Die Sicherheit der Bürger gehört zu den Gemeingütern eines Landes. In Chemnitz hat sich gezeigt, wie weit sich Regierung und Medien davon verabschiedet haben.
Sie kennen keine Res Publica mehr
3. September 2018
Der Leitartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29.August von Peter Carstens beginnt mit dem Satz: „In einer Großstadt geraten am Rande eines Volksfestes mehrere Männer in Streit.“ So wird der Ausgangspunkt der Ereignisse in Chemnitz beschrieben. Von einem Angriff auf ein allgemeines Rechtsgut ist nicht die Rede. Die Sache erscheint als Privatstreit, der irgendwie eskaliert ist. Männer „geraten in Streit“. Die Tatsache, dass die Angreifer schon bewaffnet auf den Platz gekommen sind, kommt ebenso wenig vor wie die Tatsache, dass sie eine Gruppe bildeten, dass sie ihre Opfer verfolgten und die Tat dann terroristische Züge annahm, wie die Zahl der Messerstiche zeigt. Zugleich wird der öffentliche Rechtsraum des Volksfestes ausgeblendet: die Ereignisse sollen sich „am Rande“ abgespielt haben. Das Mordopfer wird ausgebürgert.
So manipuliert schon der Einleitungssatz das ganze Szenario. Der tödliche Angriff spielt gar keine Rolle mehr. Er ist irgendwie „geschehen“. Die politische Auseinandersetzung soll, nach Willen des Leitartiklers, erst dort begonnen haben, wo die Chemnitzer auf den Angriff reagierten. Nicht diese Tat ist das Politikum, sondern der Bürgerzorn. Wird die Sachlage so hingebogen, ist es ein Leichtes, den Bürgerzorn als extremistisch darzustellen, als provinziell-intolerant und als rechtsradikal-rassistisch. Und damit hat der Schreiber die Angelegenheit dort, wo er sie hinhaben will: Chemnitz ist das Problem und nicht das Verbrechen, das am öffentlichen Leben der Stadt verübt wurde.
Es ist ein so ungeheuerliches Täuschungsmanöver, das man es kaum glauben kann. Wann hat man in der Geschichte der Bundesrepublik einen tödlichen Angriff völlig zu überspielen versucht, indem man eine Großkampagne gegen einen ganz anderen Feind in Gang setzt? Und dies Manöver findet in der aktuellen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Führungsschicht kaum Widerspruch. Der zitierte Leitartikel ist kein Ausrutscher, sondern zeigt, wie weitgehend das politische Leben in Deutschland degeneriert ist. Es wird von einer Kampagne in Beschlag genommen, und kommt nicht dazu, von den Regierenden die Erfüllung ihrer Pflichten zu verlangen. So findet eine Zerstörung der gemeinschaftlichen Rechtsgüter unserer Republik statt, ohne dass dies überhaupt im Fokus der Aufmerksamkeit steht.
Darum soll es im Folgenden um diese Rechtsgüter gehen. Dort liegt die Aufgabe einer Opposition, die konstruktiv und weiterführend sein will. Sie muss nicht nur für die Verfolgung der Gewalttäter eintreten, sondern für die Wiederherstellung eines Rechtszustands in Deutschland, den die Regierenden – unter vielfältiger Beschwörung der „Offenheit“ – preisgegeben haben. Es geht um das, was im Englischen als „Commons“ bezeichnet wird, oder im Lateinischen als „Res Publica“. Es geht letztlich um die Verteidigung der Republik.
Das Rechtsgut der öffentlichen Sicherheit
Die politische Diskussion in Deutschland ist sehr schnell, wenn es darum geht, individuelle Rechte gegen den Staat zu behaupten. Aber sie tut sich schwer mit den größeren Rechtsgütern, die die Bürger in ihrer Gemeinsamkeit betreffen. Ein solches größeres Rechtsgut ist die Sicherheit der Bürger auf den Straßen und Plätzen, im öffentlichen Raum. Hier ist ein Recht notwendig, das von den Bürgern nicht erst jeden Tag neu erstritten oder ausgehandelt werden muss, sondern das sie schon vorfinden – das gewissermaßen „eingebaut“ ist in die Straßen und Plätze. Nur können sich die Bürger von vornherein darauf verlassen, dass sie ihre Freiheit auch sicher ausgeübt werden kann (und damit erst wirkliche Freiheit wird). Nur dann kann von dem Rechtsraum einer Stadt oder eines ganzen Landes die Rede sein. Ansonsten muss von rechtsfreien Räumen gesprochen werden. Der tödliche Anschlag auf dem Festplatz in Chemnitz hat den Rechtsraum der Stadt verletzt und diese Wunde ist noch offen. Diejenigen, die jetzt eine Kampagne „gegen Rechts“ ausrufen, verhindern, dass diese Wunde geschlossen wird.
Es ist genau dies Szenario, das wir inzwischen an vielen Stellen in Deutschland kennen: Der Zustand des Rechts, der ohne Ansehen der Person von vornherein existiert, ist auf vielen öffentlichen Straßen, Plätzen, Parks, Bahnhöfen und Schulhöfen nicht mehr gegeben. Die Bürger können nicht mehr darauf vertrauen und sich in diesem Vertrauen frei bewegen. Gruppen machen ihr eigenes Gesetz, besetzen „ihr“ Territorium mit dem Recht des Stärkeren. Es haben sich rechtsfreie Räume entwickelt.
Und dies wurde zugelassen, weil man Wunderdinge von „der Gesellschaft“ erwartete und glaubte, sich ein pauschales Misstrauen gegen den Staat – selbst wenn es der Verfassungsstaat war – leisten zu können. Die Wiederherstellung eines gewaltfreien öffentlichen Raums kann nicht an die Bürger delegiert werden. Er kann nicht in der Gesellschaft ausgehandelt werden, sondern muss ihrer freien Entfaltung voraus gehen. Denn die öffentliche Sicherheit ist – wie die anderen Gemeinschaftsgüter oder Commons – eine Voraussetzung von gesellschaftlicher Stabilität und nicht „gesellschaftlich gemacht“. Das ist nicht „autoritäre“ Logik, sondern republikanische Logik. Das ist auch eine ganz praktische historische und aktuelle Erfahrung in Bürgerkriegsländern und den „failed states“.
Über den Slogan „Herz statt Hetze“
„Herz statt Hetze“ lautete ein Slogan, der eine Antwort auf den Volkszorn in Chemnitz geben sollte. Die Berichte der (öffentlich-rechtlichen) Sender waren sichtlich bemüht, diesen Slogan immer wieder zu zitieren und ins Bild zu rücken. Und doch können weder „Hetze“ noch „Herz“ eine Republik tragen. Sie bilden kein Rechtsgut, das alle binden kann. Will man ernsthaft die Bürger mit dieser Ausrüstung in die rechtsfreien Räume schicken? Man würde sie buchstäblich ins Messer laufen lassen.
Und was ist mit den anderen Gemeingütern? Man denke an die Sozialkassen, an das Bildungssystem und auch an den riesigen Unterbau der Infrastrukturen – alles Dinge, die eine Aufbauleistung über viele Generationen erfordern. Und bei denen die Scheidelinie zwischen Nutzen und Missbrauch im richtigen Maß und der nüchtern-klaren Begrenzung liegt. Wie will man dem gewaltsamen oder betrügerischen Raubbau an Gemeingütern begegnen? Die sentimentale Küchenformel „Herz statt Hetze“ ist dafür völlig untauglich. Ihr ist das Denken in Gemeingütern völlig fremd. Und es ist eine kuriose Fehlleistung, dass ausgerechnet öffentlich-rechtliche Sender, die den Gemeingütern verpflichtet sein sollten, das Volk mit einer solch naiven Parole abspeisen wollen.
Eine politische Diskussion muss immer eine Diskussion um Rechtspositionen sein, die ohne Ansehen der Person und ohne Gesamturteile über den Menschen auskommt. Doch der gegenwärtig regierende Ungeist tendiert dazu, immer gleich auf „die Menschen“ zu starren und sie in „Gute“ und „Böse“ einzuteilen. Ohne irgendeine Sache und einen entsprechenden Sachverstand dazwischenzuschalten.
Es geht um die Republik
Die Regierenden und die Geschichtenerzähler in den Leitmedien zeigen, wie wenig sie von dem wissen, was eine Republik ausmacht. Sie zeigen auch, wie wenig sie davon wissen wollen. Wenn man zudem sieht, wie schnell und reflexhaft eine breite Kampagne gegen „die rechte Gefahr“ zur Stelle war, muss man der Tatsache ins Auge sehen, dass die Kräfteverhältnisse in Deutschland eben so sind. Aber man sollte versuchen, den gegenwärtigen Schwachpunkt besser zu verstehen. Die Manipulierbarkeit mit der „rechten Gefahr“ ist nur die Kehrseite der Geringschätzung der gemeinschaftlichen Rechtsgüter, der Commons. An der Stelle, wo sie eigentlich Substanz und Maß liefern könnten, gibt es in Deutschland gegenwärtig nur die einfältige Beschwörung der „Offenheit“. Das liegt der eigentliche Schwachpunkt.
Für die Opposition in Deutschland kommt es also darauf an, sich nicht von diesem Niveauverlust anstecken zu lassen. Es geht um den Rechtszustand im Lande, insbesondere um die Commons, die Deutschland als Einheit definieren. Sie sind es, die in den gegenwärtigen Öffnungs- und Auflösungstendenzen das Gegenprogramm bilden könnten. Die Opposition muss sich die Res Publica auf die Fahnen schreiben.
(Erschienen bei „Tichys Einblick“ am 5.9.2018)