haben eher andere Themen auf dem Schirm. Verbreitet ist die Vorstellung, in Zukunft würden sich Wirtschaft, Ausbildungsgänge und Lebensformen immer weiter „dematerialisieren“ – Straßen und Brücken sind bekanntlich ein sehr materielles Thema.
Doch das Problem reicht noch tiefer, es betrifft überhaupt die Mitte des Landes, in der Infrastrukturen angesiedelt sind. Wer die Themen und Werte der Gegenwart Revue passieren lässt, stellt fest, dass sie in zwei völlig getrennten Horizonten liegen: Entweder im Horizont „Mensch“, dem es besser gehen soll und um den sich alles drehen soll. Oder im Horizont „Natur“, die bei allen Problemlösungen inzwischen als letzte Instanz gilt. Während diese beiden Pole hohe Aufmerksamkeit finden, wird die Aufgabe, zwischen beiden Seiten zu vermitteln, entwertet. Unternehmen, Haushalte und staatliche Einrichtungen, die sich ohne diese tägliche Vermittlungsarbeit gar nicht behaupten können, müssen immer Abstriche von der Höhe des Menschenglücks und der Reinheit der Natur machen. Deshalb ist es leicht, ihnen abwechselnd einen sozialen („roten“) und ökologischen („grünen“) Prozess zu machen. Die Obsessionsthemen der Gegenwart, wie der Klimawandel oder die soziale Spaltung, sind immer dual angelegt. Auch das Abenteuer der Energiewende und nicht weniger abenteuerliche soziale Versorgungszusagen sind eingegangen worden, ohne beide Seiten auch nur ansatzweise zusammenzurechnen. Nicht weniger ist der Dualismus von „möglichst viel Mensch“ oder „möglichst viel Natur“ in der Programmatik der großen Volksparteien auf dem Vormarsch. Vor diesem Hintergrund fällt es zunehmend schwer, der sachlichen Mitte des Landes, in der seine praktischen Hebel liegen und seine realen Möglichkeiten bestimmt werden, die notwendige Beachtung zu schenken. Die Rechtfertigung von Härten, die mit Infrastrukturen verbunden sind, fällt ebenso schwer wie die Rechtfertigung von Rücklagen für langfristige Investitionen. Die Infrastrukturkrise ist also eine Legitimationskrise. Die systematische Vernachlässigung der sachlichen Mitte deutet auf einen grundlegenden Aufstellungsfehler von Politik und Öffentlichkeit hin.
Ein Konflikt, der sich nicht umgehen lässt
Es ist erfreulich, dass die Krise nun nicht mehr weggeredet werden kann. Allerdings wird sie gegenwärtig unter dem Stichwort der „Lücke“ adressiert. Eine „Investitionslücke“, wie sie Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung diagnostiziert, soll durch zusätzliche Geldaufwendungen geschlossen werden. Der genannte Betrag ist riesig (200 Milliarden Euro), aber das Denkschema ist recht schlicht: Etwas wurde unterlassen und nun muss etwas getan werden. Zum diesem Denkschema passt, dass man hier leicht einen Vorwurf gegen die Sparpolitik in der Schuldenkrise anschließen kann. Doch das Grundproblem der Infrastrukturkrise ist nicht eine Lücke, sondern eine Verdrängung. Hinreichend Geld für Investitionen ist längst in die öffentlichen Kassen geflossen – es wurde und wird für andere Dinge ausgegeben. Würde von den Steuermitteln, die im Straßenverkehr generiert werden, ein etwas höherer Anteil für dortige Investitionsaufgaben verwendet, wäre das Sanierungsproblem nachhaltig zu lösen. Doch hat es in den vergangenen Jahrzehnten eine Strukturverschiebung zu Gunsten der Sozialausgaben gegeben. Das relative Gewicht des Infrastrukturbudgets im Gesamthaushalt sank. Teilweise kam es zu direkten Transferbeziehungen – wie bei der 1999 eingeführten „Ökosteuer“ auf Energieverbrauch, die ausdrücklich als Zusatzfinanzierung von Renten eingesetzt wurde („Rasen für die Rente“ hieß es damals im Volksmund). Die damalige rotgrüne Koalition dachte nicht im Traum daran, dies Geld für Straßen und Brücken einzusetzen. Diese Steuer – sie besteht weiter und erbringt circa 18 Milliarden Euro im Jahr – zeigt exemplarisch den Vorgang der Verdrängung, der zur Krise der Infrastrukturen geführt hat. Der Sozialstaat frisst den Infrastrukturstaat – das ist der Vorgang.
Nun gibt es Stimmen, die darauf verweisen, dass die aktuellen Probleme leicht als Vorwand genutzt werden können, um neue Zusatzsteuern oder neue Nutzungsgebühren (ohne Steuerausgleich) einzuführen. Sie raten dazu, das Thema der Infrastrukturen nicht zu hoch zu hängen – es könnte allzu leicht auf ein falsches Gleis geraten. Die Sorge ist berechtigt. Und doch führt sie hier in die Irre. Die Krise ist zu ernst. In ihr kommen Grundströmungen zum Ausdruck, die Wirtschaft und Staat in Deutschland in der Substanz bedrohen. Der schleichende Verfall der Infrastruktur ist auch nicht ein Problem „neben“ der Schuldenkrise. Er ist Teil der Schuldenkrise. Denn die verschobene Sanierung bedeutet, dass die Substanzverluste bei Brücken und Straßen nicht in den öffentlichen Haushalten auftauchen und diese über eine Finanzmasse verfügen können, die eigentlich schon gebunden ist – bis die Schäden so groß sind, dass eine Brücke ihren Dienst versagt und deutlich wird, dass hier materielle Schulden gemacht wurden, die letztlich doch beglichen werden müssen. Man kann der Auseinandersetzung mit dieser versteckten Seite der Schuldenkrise nicht ausweichen und sollte sie jetzt nicht – auf welche Zeiten? – verschieben.
Es gibt eine Reihe bedenkenswerter Einzelvorschläge. Dazu gehört die Idee, die Bedeutung der Infrastruktur in die Verfassung zu schreiben und damit einen einklagbaren Sachverhalt zu schaffen, wie es Stefan Ruppert und Dieter Posch in der FAZ vom 7.8.2014 vorgeschlagen haben. Ebenso gibt es den Vorschlag, die Investitionsmittel in einem Sonderfonds „Infrastruktur“ auszulagern und damit zu verhindern, dass eingeplante Mittel unter dem Druck von Sozialkampagnen zweckentfremdet werden. Ein sehr berechtigtes Anliegen. Doch gibt es inzwischen die Erfahrung, dass die Autonomie solcher Einrichtungen in größeren Krisen dem politischen Druck nicht standhält. Es führt also kein Weg daran vorbei: Die Infrastrukturkrise muss in den zentralen Instanzen von Legislative und Exekutive ausgetragen werden. Die Durchsetzung anderer Prioritäten in den öffentlichen Haushalten kann nicht unterhalb der Richtlinienkompetenz der Kanzlerin und des Haushaltsrechts des Bundestages erreicht werden. Auch für die rechtlichen Änderungen, die den Bau und den Betrieb von Infrastrukturen vor überhöhten Umweltauflagen und vor Streikblockaden schützen, braucht man parlamentarische Mehrheiten. Dazu gehört auch, dass die technischen Eliten, über die das Industrieland Deutschland glücklicherweise in beträchtlicher Zahl verfügt, sich wieder stärker in politische Grundentscheidungen einschalten.
(erschienen auf der Internetplattform „NovoArgumente“ am 20.10.2014 und auf der Internetplattform „Die Achse des Guten“ als Dreiteiler am 14.11, 16.11. und 18.11.)