Die weltgeschichtliche Ära der Nationen hat gerade erst begonnen.

Aus dem Notizbuch: Ohne Nationen gibt es keine Moderne

23.März 2018

So richtig es jetzt ist, die krassen Auflösungserscheinungen in Staat, Wirtschaft und Kultur in Deutschland und anderswo beim Namen zu nennen, so reicht das doch nicht aus. Denn es muss ja die Verteidigungslinie bestimmt werden, an der die Errungenschaften, die jetzt zerstört werden, behauptet werden können. Es geht um die Ordnungsidee und um die reale Ordnungskraft, die in dieser Zeit einen festen, dauerhaften Bezugspunkt bilden können. Es geht also um mehr als ein Regierungsprogramm.

Hier gibt es durchaus erhebliche Unterschiede in der Opposition gegen den Merkelismus und ein Zögern sich festzulegen. Das wird deutlich, wenn es um „Europa“ geht. Auch unter denjenigen, die der Migrationspolitik, der Euro-Rettung oder der Energiewende sehr kritisch gegenüberstehen, neigen viele der Auffassung zu, die Lösung müsse „europäisch“ gefunden werden. Der Vorschlag, dass die Lösung souveränen Nationen anvertraut werden soll, stößt auf große Skepsis. Sind sie nicht „zu klein“ für das Handeln in einem komplexen Umfeld? Allerdings gibt es auch berechtigte Einwände gegen die Vorstellung, man könne existenzielle Fragen so abstrakten Gebilden wie „der Gesellschaft“ oder „der Bevölkerung“ anvertrauen. Sind diese Gebilde nicht „zu groß“ und damit zu intransparent und uferlos, um Maß und Verantwortung des Handelns sicherzustellen? Wird so aus der äußeren Überkomplexität nicht nur eine innere Überkomplexität – also konkret: Willkür? Auch eine Umstellung auf den Begriff der „Kultur“ („Wir brauchen eine andere politische Kultur“) hilft da meines Erachtens nicht weiter. Man wird dann blind für die Gewinne der Ausdifferenzierung von Staat und Wirtschaft und könnte sie nicht verteidigen.

◊◊◊

Das bedeutet, dass die Diskussion um die richtige Ordnung eine geschichtliche Aufklärung braucht, die nicht nur ein Gesamterbe kennt, sondern auch epochale Errungenschaften. Hier steht auch eine „Kapazitätsfrage“ im Raum. Die Wirtschaftsgeschichte kennt den Begriff der „Malthus-Falle“ (benannt nach dem Ökonomen Robert Malthus, 1766-1834), der von einer bestimmten, festen Relation zwischen Bevölkerungszahl und Wirtschaftsressourcen ausging und deshalb, bei Überschreitung dieser Relation, eine schwere Bevölkerungskrise prognostizierte. Die Epoche der Neuzeit (der Moderne im weiten Sinne) zeichnet sich – wenn man Autoren wie Douglas C. North und Robert P. Thomas[1] folgt – dadurch aus, dass mit ihr diese feste Kapazitätsgrenze durchbrochen und erweitert wurde. Wohlgemerkt: „erweitert“ heißt nicht „aufgehoben“. Diese Erweiterung ist also tatsächlich eine messbare und substanzielle Errungenschaft. Und eine Errungenschaft, die mit dem Aufkommen der Nationen verbunden ist. Das wäre sozusagen die Messlatte, an der sich jede heutige Ordnung messen lassen muss.

◊◊◊

In diesem Sinn sind die Nationen Gebilde, die zwar einige „uralte“ Elemente und Verwurzelungen aufweisen, aber als Gebilde insgesamt etwas Neueres sind. Ihre Entstehung ist mit den modernen Zeiten verbunden. Erst im 19. und 20. Jahrhundert haben sie sich universalisiert.[2]

◊◊◊

Es sind vor allem zwei Erfahrungen, die für viele Menschen der Gegenwart die Ordnungsidee der Nation desavouiert hat: Zum einen die Erfahrung, dass in der Ära der Nationen Weltkriege stattgefunden haben, was den Verdacht nährte, dass dem Nebeneinander souveräner Nationen eine Tendenz zum Gegeneinander (zu Verdrängung und Vernichtung) innewohnt. Zum anderen die Erfahrung, dass sich in den letzten Jahrzehnten globale Verkehrs- und Kommunikationsbeziehungen erheblich verdichtet haben. Beide Erfahrungen zusammen haben dazu geführt, dass die Nationen in unserer Zeit sowohl „gefährlich“ als auch „veraltet“ erscheinen.

◊◊◊

Bei manchen ist es auch so, dass sie die Nationen zwar nicht völlig verabschieden wollen, aber sie nur als ein Element unter vielen ansehen – irgendwo in einem institutionellen Kontinuum von lokalen bis globalen Gebilden. Die Nationen im starken Sinne als „die“ Einheiten einer verantwortlichen Souveränität wären dann obsolet. Aber in dem neuen Kontinuum gäbe es solche Einheiten überhaupt nicht mehr, und damit auch keine verantwortliche Souveränität.

◊◊◊

Das Nationale gehört gegenwärtig – insbesondere im Deutschland – zu den „Unwörtern“, die von vornherein negativ konnotiert sind und mit dummen und böse Haltungen („Abschottung“, „Fremdenfeindlichkeit“) assoziiert werden. Auf jeden Fall gilt die Bezugnahme auf die Nation als eine rückwärtsgewandte Bezugnahme. Man versteht die Nation nicht als etwas, das man braucht, um etwas besser zu können. Es wird gar nicht untersucht, in welchem Zusammenhang sich die Nationen gebildet haben und was ihre Bedeutung begründet hat. Die „nationale Frage“ wird irgendwie als Erbfrage gestellt, aber nicht als praktische Frage: Wozu werden Nationen gebraucht?

◊◊◊

Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, dass die neue „postnationale Konstellation“ (Jürgen Habermas)[3] nicht bedeutet, dass wir geschichtlich „weiter“ und „fortgeschrittener“ sind, sondern dass diese Konstellation eher in vormoderne Ordnungen zurückführt. Und dass die eigentliche Ära der Nationen gerade erst begonnen hat, und viele Probleme mit der Unreife dieser Ära und mit vormodernen, imperialen Erblasten zu tun haben. Deshalb ist es wichtig, noch einmal genauer darüber nachzudenken, was unter „Nation“ eigentlich zu verstehen ist und worin Spezifik gegenüber anderen Ordnungen in der Menschheitsgeschichte besteht.

 

Zwischen „lokal“ und „global“: Der Aktionsraum der Nationen  

Das Gebilde „Nation“ ist kein selbstverständliches Gebilde, das sich gleichsam „natürlich“ aus älteren Formen ergeben hat. Das gilt in zweierlei Hinsicht: Nationen sind nicht bruchlos aus den lokalen, provinziellen Gebilden hervorgegangen und die nationale Identität ist nicht einfach eine vergrößerte Provinz-Identität. Sie setzt schon einen übergreifenden Zweck voraus, der die Provinz-Identitäten der Abstammung überragt. Zum anderen sind die Nationen aber kleiner und dichter gefügt als die alten Reiche. Sie sind aus Trennungen und Teilungen hervorgegangen, und mussten mit der imperialen Logik brechen, um sich zu konstituieren. Mit anderen Worten: Nationen sind als Gebilde in einem mittleren Bereich zwischen lokalen und globalen Systemen entstanden. Im Zuge des neuzeitlichen Aufstiegs der Form „Nation“ hat dieser mittlere Bereich eine starke Vergrößerung und Verdichtung erfahren.

◊◊◊

In der Betrachtung geschichtlicher Entwicklungen besteht vielfach die Neigung, die moderne Welt als eine Steigerung in jeder Hinsicht anzusehen – immer schneller, immer größer, immer ungleicher und so weiter. Aber das Gebilde „Nation“ passt eigentlich nicht in dies Bild. Und die vormoderne Welt wird auch nicht angemessen beschrieben, wenn man sie nur als lokale, an den Boden gebundene Welt darstellt. Viel treffender wird sie als fundamental duale Welt beschrieben: Es ist wahr, dass der ganz überwiegende Teil der Menschheit seit dem Neolithikum agrarisch-rural oder handwerklich-urban tätig war und über einen lokalen Wirkungskreis kaum hinauskam. Aber zugleich gab es schon großen Reiche und erstaunliche weite Handelsverbindungen. Der Historiker Fernand Braudel hat – für die Zeit vor der Entdeckung Amerikas – von einem „großen Mittelmeer“ gesprochen, dass durch die Handelsrouten nach Afrika, Asien, Arabien und Nordeuropa gebildet war. Es gab Handelsmetropolen von Weltrang und politische Weltreiche, die viel ausgedehnter und vielschichtiger waren, als es danach selbst die größeren Nationen noch waren.[4]

◊◊◊

Die Bildung der Nationen kann also nicht als Fortsetzung dieses alten Systems mit neuen Mitteln verstanden werden, sondern sie setzte noch einmal ganz neu an. Dies geschah auf eine mittleren Maßstabsebene, auf der dichtere Gebilde entstanden. In der politischen Sphäre waren das die Territorialstaaten mit ihrem flächendeckenden Gewaltmonopol, ihren Infrastrukturen, Finanzsystemen und Verwaltungen.[5] In der wirtschaftlichen Sphäre waren dies zunächst Verdichtungen der Waren- und Kapitalmärkte – und dann folgte jener immense Umbau der Produktionssphäre, den wir als Industrialisierung bezeichnen. Im Vergleich des älteren, extensiven Handelskapitals mit dem neuen Industriekapital wird die neue „intensivierende“ Entwicklungsrichtung des Wirtschaftslebens deutlich. Im kulturellen Bereich kann man auf das Phänomen der Nationalsprachen hinweisen, die sich ebenfalls in der Mitte „zwischen“ alten Eliten-Universalsprachen (Latein, Französisch…) und Lokalsprachen bildeten und eine ganz neue sprachliche Komplexität aufwiesen. Bei allen diesen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Neubildungen wurden natürlich ältere Elemente aufgegriffen (im Vokabular der Nationalsprachen, in den Produkten und Produktionstechniken, in der Elitenbildung), aber dies geschah in einem ganz neuen Zusammenhang.

◊◊◊

In der heutigen Zeit wird gerade dies Merkmal der mittleren Größe der Nationen verkannt, obwohl es eigentlich sehr augenfällig ist. Bei Jürgen Habermas liest sich das so: „Die Weltbevölkerung ist objektiv längst zu einer unfreiwilligen Risikogemeinschaft zusammengeschlossen worden. Nicht ganz unplausibel ist deshalb die Erwartung, dass sich unter diesem Druck jener große, historisch folgenreiche Abstraktionsschub vom lokalen und dynastischen zum nationalen und demokratischen Bewusstsein fortsetzt.“[6] Bei näherer Betrachtung beruht das Abstraktions-Argument auf einer trivialen Vergrößerungslogik der Geschichte: Ihr Grundgesetz soll das Wachstum zu immer größeren Einheiten sein. Das blendet die Tatsache aus, dass die Nationen Gebilde auf einer mittleren Maßstabsebene sind. Habermas interessiert sich überhaupt nicht dafür, warum die Nationen sich den alten Imperien überlegen erweisen und an ihre Stelle treten.

 

Die Sachlogik der Moderne und das Gebilde „Nation“ 

Aus der bisherigen Darstellung könnte man den Eindruck gewinnen, die Nationen seien nur Zwischen-Gebilde – eingebaut zwischen die lokale und globale Ebene. Sie hätten eine Vermittlungsfunktion, also eine sekundäre Rolle in Abhängigkeit von den Veränderungen im lokalen und globalen Bereich. Ihr eigener Aktionsraum sei daher klein. Das ist ein Irrtum und eine gravierende Verkürzung dessen, was „modern“ bedeutet. Denn in der Mitte, die wir bisher als „Zwischenraum“ beschrieben haben, findet jene Erweiterung des menschlichen Daseins statt, die als grundlegende Errungenschaft der Moderne gelten kann: die Entfaltung des Bezugs zur gegenständlichen Welt. In dieser Richtung des „Objektiven“ findet mit der Moderne eine wirkliche Explosion statt.[7]

◊◊◊

Diese Explosion der Dingwelt ist eine so offensichtliche Eigenschaft unserer geschichtlichen Ära, dass sie vielfach übersehen und irgendwie als gegeben vorausgesetzt wird. Aber diese Veränderung auf der gegenständlichen Seite ist das Grundelement, dass es überhaupt gestattet, von der Moderne als einer neuen Ära der Geschichte zu sprechen, in der wir uns seit – grob gesagt – fünf Jahrhunderten bewegen. Das bedeutet, dass von nun an die Weltgeschichte nicht mehr anthropozentrisch als subjektive Geschichte beschrieben werden kann, sondern als Subjekt-Objekt-Geschichte beschrieben werden muss. Das bedeutet eine kolossale Steigerung der Reichweite des Handelns und der Möglichkeiten menschlichen Daseins auf der Erde, aber es bedeutet auch einen Umbau der Freiheit. Sie ist weniger willkürliche Macht, sondern muss Verdinglichungen und Entfremdungen eingehen. Sie muss sich auf die fremden Gesetze der gegenständlichen Welt einlassen. Sie ist jetzt ganz wesentlich „bedingte Macht“.[8]

◊◊◊

Das hat Konsequenzen für die Bauweise der Nationen. In dem geschichtlichen Moment, in dem der Aufstieg der Nationen seinen Anfang nimmt, findet auch ein innerer Umbauprozess statt – ohne dass die Vorstellung von „Nation“ das sofort reflektiert. So wurden und werden Nationen immer noch mit subjektiven Wesenheiten von Völkern gleichgesetzt. Man sucht gleichsam „hinter“ einer empirisch gebildeten Nation eine subjektive Wesenseigenschaft von Menschen, die diese Nation hervorgebracht hat. Aber im realgeschichtlichen Prozess sind längst Sachprobleme, Sachentdeckungen und Sachlösungen wirksam. Der Staat ist nicht mehr Persönlichkeits-Staat von Eliten, sondern Sachstaat mit erheblichem Anlagevermögen und Fachpolitikern. In der Wirtschaft werden nicht nur fertige Produkte bewegt, ausgetauscht und ihre Zirkulation finanziert, sondern die Produktionssphäre wird grundlegend umgebaut und eine große, vielfältige Betriebs-Landschaft akkumuliert. Dieser Sachaufwand führt aber nicht zu der einen riesigen „Megamaschine“ (Lewis Mumford), sondern im Gegenteil zu einer schärferen Begrenzung der Ordnungsgebilde. In der Moderne wird die ganze Welt nicht etwa in einen Größenrausch geworfen, sondern in eine neue, nüchterne Differenzierung der Größeneinheiten in Staat und Wirtschaft. Mehr als in allen vorherigen Zeitaltern der Geschichte werden in der Moderne die „economies of scale“ durch die „economies of scope“ konterkariert und eingehegt. Deshalb kann man heute keine ernsthafte Diskussion über Nationen und Nationalismus führen, wenn man nicht von dieser Sachlogik sprechen will.

◊◊◊

Eine kurze Passage aus einer Theorieskizze von David Friedmann („A Theory of the Size and Shape of Nations”) kann das veranschaulichen. Der Wirtschaftshistoriker Friedmann identifiziert unterschiedliche Größen von Nationen, je nachdem, ob ihre Existenz sich auf Handel („trade“), Landwirtschaft („rent“) oder Industriearbeit („labour“) gründet: „Trade, as a major potential revenue source, should imply large nations; rent should imply small nations; and labour should imply that nations will have closed boundaries or be culturally homogeneous (to maximize exit costs).”[9] In dieser Logik bedeutet nicht das größte Gebiet den größten Vorteil, sondern es gibt spezifische Vorteile für kleinere oder größere Territorien – je nach der vorherrschenden Wirtschaftsform. Die industrielle Wirtschaftsform hat ihre Vorteile in einem Territorium mittlerer Größe. Dies wiederum liegt daran, dass die Produktionssphäre sehr voraussetzungsvoll geworden ist hinsichtlich Ablauf-Steuerung, Investition, Technologie-Entwicklung, Bildung, Sicherheit. Dazu gehört auch die Bedeutung der Haftbarkeit und damit eine neue Aufgabenstellung der Demokratie, die nicht mehr bloße Willensbekundung ist. Generallösungen („möglichst groß“ oder „möglichst klein“) passen hier nicht. So ist die Beschreibung „mittlere Maßstabsebene“ so zu verstehen, dass es um ein breites Spektrum von Größenzuschnitten geht – wie die Größenunterschiede unter den Nationen der heutigen Welt zeigen.[10]

◊◊◊

Die Logik des sachlichen Zuschnitts der Nationen hat eine wichtige Konsequenz. Ein Verdrängungskampf um das größte Gebiet ist in einem Weltsystem von Sach-Nationen sinnlos. Der Wert der Nationen liegt nicht in ihrer Extensität, sondern in ihrer Intensität. Das gilt für die Wirtschaft aber auch für die Infrastrukturen und Gemeingüter des Staates. Das ermöglicht eine Weltordnung, die viel pluralistischer sein kann, als es die vorhergehende duale Ordnung von Weltreichen und lokalen Zugehörigkeiten bieten konnte. Das bedeutet umgekehrt eine Beweislast für alle diejenigen, die für eine bedingungslose Öffnung der Nationen und einer Durch-Globalisierung der Welt plädieren. Sie müssen beweisen, dass dieser Weg nicht wieder in die alte, vormoderne Ära der imperialen Reiche zurückführt. Also in eine duale Welt, in der hoch über einer zersplitterten „Weltgesellschaft“ ein abgehobenes Milieu thront.

 

Nationale Identität heißt bürgerliche Identität

Welche Konsequenzen hat dies Verständnis für die “nationale Identität“? In diesem Beitrag wurde „Nation“ nicht als bloßer Niederschlag eines weit in die Geschichte zurückreichenden Prozesses verstanden, sondern als Formation, „um etwas zu tun“ und Aufgaben lösbar zu machen, die für die älteren historischen Formationen nicht lösbar waren. Nationale Identitäten bildeten sich an diesen Aufgaben. Sie sind nicht als „gläubige“ Identitäten an einen Herrscher gebunden, und auch nicht als „gebundene“ Identitäten auf einen einzelnen Ort oder eine Landschaft fixiert. Sie sind Identitäten, die sich in einem Raum mittlerer Maßstabsgröße bilden. Gegenüber der Homogenität einer bestimmten Abstammung sind nationale Identitäten relativ heterogen. Gegenüber der „Weltgesellschaft“ sind sie hingegen relativ homogen.

◊◊◊

Im vorigen Abschnitt wurde gezeigt, dass nationale Identitäten keine reinen „Wir“-Identitäten sind, sondern sie umfassen auch Gegenstände. Sie sind mehr als ein subjektives Zugehörigkeitsgefühl. Nationale Identitäten speisen sich zu einem ganz wesentlichen Teil aus der Gegenstandswelt der modernen Zivilisation. Man denke nur an die Bedeutung der Eisenbahn im 19. Jahrhundert, die die neue territoriale Dichte verkörperte und die Gestaltbarkeit der gesellschaftlichen Reproduktion immens erhöhte. Das Beispiel zeigt, dass von Nationen nur die Rede sein kann, wenn eine kritische Schwelle der Abhängigkeit überschritten wird und ein neues Niveau der Gestaltbarkeit der eigenen Bedingungen erreicht wird. Aus der Geschichte wird erst eine Geschichte der Nationen, wo das menschliche Dasein „souverän“ wird und die Konfrontation mit der gegenständlichen Welt eigenständig gestalten kann – was nicht „Allmacht“ bedeutet, sondern auch Anpassungen einschließt. In diesem Sinn sind die Nationen Gebilde der Freiheit und die nationalen Identitäten sind Freiheits-Identitäten. Anders ausgedrückt: Erst hier wird die nationale Identität wirklich zur bürgerlichen Identität im vollen Sinn.

◊◊◊

Bei einer rein subjektiven Fassung der nationalen Identität wird häufig ein Recht beschworen, das als „das Völkerrecht“ bezeichnet wird. Gemeint ist „Selbstbestimmungsrecht der Völker“. Allerdings wird hier unterschlagen, dass im Völkerrecht das Selbstbestimmungsrecht gerade nicht allein und absolut gilt, sondern dass es ein zweites Prinzip im Völkerrecht gibt: das Recht auf territoriale Integrität. Diese Integrität darf nur in Extremfällen (wie der drohenden Vernichtung von Volksgruppen) dem Selbstbestimmungsrecht untergeordnet werden. In dieser Disposition des modernen Völkerrechts zeigt sich erneut die Bedeutung der Sach-Dimension in der Moderne. Mit der Größe „territoriale Integrität“ wird die Sachdimension in den Rechtsbegriff der Nation eingeführt. Das Territorium ist eine objektiv-räumliche Größe, die über das subjektive „selbst“ der Selbstbestimmung hinausgeht. Damit wird auch die nationale Identität territorialisiert. Sie ist nicht einfach „Selbstverwirklichung“, sondern ist auf ein gegenständliches, weltbezogenes Tun gegründet. Die territoriale Integrität darf nicht durch eine Berufung auf einen bloß subjektiven „Volkswillen“ außer Kraft gesetzt werden.[11]

◊◊◊

Aber ist eine solche „Objektivierung“ der nationalen Identität nicht unmenschlich-steril? Wird damit nicht alle Leidenschaft aus der nationalen Identität entfernt? Falle ich mit meiner Darstellung dieser Leidenschaft eventuell in den Rücken? Nein, denn es geht um ein anderes Menschenbild und eine andere Leidenschaft. Es ist nicht der reine, nackte, für sich seiende Mensch, der bei der Nation Pate steht, sondern der gegenständlich tätige Mensch. Die nationale Identität ist hohl und arm, wenn sie als „Ich“-Identität und „Wir“-Identität auftreten muss. Erst in Gegenständen und Geschehnissen – ausgedehnt in Raum und Zeit – wird diese Identität anschaulich und fassbar. Als Selfie ist die nationale Identität nicht zu haben.[12]

◊◊◊

Um dabei nicht bei einem starren Strukturalismus zu landen, ist eine Unterscheidung hilfreich: Man findet auf der einen Seite Ordnungs- und Bauprinzipien, die allen Nationen zu eigen sind – die also ihren Typus ausmachen. Als Typus kann man die Nation von anderen geschichtlichen Formationen unterscheiden, und man kann Grundaufgaben angeben, die alle Nationen bewältigen können und müssen. Auf der anderen Seite hat aber jede Nation ihre individuelle, unverwechselbare Geschichte, Zusammensetzung und Position, ihr Gesicht und ihre Gestalt. Diese Individualitäten sind auch nicht rein subjektiv. Man kann sie als Geschehen zwischen Menschen und Dingen verstehen. Der Typus der Nation ermöglicht so eine Vielzahl von einzelnen Ausprägungen. Man kann über die eigene Nation unter der Überschrift „Bei uns ist es so gelaufen“ sprechen. Man kann das stolz, beschämt, glücklich, traurig oder humorvoll tun. Auf jeden Fall kann man es liebevoll tun, ohne ein „Vorbild“ oder „Soll“ für andere zu setzen. Oder, um es in Umwandlung eines berühmten Songs zu sagen: „We did it our way“.

 

Literatur:

Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Frankfurt/M. 1988

Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 Bände. Frankfurt/M. 1990

Fernand Braudel, Civilisation matérielle, Economie et Capitalisme XVe-XVIIIe Siècle. Paris 1979

Peter Burke, Offene Geschichte – Die Schule der `Annales´. Berlin 1991

Carlo M. Cipolla (Hg.), Die industrielle Revolution. Europäische Wirtschaftsgeschichte Band 3. Stuttgart-New York 1985

David Friedmann, A Theory of the Size and Shape of Nations (in: Journal of Political Economy 1977, vol. 85, no.1, p.59)

Thomas L. Friedman, Die Welt ist flach – Eine kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 2008

Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie (in: Die postnationale Konstellation, S. 91-169. Frankfurt/M. 1998)

Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Phänomenologie des Geistes. (Werke, Bd.3) Frankfurt/M. 1986

Gerd Held, Territorium und Großstadt – Die räumliche Differenzierung der Moderne. Wiesbaden 2005

Christoph Menke, Zurück zu Hannah Arendt – die Flüchtlinge und die Krise der Menschenrechte. Philosophiekolumne in Merkur 70 (806), Stuttgart 2016

Lewis Mumford, Der Mythos der Maschine. Frankfurt/M. 1977

Paulinyi, A., Die Umwälzung der Technik in der industriellen Revolution zwischen 1750 und 1840. In:  König, W. (Hg.), Propyläen Technikgeschichte Band 3. Berlin 1997.

Stein Rokkan, Staat, Nation und Demokratie in Europa. Frankfurt/M. 2000

Mark Siemons, Der nackte Mensch. (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20.3.2016)

 



[1] D.C. North; R.P. Thomas, The rise of the western world, Cambridge 1973

[2] Vgl. Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Frankfurt/M. 1988

[3] Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie (in: Die postnationale Konstellation, S. 91-169. Frankfurt/M. 1998)

 

[4] Vgl. Fernand Braudel, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 Bände. Frankfurt/M. 1990; Fernand Braudel, Civilisation matérielle, Economie et Capitalisme XVe-XVIIIe Siècle. Paris 1979; Peter Burke, Offene Geschichte – Die Schule der `Annales´. Berlin 1991. Braudel und die Annales-Schule insgesamt ist sehr stark auf die mittelalterliche und frühneuzeitliche Epoche konzentriert, und gibt dem Aufstieg der nationalen Territorialstaaten und des industriellen Kapitalismus in ihrer Systematik weniger Gewicht. Gerade deshalb tritt hier deutlich der duale Bau der vormodernen Ordnung hervor.

[5] Vgl. Stein Rokkan, Staat, Nation und Demokratie in Europa. Frankfurt/M. 2000. Eine Darstellung der geschichtlichen Herausbildung der Territorialität durch Infrastrukturen (am Beispiel Frankreichs) findet sich in: Gerd Held, Territorium und Großstadt – Die räumliche Differenzierung der Moderne. Wiesbaden 2005.

[6] J. Habermas, 1998, S,89

[7] Vgl. Carlo M. Cipolla (Hg.), Die industrielle Revolution. Europäische Wirtschaftsgeschichte Band 3. Stuttgart-New York 1985. Ebenso: Paulinyi, A., Die Umwälzung der Technik in der industriellen Revolution zwischen 1750 und 1840. In:  König, W. (Hg.), Propyläen Technikgeschichte Band 3. Berlin 1997.

[8] Eine deutliche Spur hinterlässt diese Wende in Hegels Dialektik von „Herr und Knecht“ (Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Phänomenologie des Geistes. (Werke, Bd.3) Frankfurt/M. 1986

[9] David Friedmann, A Theory of the Size and Shape of Nations (in: Journal of Political economy 1977, vol. 85, no.1, p.59)

[10] Die Diskussion über die Eigenart und geschichtliche Stellung der Nationen erfordert also eine Auseinandersetzung mit den Pauschaltheorien über „die Technik“ (wie sie etwa von Lewis Mumford in „Der Mythos der Maschine“ (Frankfurt/M. 1977) entworfen wird. Ein aktuelleres Beispiel ist die flat-world-These, die damit begründet wird, dass man die ganze Sachlogik auf einzelne Verkehrs- und Kommunikationstechnologien reduziert (zum Beispiel bei Thomas L. Friedman, Die Welt ist flach – Eine kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 2008)

[11] In der Auseinandersetzung mit dem Versuch, eine Loslösung Kataloniens von Spanien mit einem reinen Willen, der sich über die spanische Verfassung stellt, zu begründen (wie es die katalanischen Separatisten versuchten), wurde erneut deutlich, wie wichtig die „Objektivität“ der Nation ist. Gerd Held, Verteidigt Spanien! (Zweiteiler bei „Die Achse des Guten“ am 26. Und 27.9.2017)

[12] Die Problematik des „nackten Menschen“ spielt auch im Zusammenhang mit der Figur des Migranten, der aller objektiven Mittel und Bindungen beraubt ist, eine Rolle. Hannah Arendt hat davor gewarnt, diese Figur zu idealisieren oder gar zur Grundfigur aller menschlichen Beziehungen zu machen. Zwei jüngere, nicht besonders schlüssige Anknüpfungen an Arendt finden sich bei Mark Siemons in der FAZ (2016) und Christoph Menke im „Merkur“ (2016)