Einen Ausnahmezustand zu verhängen, ist relativ leicht. Aber ungleich schwerer ist es, ihn wieder zu beenden. An dieser Aufgabe werden die Regierenden im Lande zu messen sein.
29.März 2020
Corona – Im Teufelskreis der Schutzmaßnahmen?
Die erste Phase der Auseinandersetzung mit der Corona-Pandemie läuft auf ihren Höhepunkt zu. Es wird mit drastischen Maßnahmen versucht, die Übertragungswege der Epidemie abzuschneiden, um die Ausbreitung zumindest zu verlangsamen und einen exponentiellen Anstieg der schweren Erkrankungen zu verhindern. Das ist im Großen und Ganzen vernünftig. Man kann manches kritisieren, entweder eine zu langsame, nachlässige „leichtsinnige“ Reaktion oder eine zu heftige, pauschale „hysterische“ Reaktion (manche äußern diese beiden konträren Kritiken in einem Atemzug). Aber hier geht es um Einzelheiten und man sollte jetzt nicht um jeden Preis versuchen, den Regierenden „Versagen“ vorzuwerfen. Man kann ihnen, in allen Ländern, zunächst einmal den ernsthaften Versuch konzedieren, der Pandemie entgegenzutreten.
Und dennoch steht schon ein grundlegendes Problem im Raum. Es betrifft die zweite Phase der Pandemie, in der eine Art Stellungskrieg stattfindet. Die Pandemie ist dann noch nicht im Auslaufen, aber es ist eine erste Abwehrlinie errichtet. Diese zweite Phase, in der das Virus noch nicht besiegt ist, kann recht lange dauern. Es kommt also darauf an, die Maßnahmen auf diese lange Dauer einzurichten. Das bedeutet, dass die Stellungen differenzierter, zielgenauer und damit auch für das gesellschaftliche Leben tragbarer angelegt sein müssen. Geschieht das nicht, nimmt das wirtschaftliche, kulturelle und politische Leben dauerhaft Schaden. Existenzen, Betriebe, Infrastrukturen, Kultureinrichtungen und die vielfältigen Formen der demokratischen Entscheidungsfindung werden in ihrer Substanz getroffen. Das Land blutet aus. Die zweite Phase ist also eventuell weniger dramatisch, aber sie ist noch gefährlicher als die erste Phase. Denn hier können viel weiterreichende Verheerungen geschehen.
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Vorsicht vor einem zu simplen Lagebild – Schon frühzeitig ist auf die verheerenden Folgen hingewiesen worden, die eine pauschale Stilllegung der Gesellschaft bis zu einem „Sieg über den Virus“ haben kann. Thomas Straubhaar hat das schon am 17. März in einem Artikel in der Tageszeitung „Die Welt“ sehr sorgfältig erklärt und eine differenziertere Strategie vorgeschlagen, die den Schutz auf die am meisten gefährdeten Gruppen konzentriert. Sonst würden die Schäden in Wirtschaft und Gesellschaft unverhältnismäßig hoch. Dazu passt eine Feststellung von Christoph Lütke, Professor für Wirtschaftsethik an der TU München: „Das Problem ist, dass derzeit gar keine Abwägung von politischen und ökonomischen Argumenten mehr möglich ist. Es herrscht das Primat der Mediziner…Diese erzwungene Vollbremsung der Wirtschaft steht in keinem Verhältnis zum Nutzen der Schutzmaßnahmen.“ (FAZ vom 26.3.2020).Solche kritischen Überlegungen waren wohl auch der Grund, warum die Regierungen Großbritanniens, der USA und der Niederlande zunächst vor einem generellen „Shutdown“ zurückschreckten. Aber sie haben sich dann doch dazu entschlossen. Das macht die Erwägungen nicht falsch, aber es spricht dafür, verschiedene Phasen in der Auseinandersetzung mit der Corona-Epidemie zu unterscheiden. Es war wohl richtig, in einer ersten Phase eine generelle Verteidigungslinie zu suchen und eine entsprechend allgemeine Disziplin durchzusetzen. Doch umso mehr werden jetzt in einer zweiten Phase die kritischen Überlegungen wichtig.
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Die Entscheidung über das Ende des Ausnahmezustands – Für die zweite Phase der Auseinandersetzung mit dem Corona-Virus gibt es eine Voraussetzung: Es muss entschieden werden, den Ausnahmezustand, der jetzt durch die drastischen Maßnahmen geschaffen worden ist, zu beenden. Das ist keine einfache Entscheidung, die sich von selbst „durch die Fakten“ ergibt. Denn der richtige Zeitpunkt für die Beendigung des Ausnahmezustands ist nicht identisch mit dem Zeitpunkt des Pandemie-Endes. Man kann mit der Beendigung nicht so lange warten, bis jegliches Risiko einer Ansteckung auf Null gesunken ist. Man muss ein gewisses Restrisiko akzeptieren. Es ist also eine Entscheidung, die politisch heikel ist. Denn man muss sehenden Auges und mit offenen Worten erklären, dass man bereit ist, neue Erkrankungen und wahrscheinlich auch noch Todesfälle in Kauf zu nehmen. Dass man bereit ist, sich dem öffentlichen Druck „böser Bilder“ auszusetzen, und den Vorwurf auszuhalten, man sei schuld am Tod unschuldiger Menschen. Auf solche Entscheidungen sind die Regierenden unserer Zeit – sagen wir es vorsichtig – nicht gut vorbereitet.
Und doch ist eine solche „Aufhebung des Ausnahmezustands trotz Restrisiko“ kein Ausdruck von Rücksichtslosigkeit und Willkür. Diese Entscheidung ist ein Gebot der Vernunft und das Ergebnis einer erweiterten Abwägung. Sie ist nicht rücksichtslos, sondern berücksichtigt Dinge, die in der ersten Phase der Corona-Krise zu kurz kamen. Denn nun müssen auch die Zerstörungen in die Waagschale gelegt werden, die durch eine Fortsetzung des „Shutdown“ bei den Existenzen der Bürger und im gesellschaftlichen Leben bewirkt werden. Es geht um die Zerstörung von beruflichen Fähigkeiten und Betriebsanlagen. Es geht um Errungenschaften von Wirtschaft und Demokratie, für die Generationen gearbeitet und gestritten haben. Es geht um Existenzen, die das Lebenswerk von Menschen sind, und hinter denen ganze Biographien stehen. Wie töricht ist da die Vorstellung, nur die Medizin hätte mit dem „Schutz des Lebens“ zu tun – und sie allein wäre deshalb jetzt so etwas wie die Repräsentantin der höchsten Werte im Lande.
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Wo die gesundheitlich-medizinische Urteilskraft zu kurz greift – In der ersten Phase der Corona-Abwehr war die Aufmerksamkeit ganz auf das medizinische Problem konzentriert, wie man den Verlauf der Epidemie so strecken kann, dass er die Behandlungsmöglichkeiten des Gesundheitssystems nicht sprengt. Die Graphik, die man in den Medien unzählige Male zur Erläuterung der Lage gezeigt hat, zeigt einen „Berg“ von Erkrankungsfällen und eine waagerechte Linie mit der Kapazitätsgrenze des Gesundheitssystems. Die Aufgabe, so wurde bildhaft verdeutlicht, bestand darin, den „Berg“ so abzuflachen, dass er unter der „Linie“ bleibt. So weit, so gut. Aber zur Beschreibung der Situation in der zweiten Phase reicht dies Modell nicht aus. Denn in ihm kommen „Existenzen“, „gesellschaftliches Leben“, „Errungenschaften von Wirtschaft und Demokratie“ nicht vor. Doch jetzt müssen sie auftauchen – und zwar um so dringender, je länger der Ausnahmezustand dauert. Nun müssen, um im Modellbild zu bleiben, die Maßnahmen des Ausnahmezustands einer Linie unterworfen werden, die die Grenze des Erträglichen für Gesellschaft, Wirtschaft und Demokratie markiert. Diese Grenze kann nicht von den medizinischen Experten gezogen werden. Über sie muss politisch entschieden werden, von den freiheitlich-demokratischen Institutionen der Bundesrepublik, also letztlich von der Gesamtheit der Staatsbürger dieses Landes. So rückt in dieser Krise die Rolle des Souveräns wieder in den Fokus.
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Die Hauptsorge der Menschen hat sich verändert – Diese Grenze des wirtschaftlich-kulturell und menschlich-gesellschaftlich Verträglichen beschäftigt jetzt die Menschen immer mehr. Die Professorin Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach schreibt am 25.März in der FAZ: „Durch die rigorosen staatlichen Maßnahmen treten nach den gesundheitlichen nun die wirtschaftlichen Risiken immer mehr in den Vordergrund. In der ersten Märzhälfte machte sich knapp die Hälfte der Bevölkerung Sorgen über einen Einbruch der Wirtschaft. In den Tagen danach schnellte dieser Anteil auf annähernd 70 Prozent hoch.“ Man sollte den Menschen, die so denken, nicht vordergründige Geld- und Konsuminteressen unterstellen. Man sollte ihnen nicht vorhalten, „inhuman“ zu sein und „den Menschen“ nicht im Blick zu haben. Ein Mensch ist zum Beispiel Thomas Bergmann, ein Hotelier in Berlin, über dessen Probleme in einem Artikel im Wirtschaftsteil der FAZ vom 24.März berichtet wird. Es wird geschildert, wie er seiner Belegschaft die schlimmen Nachrichten überbringen musste: „Im Innenhof seines Büros hat er seiner Belegschaft erklärt, wie schlimm es um den Betrieb steht. In Einzelgesprächen hat er dann einem nach dem anderen gesagt, dass er vorerst in Kurzarbeit arbeiten muss und was das bedeutet. 60 bis 67 Prozent des Gehalts werden dann noch gezahlt, bei Reinigungskräften, Hausmeistern und Rezeptionisten bleibt da nicht viel übrig. `Da fließen dann schonmal die Tränen´, sagt Bergmann.“ Wie viele solcher bitteren, traurigen Szenen, bei denen menschliche Existenzen kaputtgehen, gibt es in diesen Tagen. Das als gesunde Schrumpfung der Konsumgesellschaft zu bezeichnen, ist blanker Zynismus.
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Das Ausmaß des wirtschaftlichen Schadens – Clemens Fuest, der Präsident des IFO-Instituts hat geschätzt, dass jeder Monat, den Deutschland im gegenwärtigen wirtschaftlichen Stillstand verharrt, zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts zwischen 4 und 5 Prozent führt. Manfred Schäfers schreibt im Leitartikel der FAZ vom 24. März, nachdem die Bundesregierung einen Nachtragshaushalt mit Milliardenhilfen beschlossen hat: „Wenn die Wirtschaft zwei Monate lang teilweise stillsteht, entstehen Wohlstandsverluste zwischen 255 und 495 Milliarden Euro. Jede weitere Woche kostet zusätzlich 25 bis 57 Milliarden Euro. Die Bundesregierung versucht vieles von dem auszugleichen, was vorher privat erwirtschaftet wurde und nun wegfällt. Wie lange kann sie das in diesem Maße durchhalten?“
Schäfers hat Recht, aber er verkennt noch den Ernst der Lage, wenn er schreibt, der Staat könne einstweilen vieles von dem ausgleichen, was die (private) Wirtschaft nicht liefern kann. Von wegen! Der Staat wird ja nicht auf einmal zum Produzenten, bloß weil er Geld auf den Tisch legt. Das zaubert keine Arbeitskräfte, Betriebe, Kunden, Geschäfte herbei. Der entscheidende Unterschied in dieser Krise ist nicht „staatlich oder privat“, sondern „geldwirtschaftlich oder realwirtschaftlich“. Realwirtschaftlich spielt die Zeitdauer auch eine viel wichtigere Rolle. Denn mit dem „Shutdown“ geht nicht nur der Güterausstoß zurück, sondern auch die Betriebsanlagen, das berufliche Können, die Kooperationserfahrung der Belegschaft, die gewachsenen Marktbeziehungen werden schwächer und gehen verloren. Dort, wo gerade noch aktive Standorte waren, entstehen dann „lost places“, wie wir sie in altindustriellen Regionen kennen.
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Wie man aus dem Notstand eine Tugend machen will – Die Milliarden-Programme, die jetzt allerorts aufgelegt werden, sichern nur das nackte Überleben in der Not, aber sie enthalten kein Element, das aus dieser Not herausführt. Sie sind also keine „Brücke zur Normalität“ – wie manche kreative Formulierung in diesen Tagen glauben machen will. Die Milliarden bringen die Betriebe der Normalität keinen Schritt näher, weil sie das Grundproblem gar nicht berühren: Arbeitskräfte und Kunden sind am Zugang zum Wirtschaftsprozess gehindert. Ganz physisch-praktisch. Es fehlt nicht an Geld, und das unterscheidet die gegenwärtige Krise grundsätzlich von der Schuldenkrise und von allen Konjunkturkrisen der vergangenen Jahre (Jahrzehnte), die größtenteils mit dem Patentmittel des billigen Geldes beantwortet wurden. Dies Mittel hilft jetzt nicht weiter. Die Blockade der Realwirtschaft muss aufgehoben werden. Das geht nur durch Aufhebung der Notstands-Maßnahmen, die in ersten Schritten schon sehr bald erfolgen müsste. Das gilt für das gesellschaftliche Leben insgesamt. Man hört vielfach die Behauptung, dass in der jetzigen Situation ein „ganz neuer sozialer Zusammenhalt“ entstehen würde. Das ist ein merkwürdiger „Zusammenhalt“, der dadurch entsteht, dass die Bürger daran gehindert werden, sich frei zu versammeln. Nicht weniger merkwürdig ist die Kampagne “Wir bleiben zu Hause“ in den Massenmedien, die den Eindruck erweckt, man sei dann „miteinander stark“. Dabei sind es doch die Massenmedien sind, die in dieser Situation einen ganz einseitigen Machtzuwachs erfahren.
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Es geht um grundlegende Rechte – Auch in rechtlicher Bewertung gibt es an der gegenwärtigen Situation nichts zu beschönigen. Die ehemalige Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff schreibt in der FAZ vom 24.März: „Im erreichten Ausmaß lässt sich das gesellschaftliche Leben nur für einen kurzen Zeitraum regulatorisch drosseln. Das steht unabhängig von jeder Verhältnismäßigkeitsüberlegung fest…die Vorstellung, man könne die Gesellschaft als Ganze weitgehend schließen, während der Staat solange wie nötig für das Nötigste sorgt, wäre wirklichkeitsfremd.“
Die Staatsrechtler Florian Meinel und Christoph Möllers haben (in der FAZ vom 20.März) darauf hingewiesen, dass das Grundgesetz den „Ausnahmezustand“ nur für den militärischen Notstand zulässt. Und sie schreiben, dass die größte Schwierigkeit hier „nicht darin besteht, ihn zu verhängen, sondern darin ihn zu beenden“. Die Verfassung legt fest, dass der Verteidigungsfall unverzüglich für beendet zu erklären ist, „wenn die Voraussetzungen für seine Feststellung nicht mehr gegeben sind“. Diese Entscheidung müssen Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident gemeinsam treffen. „Was, wenn sie es nicht tun?“ fragen die Autoren, und fügen hinzu: „Um wie viel mehr gilt dies für den Ausnahmezustand einer Pandemie“. Das liegt unter anderem daran, dass bei einer Pandemie „der Feind“ und ein Ende der „Kriegshandlungen“ nicht so eindeutig feststellbar sind. Hier geht es um eine blinde, unberechenbare Naturgewalt, die sich immer wieder neu formieren kann.
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Im Teufelskreis der virologischen Schutzmaßnahmen – Der Staatsrechtler Hinnerk Wißmann hat in einem Beitrag mit dem Titel „Alle Macht dem Virus?“ (gleichfalls in der FAZ vom 20.März) das Exit-Problem auf den Punkt gebracht: „In einer nie dagewesenen Weise wird in Deutschland – und fast allen Staaten unseres Verfassungskreises – im Moment die Logik des maximal möglichen Infektionsschutzes befolgt. Dafür wird insbesondere die allgemeine Öffentlichkeit praktisch aufgehoben. Wenn aber die Regierungen den richtigen Zeitpunkt verpassen, diese Logik zu durchbrechen, ist der Ast abgesägt, auf dem wir (und zuallererst auch die Krankenversorgung) sitzen.“ Und er warnt davor, sich das Gesetz des Handelns von der Virologie vorschreiben zu lassen: „Was soll in vierzehn Tagen oder auch in fünf Wochen, nach den sehr langen Osterferien, aus virologischer Sicht anders sein? Wenn wir bis dahin durchkommen – können die Seuchenmediziner anderes sagen, als das bei dem gestiegenen Grundniveau an Infizierten die weitere Schließung der allgemeinen Gesellschaft geboten sei, weil die sonst anstehende Welle an Neuinfektionen nochmals schneller und brachialer ist?“
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Den Vorrang des medizinischen Imperativs beenden – Bei den extremen Notstandsregelungen in der ersten Phase der Corona-Auseinandersetzung standen gesundheitlich-medizinische Erwägung im Vordergrund. Es herrschte gewissenmaßen ein „medizinischer Imperativ“. Damit wurden andere grundlegende Errungenschaften unserer Zivilisation und unserer Verfassung verdrängt. So etwas kann nur eine eng begrenzte Ausnahme sein. Dass es eine Ausnahme bleibt und nicht zur neuen Normalität wird, muss jetzt sichergestellt werden. Der Weg zur Beendigung des Ausnahmezustandes muss jetzt klargestellt werden. Dabei kann man eins schon sicher sagen: Diese Beendigung wird nur möglich sein, wenn der Vorrang gesundheitlich-medizinischer Dinge überwunden wird. Sie müssen wieder mit anderen Notwendigkeiten und Rechtsgütern abwägbar werden. Ein Ende des „shutdown“ wird sich niemals von allein aus den Infektionszahlen ergeben, sondern nur aus einer Gesamtschau auf die Lage des Landes, zu der das wirtschaftliche, kulturelle und politische Leben ganz wesentlich gehört.
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Eine schwierige Entscheidung, die nur politisch zu treffen ist – Das (schrittweise) Ende der Notstandsregelungen muss aktiv politisch gesetzt werden. Es ist nicht nur ein Verwaltungsakt, der sich eindeutig von bestimmten Zahlen ableiten lässt. Denn es handelt sich um eine Entscheidung, die so oder so Opfer kosten wird. Deshalb ist es wichtig, sich schon jetzt auf die Dilemma-Situation vorzubereiten, in die viele Länder bald geraten können: die Situation, wo es medizinisch noch keinen definitiven Sieg über das Virus gibt, aber wo ein Land gesellschaftlich, wirtschaftlich, kulturell am Rande des Ruins steht. Dann muss es Einschränkungen beim medizinischen Rettungsgebot geben. Genau auf eine solche Möglichkeit, die man wahrlich nicht wünschen kann, und die doch nicht unwahrscheinlich ist, müssen sich moderne, demokratische Länder vorbereiten – gedanklich und materiell.
In der vergangenen Woche hat sich die Stimmlage in etlichen Kommentaren und Leitartikeln sichtlich geändert. Unterstützte man gerade noch vorbehaltlos die Notstandsregelungen, ist jetzt von schwierigen Entscheidungen die Rede. Berthold Kohler weist in seinem Leitartikel in der FAZ vom 25.3.20 darauf hin, dass die Entscheidung für ein Ende des „Shutdown“ den Regierenden schwerer fallen wird „als das Öffnen der finanziellen Schleusen“. Gerald Braunberger schreibt im Wirtschaftsteil der gleichen FAZ-Ausgabe: „Die Aufgabe ist nicht trivial: Werden die Einschränkungen zu früh aufgehoben, ist eine neue Welle von Infektionen durch das Virus nicht ausgeschlossen. Andererseits wird es kaum möglich sein, das Land bis zur Verbreitung eines Impfstoffs lahmzulegen.“
In dieser Situation hat die Bundeskanzlerin in einer Videobotschaft verkündet, dass jetzt nicht der Zeitpunkt sei, über eine Rücknahme von Restriktionen zu sprechen. Sie hat wirklich das Wort „sprechen“ gewählt. Hätte sie nur abgelehnt, jetzt schon eine Entscheidung zu treffen, wäre es noch vertretbar gewesen. Aber der Versuch, sogar das vorbereitende Gespräch zu verhindern, ist ein ganz schlechtes Signal. Eine Denk-Quarantäne ist das Letzte, was Staat und Gesellschaft jetzt gebrauchen.
(erschienen am 30.3.2020 in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“)