Die SPD, die jetzt in einer existenziellen Krise steckt, ist nicht die bürgerliche Arbeitnehmerpartei des Godesberger Programms. Nur eine Rückbesinnung auf diesen alten Markenkern führt aus der Merkel-Gefolgschaft heraus.
Die Tragik der Sozialdemokratie
14. Februar 2018
Nein, dieser Beitrag ist kein Abgesang auf die Sozialdemokratie. Denn es ist nicht die bürgerliche Arbeitnehmerpartei des Godesberger Programms von 1959, die jetzt so haltlos dasteht. Es ist eine andere Partei auf einer anderen sozialen Grundlage. In der Haltlosigkeit der SPD spiegelt sich die Entbürgerlichung unserer Republik. Wer beim Niedergang der deutschen Sozialdemokratie nur Schadenfreude empfindet, wird kein Gegenprogramm gegen die politische und wirtschaftliche Demontage Deutschlands entwickeln können.
Zunächst ist Spott durchaus ein gesunder Reflex auf die Farce, die die SPD ein Jahr lang veranstaltet hat. Ein Parteivorsitzender, der als neue Führungsfigur der deutschen und europäischen Politik aufs Schild gehoben wurde, ist sang- und klanglos über die Hintertreppe verschwunden. Das ist nicht nur eine Farce des Martin Schulz, sondern all jener, die aus der SPD das Anhängsel einer Werbeagentur machten und es bis dahin brachten, dass ein SPD-Parteitag Schulz mit einem völlig verblendeten 100 Prozent-Votum zum Kanzler-Kandidaten kürte. Und schon folgt die nächste Farce: Nach der Demontage von Schulz geht nun das allgemeine Demontieren los – wieder haltlos übertrieben, wieder nur Show-Business.
Wo aber wäre Halt zu finden? Vielleicht beim Koalitionsvertrag, der so lange sondiert und verhandelt wurde? Offenbar nicht. Auch hier wird man den Verdacht einer Farce nicht los.
Die Krise ging ja erst richtig los, als die Verteilung der Ministerämter bekannt wurde. Nicht bei einer einzigen inhaltlichen Festlegung wurde jener „Aufschrei“ gehört, der dann gegen den Zugriff Schulzes auf das Außenministerium losbrach. Ganz ähnlich war es übrigens bei der CDU: Man protestierte erst, als es um die Verteilung der Ministerien (des Finanzministeriums) ging. Diese erbitterte Personalschlacht bei der Regierungsbildung ist ein einziges Dementi des Regierungsprogramms. Sie zeigt, wie gering der sachliche Vertragswert ist. Niemand hält den ausgehandelten Vertrag offenbar für so gut und verbindlich, dass er auf dieser Basis einer anderen Partei ein Ministeramt gönnt. Oder – siehe der Fall Schulz – einem Mitglied der eigenen Partei. Und selbst der Auserkorene hält dies Programm offenbar nicht für so wichtig, dass er nun um dies Amt kämpft – obwohl doch „sein Thema“ Europa da ganz groß geschrieben steht.
Ein heimtückischer Koalitionsvertrag
Ein näherer Blick auf den Koalitionsvertrag kann nicht schaden. Seine Überschrift lautet
„Ein neuer Aufbruch für Europa
Eine neue Dynamik für Deutschland
Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“
Das klingt groß und kühn. Man könnte erwarten, dass unter so eine Überschrift etwas Ehrgeiziges niedergelegt ist. Aber so eine Erwartung geht davon aus, dass hier bürgerlicher Ernst und Redlichkeit am Werk ist. Dass nachgedacht und nachgemessen wurde, bevor ein solcher „Aufbruch“ und eine solche „Dynamik“ niedergeschrieben wurden. Doch diese Redlichkeit sucht man hier vergebens. Ein „neuer europäischer Aufbruch“ müsste ja von neuen gemeinsamen Anstrengungen und Opfern handeln, aber bei näherem Hinsehen geht es nur um eine neue Runde von Transfers und Haftungen zu Lasten der sogenannten „stärkeren“ Länder. Das ist ein merkwürdiger Aufbruch, bei dem man die Starken schwächer macht. Ganz ähnlich buchstabiert sich die „neue Dynamik für Deutschland“ in neuen Sozialausgaben und in neuen Einschränkungen für die betriebliche Arbeitsorganisation. Welche Dynamik soll das auslösen? Die vielbeschworene „schwarze Null“ im Bundeshaushalt bedeutet – angesichts immens gewachsener Steuereinnahmen – in Wahrheit nur, dass die Einnahmen gleich wieder ausgegeben werden. So sind in den 2010er Jahren in Deutschland die Staatsausgaben so „dynamisch“ gewachsen wie lange nicht mehr. Sobald die außerordentliche Konjunktur der deutschen Wirtschaft nachlässt, ist alles Makulatur.
Das Godesberger Programm als Maßstab
Wenn man die „Krise der SPD“ allgemeiner als Krise der Regierungsbildung in Deutschland ansieht und an den Maßstäben bürgerlicher Sachlichkeit und Verantwortung misst, liegt eine Frage sehr nahe: Was ist aus jener deutschen Sozialdemokratie geworden, die einmal mit großer Entschiedenheit die Rolle einer bürgerlichen Arbeitnehmerpartei angenommen hat? Und die darin im europäischen Vergleich besonders weit ging. Dafür steht das Jahr 1959 und das damals verabschiedete Godesberger Programm. Es bildet den Abschluss eines längeren historischen Prozesses, in dem nicht nur die innere Entwicklung der Partei zum Ausdruck kommt, sondern auch die soziale Integration der Arbeitnehmer in das, was im 19. Jahrhundert die „bürgerliche Gesellschaft“ hieß. Im Bereich der Wirtschaft ersetzte die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeit und Kapital den früheren, marxistisch inspirierten Machtkampf für den Sieg der Arbeiterklasse. Der Satz „So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig“ (Karl Schiller) findet sich im Godesberger Programm. Und die SPD schloss auch Frieden mit dem bewaffneten, wehrhaften Staat – sie akzeptierte die Wehrpflicht, die Westbindung und (in der ersten großen Koalition) die Notstandsgesetze. Ja, so weit war die SPD einmal und sie hatte damals keine Probleme, geachtete Führungspersönlichkeiten hervorzubringen.
Wenn man sich das vergegenwärtigt, wird der Abstand deutlich, der die heutige SPD von der bürgerlichen Arbeiternehmerpartei am Ende der 1950er Jahre trennt. Was sie damals mit Überzeugung als Anliegen einer gereiften, modernen Arbeiterschaft vertrat, gilt ihr heute als Teufelswerk. Die Partnerschaft zwischen Lohnarbeit und Kapital wurde wieder durch eine Fundamentalkritik am Kapitalismus (im Namen einer „moralischen Ökonomie“) ersetzt. Zivile Nutzung der Kernenergie? Kernkraftwerke gelten nun als gefährlichste Bedrohung der Bevölkerung. Bundeswehr und Wehrpflicht? Deutschland soll sich nur als Zivilmacht hervortun. Notstandsgesetze? Als Einschränkung der Menschenrechte heute nicht mehr vertretbar.
So kommt hier das alte Ressentiment gegen „Kapital“ und „Staat“ wieder auf. Diesmal aber spricht daraus nicht die Erfahrung einer ausgebeuteten und unterdrückten Arbeiterschaft, die es tatsächlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch gab, sondern die Empfindlichkeiten und Ängste einer neuen Mittelschicht, die im Laufe des Jahrhunderts stark gewachsen ist. Es sind auch Anliegen, die mit der Arbeitswelt wenig zu tun haben. Die industrielle Produktionssphäre und Wertschöpfung ist ihnen fremd und wird pauschal als Zwangswelt empfunden. Man sieht sich nun eher als Vertreter „des Lebens“ („Work-Life-Balance“) und „des Menschen“ überhaupt. In der heutigen SPD – auch an der vielbeschworenen „Basis“ – regiert eine tief empfundene Scheu vor der Arbeitswelt der älteren SPD-Generation. Es gibt oft geradezu einen Horror vor dem Arbeitsleben der Väter und Mütter. Davon gibt es, insbesondere in altindustriellen Regionen wie dem Ruhrgebiet, vielfältige Zeugnisse. Die Bildungsrevolution hat ihre Väter gefressen.
Kämpfte die SPD des Godesberger Programms noch für die Würde der industriellen Arbeit, so sucht die neue SPD die Würde im Aufstieg und damit außerhalb der industriellen Arbeit.
Zwischen Verbürgerlichung und neuer Entbürgerlichung
Es gibt also nicht „die“ Sozialdemokratie, sondern zwei Prozesse, die das, was unter „sozialdemokratisch“ zu verstehen ist, ganz unterschiedlich prägen. Die heutige SPD ist von der Godesberger SPD fundamental verschieden. Die tatsächliche Entwicklung, die dazu geführt hat, ist sicher eine längere, „gemischte“ Geschichte mit vielem Hin und Her. Aber es ist wichtig, diese beiden Prozesse auseinanderzuhalten, um zu verstehen, warum die SPD heute so hoffnungslos festgefahren erscheint. Der erste Prozess, die Herausbildung der bürgerlichen Arbeitnehmerpartei SPD, kam im Godesberger Programm zu seinem deutlichsten Ausdruck und bringt eine jahrzehntelange vorherige Entwicklung zu ihrem erfolgreichen Abschluss. Aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm ein zweiter, anders gerichteter Prozess Einfluss auf die SPD. Mit der Ausbildung neuer Mittelschichten wurde nicht das bürgerliche Element in der SPD weiter gestärkt, sondern es bildete sich ein neuer Typus von Fundamentalkritik heraus, der die moderne Ordnung von Wirtschaft und Staat in Frage stellte. Damit aber wurde „Godesberg“ entwertet. Nicht durch ein Wiedererstarken des alten proletarischen Radikalismus, sondern durch einen neuen Radikalismus gehobener Ansprüche. Diese Ansprüche besetzten die SPD, ohne dass sie die Gefahr dieser neuen Entbürgerlichung in ihrem ganzen Ausmaß erkennen konnte. Hier begann die Tragik der SPD.
Die Tragik der Sozialdemokratie
Tragisch ist, dass die Godesberger SPD gar nicht die Möglichkeit hatte, mit ihrer Errungenschaft zu arbeiten und darin Bestätigung zu finden. In dem Moment, wo sie für die Arbeiterbewegung den Bürgerstatus eroberte, begann in vielen „reifen“ Demokratien und Marktwirtschaften schon ein Trend der Auflösung bürgerlicher Ordnung. Die neue Entbürgerlichung erwischte die Partei sozusagen auf dem falschen Fuß. Das Godesberger Programm war kaum verabschiedet (1959), da machten sich in den 1960er Jahren schon die ersten Ausläufer des neuen Trends bemerkbar. Das gilt für das politische „1968“, aber auch für Lockerungen in der Lebensführung, im Eingehen familiärer Bindungen und für den zunehmenden Einfluss der Massenmedien. Die bürgerlichen Errungenschaften der deutschen Sozialdemokratie hatten also gar nicht die Möglichkeit, sich zu stabilisieren und zum Gemeingut der Partei zu werden. Das Godesberger Programm, das offiziell erst 1989 durch das „Berliner Programm“ ersetzt wurde, war schon bald nach seiner Verabschiedung kein starker Orientierungspunkt mehr.
Das aber bedeutet: Die SPD hat für die Probleme der Gegenwart gar nicht mehr die Programmidee „bürgerlich“ auf dem Schirm. Sie kommt gar nicht auf die Idee, dass sie gegenüber den vielfältigen Stabilitäts- und Vertrauensverlusten eine Mission der Verbürgerlichung hat und an die Tradition anknüpfen kann, die sie bis Godesberg geführt hat. Sie kann nicht erkennen, dass ihre sozialdemokratische Rolle nicht darin besteht, die Empfindlichkeiten und Ängste der Mittelschichten noch weiter zu radikalisieren und gegen Staat und Wirtschaft zu mobilisieren, sondern ganz im Gegenteil sie zu mäßigen. Im gegenwärtigen Streit Pro oder Contra Große Koalition gibt es in der SPD keine bürgerliche „Godesberger“ Kritik, sondern nur eine linke Kritik. Das ist die Alternativlosigkeit, die die deutsche Sozialdemokratie in einer Dauer-Gefangenschaft hält.
Die Entbürgerlichung ist ein allgemeiner Trend
Das Problem ist natürlich größer: Denn auch die Merkel-Christdemokraten sind keineswegs bereit und in der Lage, eine Rückkehr des Landes zu bürgerlicher Solidität einzuleiten. Man nehme nur die Kriterien von „Godesberg“ und wende sie auf die Rettungspolitik in der Schuldenkrise an. Oder auf die gesamte Wirtschafts- und Finanzpolitik, die ohne die ständige Zufuhr von billigem Geld durch die Europäische Zentralbank gar nicht mehr auskommt. Und was hier für die marktwirtschaftlichen Grundsätze des Godesberger Programms gilt, gilt auch für die staatspolitischen Grundsätze – wenn man an die heutige Demontage von Grenzschutz, Innerer Sicherheit und Wehrpflicht denkt.
Die gesamte neuere deutsche Politik würde den Maßstäben von „Godesberg“ nicht genügen.
Es ist fraglich, ob die Sozialdemokratie die Kraft zu einer schnellen Wende hat. Das hängt auch nicht von ihr alleine ab. Wichtig ist, dass jetzt keine leichtfertige und hämische Verabschiedung der SPD stattfindet. Wenn man die Sozialdemokratie als einen Block behandelt – wie es in der Rede von „dem sozialdemokratischen Jahrhundert“ geschieht – und dann ihr Ende verkündet, zerstört man auch Ressourcen, die für die Konsolidierung Deutschlands noch gebraucht werden. Die Erinnerung an die SPD des Godesberger Programms ist keine Nostalgie, sondern ein wichtiger Schlüssel für die Zukunft. Denn diese SPD hat wirtschaftliche und politische Errungenschaften der Bundesrepublik mitgetragen und verbreitert, die gegenwärtig von den Regierenden zerstört werden. Diese Errungenschaften müssen heute wieder in Wert gesetzt werden. Und dazu wird die Fortsetzung jener Tradition gebraucht, die mit dem Namen „Godesberg“ verbunden ist.
(erschienen bei „Tichys Einblick“ am 16.2.2018)