Aus dem Archiv, Jahrgang 2012: Nach der Wahl eines neuen Präsidenten ist in Frankreich keine Aufbruchstimmung spürbar. Zwischen dem Großprojekt einer europäischen Wende und der alltäglichen Realität gibt es einen beträchtlichen Abstand. Eine Rundreise im Sommer 2012.
Land im Wartestand?
18. Juli 2012
Nach der Wahl von Francois Hollande zum Staatspräsidenten ist es in Frankreich merkwürdig still geworden. Die Krise setzt sich fort und nirgendwo hört man von neuen Ideen. Aufbruchstimmung sieht anders aus. Eigentlich sollte mit dem neuen Präsidenten eine Wende in Frankreich eintreten, die ganz Europa aus der Schuldentristesse reißen sollte. Die neue Regierung tut das altbekannte. Aus der Wendestimmung ist schnell eine Wartestimmung geworden. Diese französische Trägheit ist auch aus einem tieferen Grund merkwürdig. Handelt es sich doch um eine Nation, die sich in kritischen historischen Situationen sehr wohl aufraffen konnte, eine Nation mit Urteil und Ehrgeiz. Wo sind Eure guten Fähigkeiten geblieben, liebe Nachbarn? Eine Reise durch die französische Gegenwart des Jahres 2012: 22 Tage und 5000 km ist der Autor durch das Land gefahren. Kein Interview mit den hohen Entscheidungsträgern und offiziellen Beobachtern stand auf dem Programm, aber viele Beobachtungen am Wegesrand und etliche Gespräche kamen, oft beiläufig, zustande. Dies ist also kein „Inspektorenbericht“, der die Zustände für irgendeine Troika nach festen Messgrößen abfragt, sondern ein Versuch, sich in die Stimmungslage unserer Nachbarn hineinzufinden. Die Fahrt führte in einem großen Südbogen von den Alpen über die Mittelmeerküste zum atlantischen Südwesten, dann hinauf ins Zentrum mit der Hauptstadt. Das Auto war immer dabei und half, auch dem Umland der Städte und vielen kleineren Orten Beachtung zu schenken.
Lob des Blumenkübels
Die erste Begegnung, die sich mich gleich nach der Schweizer Grenze erstaunte und dann bis zum Ende der Tour treu begleitete, war … der Blumenschmuck. Überall tauchen die wohlgefüllten und gepflegten Kübel auf, in Vorgärten und auf Fensterbrettern natürlich, aber auch am Bürgersteig, an Straßenlaternen und, in Großausgabe, auf den Mittelinseln der Kreisverkehr. Was für eine Investition und was für eine tägliche Pflege ist hier am Werk, die dem ganzen Land ein geradezu festliches Aussehen gibt. Dieser Schmuck ist kein trügerischer Glanz, sondern passt zu den Landschaften. Sie sind nicht einfach Naturschönheiten, sondern kultivierte Schönheiten, mit wunderbar angelegten Orten und Straßen, die hier einen Hügel krönen und dort einen Fluss begleiten. Es gibt wenig Zeichen Verfall, Verwahrlosung oder Verschmutzung. Ein Land, das sich selbst aufgegeben hat, sieht anders aus. Frankreich, so kommt dem Reisenden in den Sinn, muss einen großen inneren Reichtum haben. Eine Zahl bestätigt das: Das private Sachvermögen beträgt 375% des jährlichen Inlandsprodukts, in Deutschland ist das Vermögen im Verhältnis zur Wertschöpfung geringer. Für den hohen Wert bei unseren Nachbarn sind vor allem Immobilien ausschlaggebend, schon seit längerem und auch ohne Spekulationsblase. Zu diesem intakten Eigentümer-Frankreich tragen auch die örtlichen Kommunen bei.
Ferien vom allgegenwärtigen Staat
Die Mitfahrzentrale von Annecy in den französischen Alpen hat mir zwei Mitfahrer beschert: Yves und Christophe, gerade 20 Jahre alt, haben gerade ihr erstes Universitätsjahr in Paris hinter sich. Nun haben sie Ferien und wollen 3 Wochen im Haus von Yves´ Onkel verbringen, irgendwo im Hinterland von Montpellier. Solche Ferien bei näheren oder ferneren Verwandten machen viele junge Leute, erzählen die beiden. Sie empfinden das nicht als Einengung, sondern als ein Stück Freiheit. Dazu muss man wissen, dass heute die Kindheit und Jugend der meisten Franzosen in der Obhut staatlicher Krippen und Schulen stattfindet. Diese Einrichtungen bestimmen den Rhythmus der Tage und Wochen, „Wenn ich hier unten bin, fühle ich mich endlich einmal chez moi (zu Hause)“, sagt Yves, „in der Schule ist alles schon festgelegt.“ Jetzt, beim Studium, fühlt sich das auch nicht anders an, ergänzt Christophe. Wir Deutschen können uns kaum vorstellen, wie sehr – unter solchen Umständen – Ferien in der Familie ein Abenteuer sein können. So kann man sich vielleicht die vielen Familien- und Privatgeschichten erklären, die im französischen Kino ein überaus erfolgreiches Genre bilden. Der Film „Ziemlich beste Freunde“, ein Riesenerfolg, spielt eben nicht im staatlichen Pflegeheim; und der Rekordfilm über den Briefträger, der von Südfrankreich in den „öden“ Norden (zu den „Sch´tis“) verschlagen wird und dessen schrägen Charme entdeckt; passt nicht zum republikanischen Gleichheitsdiskurs; auch die schon etwas älteren Verfilmungen der Erzählungen Marcel Pagnols erzählen von den Abenteuern einer eigensinnigen Welt, die realistisch und romantisch zugleich ist. Sie erzählen auch das Unglück mit Humor und Zärtlichkeit. Diese Wertschätzung für das Krumme und Schräge – aber nie für das Rohe – ist vielleicht ein tiefer Instinkt der Franzosen, die sich einem besonders stark durchorganisierten und „durchregierten“ Alltag gegenübersehen.
So verging die Fahrt von Annecy nach Montpellier mit Schul-und Filmgeschichten. Am Ziel angekommen, stehen wir vor einem unscheinbaren Häuschen in einem kleinen Ort, mit Blumenkübeln natürlich. Die Tür wird aufgeschlossen und ich blicke erstaunt umher auf alte, massiv und edel glänzende Schränke und Kommoden, auf einen wunderbaren Esstisch und in eine Küche mit alten Fliesen – ein wahrer Schatz und nur diskret mit neueren Dingen ergänzt. Da war er wieder, der französische Reichtum. Soll ich nun noch ein paar Stunden bleiben und als Fahrer die Gastfreundschaft weiter beanspruchen? Ich habe mich höflich verabschiedet und alles Gute für die Ferienfreiheit gewünscht.
Immobiliengeschichten
Das Hafenstädtchen Sete liegt am Mittelmeer bei Montpellier und ist kein reiner Touristenort, sondern ein bedeutender Hafen mit Industrie, mit Fischerei und Fähren nach Marokko. Ich kenne ihn schon über viele Jahre. Dieses Jahr hat sich auf den ersten Blick nicht viel verändert. Auch politisch gibt es nichts Spannendes zu berichten aus einer Stadt, die seit längerem von einer linken Mehrheit regiert wird. Im Bistrot drehen die Leute kaum die Köpfe, wenn die Fernseh-Nachrichten kommen. Madame Vergnier von der Immobilienagentur erzählt mir, dass in dieser Region noch viel Nachholbedarf im Markt ist, im Vergleich zur benachbarten Cote d´Azur. In der Kernstadt allerdings scheuen die Leute die hohen Preise, den Sanierungsaufwand und die Zwänge des knappen Raums. Die Läden und Restaurants sind voll, aber wenn man genau hinschaut, sieht man viele Etagen leer oder in schlechtem Zustand, auch in bester Lage am „Großen Kanal“. Die vollen Bürgersteige zeigen, dass in Frankreich noch viel Geld im Umlauf ist, aber es gibt doch feine Verschiebungen: Die Leute gehen seltener abends zu einer kompletten Mahlzeit aus, sagt Madame Vergnier, sie essen zu Hause und gehen dann noch aus, um ein Glas zu trinken. Tatsächlich sind die großen Supermärkte voll, auch am Sonntagvormittag. Viele Franzosen sind in kulinarischen Dingen wohl Heimwerker geworden. Überhaupt ist die Urbanität in Frankreich teuer geworden, weil bei den Dienstleistungen die Inflation längst begonnen hat. Eine „Brochette“ (Fleischspieß) in einem einfachen Lokal am Hafen kostet fast 13 Euro, für einen Eintritt in ein Popkonzert mit Provinzband muss man 37 Euro hinlegen. Bisweilen meint man die Anstrengung zu spüren, die es die Familien, die lohnzahlenden Unternehmen, aber auch den Sozialstaat kostet, um die Nachfrage hochzuhalten. Meine Mitfahrer nach Montpellier hatten mir erzählt, dass es heute ein delikates Problem ist, seine Liebste zum Essen einzuladen – man möchte gerne, aber es gibt auf der Speisekarte kaum etwas Bezahlbares. Als ich später in Bordeaux und dann in Paris die Speisekarte studierte, musste ich an sie denken. „Le pouvoir d´achat“ (die Kaufkraft) ist zu einer Obsession der französischen Gesellschaft geworden.
In der Nähe von Marseille steht ein Gebäude, das man zum Denk- und Mahnmal für die Entwicklung des zeitgenössischen Staatswesens machen sollte. Es ist das „Immeuble Le Corbusier“, benannt nach dem bekannten Architekten. Es ist ein großer, freistehener Wohnblock. Die Gründeridee war, das man eine Stadt ganz neu und „rational“ errichten könne, wenn man das Leben in „Funktionen“ einteilt und dafür Einrichtungen und Dienste in den Block einbaut. Kurzum, eine perfekt durchorganisierte, künstliche Stadt – so wie man in Frankreich die Kindheit und Jugend verschulen wollte und tatsächlich verschult hat. Eine tolle Idee, doch der perfektionierte Humanismus scheiterte auf eigenartige Weise. Die Leute in den Gebäuden wurden nicht selbstbewussten Städter, weil sie kein „chez moi“ mehr hatten. Kein Zuhause, das sie wirklich als ihr Eigenes betrachten konnten. Die unzähligen Satellitenstädte, die – meist in schlechterer Qualität – überall errichtet wurden, verwahrlosten oder benötigten immer neue Sanierungen und Sozialprogramme. Seit Jahrzehnten hat man hier Milliarden versenkt. Keiner der Verantwortlichen glaubt wirklich an ein glückliches Ende und doch kann sich keiner etwas Anderes vorstellen als ein Weiter-So. Fürwahr ein Denkmal für die französische Form des Sozialstaats, eine der teuersten der Welt. Bernard, Stadtplaner im Ruhestand, den ich in einer kleinen Le Corbusier-Ausstellung traf, erzählte mir folgende Geschichte. Vor Jahren kamen Bewohner auf die Idee, den Le Corbusier-Block auf eigene Faust ein bisschen umzubauen: Sie klebten auf die kahle Fassade, rund um ihre randlosen Fensteröffnungen, selbstgemachte Gipskacheln mit Mustern und Figuren. Das hatte Charme, aber im Handumdrehen wurde daraus wieder ein offizielles Fassadenprogramm.
Die periurbane Subkultur
Doch gibt es noch einen anderen Wohnungsstil, ohne den Frankreich gar nicht denkbar ist: die unzähligen Einzelhäuser im Umland der größeren Städte. „In weniger als einem halben Jahrhundert und fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hat sich die Landkarte Frankreichs verändert“, schreibt Raphaelle Rérolle in der Zeitung Le Monde. „Periurban“ nennt man diese Welt, die sowohl ländliche als auch urbane Elemente hat. Zwar erfordert sie längere Fahrten zur Arbeit, zum Einkauf oder zur Freizeitbeschäftigung, aber sie bietet auch einen Fixpunkt, in dem man sein eigener Herr ist. Man schätzt, das heute 30-40% der Franzosen im periurbanen Raum leben, darunter auch viele Menschen mit geringeren Einkommen. Sie können das, weil sie vieles selber machen und auf manches verzichten. Das Zauberwort heißt „Pavillon“. Das ist ein einfacher Haustyp, oft nur einstöckig und ohne Keller, mit einem kleinen Garten dabei. Was früher einmal die „Ente“ von Citroen in der Autowelt war, ist der Pavillon in der Häuserwelt. Ich bin, im Umland von Toulouse ebenso wie im Pariser Raum stundenlang in diesem unendlichen, auf den ersten Blick gleichförmigen Pavillon-Meer umhergefahren. Man kommt ins Grübeln. Wohnen hier egoistische Menschen, denen jeder größere Ehrgeiz abhandengekommen ist? Oder ist es eine stärker in sich ruhende Lebenswelt, die nicht so abhängig von fremder Zuwendung und politischen Wichtigtuern ist? Jedenfalls trifft man dauernd Franzosen, die so wohnen, wie Bernard, der Le Corbusier-Kenner aus Marseille, oder Madame Vergnier, die Geschäftsfrau aus Sete. Oder die sich freuen, einen periurbanen Onkel zu haben, wie der Student Yves aus Paris. Wenn heute in kleinen Orten die alten Bäckereien wieder aufmachen oder wenn die großen Supermärkte am Samstag zu lebhaften Treffpunkten werden, liegt das an diesem Trend.
Allerdings sollte man nicht zu viel erwarten. Dass die periurbane Welt ein wirtschaftlich starkes Unternehmertum hervorbringt, ist zweifelhaft. In der Region Midi-Pyrenées mit ihrer Luftfahrtindustrie sah ich große Montagekomplexe, aber auch weiter verstreute Zulieferbetriebe. Doch handelt es sich um einen Mittelstand, der stark von seinen großen Auftraggebern abhängig ist. Sie bestimmen die Produktentwicklung. „Toulouse funktioniert nicht wie Baden-Württemberg“, sagt Robert, ein langjähriger Freund und Forscher an der Universität Toulouse. Er sieht die Stärke der deutschen Wirtschaft in ihren von Eigentümer-Familien geführten Unternehmen, die anpassungs- und entwicklungsfähig sind. In Frankreich ist diese Mitte schwächer. In Deutschland gibt es viermal so viele Industrieunternehmen im Segment von 100-250 Beschäftigten. Die Zeitung Le Monde nannte noch einen Unterschied: In Deutschland haben 30-40% der höheren und mittleren Führungskräfte eine betriebliche Lehre absolviert, bei unseren Nachbarn höchstens 10%. Die Verschulung der Bildungsgänge schwächt die realwirtschaftliche Vernunft. Robert glaubt, dass damit auch die fehlende öffentliche Diskussion über Frankreichs Wirtschaftsprobleme zusammenhängt. Ein Editorial der Zeitschrift Le Point, die ihre Aprilausgabe der Lage der Nation gewidmet hatte, sprach von „Realitätsflucht“.
Auf der Suche nach dem verlorenen Ehrgeiz
Ein Abendessen mit Robert in der Nähe von Orleans, am Ufer der Loire. Er hat hier einen dienstlichen Termin und ich habe ihn von Bordeaux aus mitgenommen. Patchwork-Reisen sozusagen. Im Abendlicht leuchten die blauen Dächer eines Schlösschens herüber und die Loire, der man ihr altes, breites Lotterbett gelassen hat, nimmt gemächlich ihren Weg Richtung Westen. Es ist gut, wenn man ein Nachbarland durch Freunde kennenlernt. Man hört von ihnen nicht nur die offiziellen Antworten, sondern sie zeigen auch einmal ihre gewagteren Gedanken. „Ich glaube nicht, das Frankreich dem deutschen Wirtschaftsweg mit seinem starken Mittelstand folgen kann“, sagt Robert. „Aber als europäischer Transferempfänger werden wir auch nicht glücklich. Eigenständigkeit ist für uns ein unverzichtbares Gut. Wir sind ein Volk, das `ich´ sagen will.“ Ich frage ihn, ob es nicht Franzosen gibt, die sich besser auf die Krise eingestellt haben. Ja, es gibt viele, die der gegenwärtige politische Richtungsstreit kalt lässt, in den Juni-Wahlen zur Nationalversammlung war die Beteiligung niedriger als jemals zuvor in der V. Republik. Man spricht bisweilen schon von zwei Frankreichs mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten – ein von der Hand in den Mund lebendes Frankreich, das mehr und mehr unter Schuldendruck gerät, und ein langsames Frankreich, das mehr in sich ruht und über seine private Unabhängigkeit sorgsam wacht. Die Leute, die ins Umland gehen? Robert spricht vom Alltagsleben. Schon immer würde bei unseren Nachbarn ein großer Unterschied zwischen der persönlichen Lebensführung und der durchrationalisierten „Ordnung“ gemacht. Die Gelassenheit und Improvisationskunst, die die Deutschen oft an Frankreich schätzen, wären ohne diese Unterscheidung gar nicht möglich. „In der Lebenswelt findet man die schrägen Typen und die extremen Leidenschaften. Frankreich hat nicht den größten Fußballverband, aber jede Menge Höhlenforscher, Tiefseetaucher, Weltumsegler, Felskletterer“, sagt mein Freund. „Ja, das Land von Jules Verne, Saint Exépury oder Jacques Costeau.“ „Die Filme und Romane feiern die Ausbrecher und Freischärler“. Man kommt auf erstaunliche Spuren, wenn man sich auf die Suche nach dem französischen Ehrgeiz macht. Das Abendessen mit Robert wurde noch ein recht bunter Abend und draußen floss die Loire weiter gemächlich vor sich hin.
Ist Frankreich ein Land im hilflosen Wartemodus? Ein Land ohne Ehrgeiz? Vielleicht gibt es zwei verschiedene Formen des Ehrgeizes bei unseren Nachbarn. Einen Ehrgeiz, der nur das große Projekt kennt, der ständig des staatlichen Antriebs bedarf und deshalb jetzt zum Warten verurteilt ist. Und einen zweiten, langsameren Ehrgeiz, sehr kleinteilig, bisweilen kleinkariert. Aber er kann Verluste ertragen und hat den Charme des Eigenen. Er könnte das Land im Gleichgewicht halten.
(erschienen in der Tageszeitung DIE WELT unter der Überschrift „Auf der Suche nach dem verlorenen Ehrgeiz“ am 25.7.2012)