Die Corona-Krise sei „die größte Krise seit dem 2. Weltkrieg“, hat die Bundeskanzlerin erklärt. Doch zeigt gerade dieser Vergleich, wie wohlfeil in dieser Zeit „größte Krisen“ beschworen werden.

Eine merkwürdige „Stunde Null“

20.Juni 2020

Schon im März dieses Jahres stand für die Bundeskanzlerin fest, dass die Corona-Krise „die größte Krise seit dem 2. Weltkrieg“ ist. Das ist ein extremer Vergleich, der dem Regierungshandeln einen historischen Rang verleihen soll. Doch zeigt gerade dieser Vergleich, wie wohlfeil in unserer Zeit „größte Krisen“ beschworen werden können. Wo nämlich ist die Demut, die eigentlich große Krisenzeiten kennzeichnen? Wo ist die Sparsamkeit und der Anpassungswille des Überlebens, wo die Rückbesinnung auf die Essentials von Wirtschaft und Staat? Stattdessen werden Billionen-Programme aus der Gelddruckmaschine beschlossen, die es erlauben sollen, alle Krisen-Verluste auszugleichen. Was für ein Selbst-Widerspruch: Man ruft eine Krise aus, die mit den Verheerungen des zweiten Weltkriegs vergleichbar sein soll, und beschließt dann Maßnahmen, die allenfalls für eine Konjunkturkrise angemessen sind.
Es gehe darum, die Wirtschaft wieder „anzukurbeln“, heißt es – als wäre die Wirtschaft ein Selbstläufer, der ab und zu mal ein paar Umdrehungen Anfangsschwung braucht. Da waren die Agenda-Reformen der Regierung Schröder ungleich ernsthaftere Eingriffe. Und ihre Begründung kam ohne die rhetorische Hyperdramatik einer Weltkrise aus. Der Vergleich macht deutlich, wie sehr sich heute die Führung von Staat und Wirtschaft in eine oberflächlich-sachferne „Menschenführung“ verwandelt hat. Und wie billig ist sie dadurch geworden. Denn noch nie war der Glaube so mächtig, dass es für alles „intelligente“ Lösungen gibt. Lösungen, die versprechen, es ginge ohne Blut, Schweiß und Tränen.
In dieser Hinsicht ist auch der Vergleich mit den Nachkriegsjahren und dem ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik lehrreich: Damals mussten Staat und Gesellschaft wirklich unter extremen Knappheits-Bedingungen handeln, und sie konnten gerade daraus ein Stück Achtung und Würde gewinnen. Wie völlig anders ist demgegenüber die heutige Situation, wo der Glaube regiert, man müsse und könne die Menschen durch täglich neue, milliardenschwere Fördertöpfe bewegen. Und mehr noch: Wo man glaubt, man brauche die „harten“ Großindustrien (Kraftwerke, Automobilbau) nach der Stilllegung gar nicht wieder in Gang zu bringen, sondern könne sie einfach durch „ganz neue“ leichtgängigere, sauberere Betriebe und Produkte ersetzen. So soll sich der angehäufte Schuldenberg wie durch Zauberhand in einen neuen „Deal“ verwandeln – einen „grünen“ Deal, der müheloser und schmerzfreier ist als alle Deals, die je stattgefunden haben.

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Eine Stunde Null, die die Gesellschaft spaltet – „Nichts wird so bleiben, wie es war“ hört man allenthalben. Doch die Leute, die dies Raunen von sich geben, sagen das mit merkwürdig zufriedenem Gesichtsausdruck. Eigentlich ist das Ereignis „Corona“ ja ein Negativ-Ereignis. Es hat bestehende Errungenschaften und Freiheiten zerstört oder zumindest beeinträchtigt. Es wurde durch die pauschale Reaktion der Regierenden zu einer großflächigen Stilllegung des Landes gesteigert. Aus dieser Stilllegung sind die Betriebe, Geschäfte, Gaststätten, Schulen, Theater, Sportstätten, Bahnhöfe usw. noch nicht heraus. Doch nun zeigt sich, dass es einen Teil der Gesellschaft gibt, der den Stillstand als Gewinn ansieht. Während der Satz „Nichts wird so bleiben, wie es ist“ für viele Menschen, die jetzt mit dem Untergang ihrer Unternehmen und Arbeitsplätze rechnen müssen, ein Schreckensruf ist, gibt es einen anderen Teil, der in der „Stunde Null“ die Chance sieht, dem Land eine Zukunft nach eigenem Gutdünken zu verpassen. Für ihn bedeutet Stunde Null nur „freie Bahn!“: Sie eröffnet die Gelegenheit, unbehelligt von jeglicher Vergangenheit eine „ganz neue“ Zukunft zu kreieren. Was ist das für ein gesellschaftlicher Sektor, der so tickt? Was ist das für eine soziale Position, die eine solche Willkür erlaubt? Diese Fragen, die sich schon bei anderen Krisen wie der Migrationskrise oder der Klimakrise stellten, haben sich mit der Corona-Krise weiter zugespitzt. Das bürgerliche Dasein, das seine Stärke, sein Maß und seinen Halt im Sach- und Weltbezug fand, ist in der gegenwärtigen Krise fundamental entwertet. Das gilt auch für die Arbeiterschaft, wenn man bedenkt, wie leichtfertig gegenwärtig die Bestände der deutschen Automobilindustrie verspielt werden. Aber was soll an die Stelle der bürgerlichen Daseinsweise treten? Es lohnt sich, unter diesem Gesichtspunkt die Corona-Krise zu beobachten und sich nicht mit der scheinradikalen Erklärung einer „Verschwörung“ finsterer Mächte zufrieden zu geben. Hier findet einer gesellschaftliche Auseinandersetzung statt.   

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Der Mythos vom „neuen sozialen Zusammenhalt“ – Die massiven Isolationsmaßnahmen gegen die Corona-Epidemie haben verschiedene soziale Gruppen sehr ungleich getroffen.
In vielen Industrie- und Handwerksbetrieben, Großküchen, Umzugsunternehmen, bei Feuerwehr und Polizei muss die Arbeit mit sehr schwachem Kontaktschutz verrichtet werden (weil sie sonst nicht vernünftig machbar ist). Dagegen finden sich für die Rückkehr des Bildungssystems zum Normalbetrieb bis heute immer neue Einwände. Man suggerierte, die „Digitalisierung des Unterrichts“ sei ein zukunftsweisender Ersatz. In der Realität wurde durch solche Maßnahmen ein erheblicher Teil der Schüler von den Leistungen des Bildungssystems ausgeschlossen – das allgemeine und gleiche Recht auf Bildung wurde durch exklusive Netzwerk-Beziehungen eines Teils der Lehrer zu einem Teil ihrer Schüler ersetzt. Man hat immer wieder den „neuen sozialen Zusammenhalt“ beschworen, der durch die Notstandsmaßnahmen gegen Corona entstanden sein soll. Dies war ein sehr merkwürdiger Zusammenhalt, denn ein großer Teil der Gesellschaft wurde zur Passiv-Rolle des „Wir bleiben zu Hause“ verurteilt, während ein anderer Teil die Aktiv-Rolle an den Mikrophonen und Geldtöpfen besetzen konnte. Die täglichen Corona-Sondersendungen im Fernsehen, die sich gewissermaßen zu einer „zweiten Tagesschau“ entwickelt haben, enthalten ja eine kolossale Machtverschiebung zwischen Sendern und Empfängern. Die Lebensführung der Menschen wird „mediatisiert“. Mehr denn je werden die Menschen Zuschauer ihres eigenen Alltagslebens.    

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Wie der Ausnahmezustand ausgenutzt wird – Offiziell dienten die umfassenden „Not-Maßnahmen“ nur dem Schutz der Bevölkerung vor dem Corona-Virus. In Wirklichkeit wurde der Zusammenhang von Stilllegung und Wiederankurbeln dazu genutzt, um Richtungsentscheidungen durchzusetzen, die mit dem Corona-Problem nichts zu tun haben. Im „Konjunkturprogramm“, das der Wirtschaft helfen soll, die Folgen der verfügten Schließungen zu überwinden, wurde bekanntlich eine weitere Kaufprämie für E-Mobile beschlossen, während sie für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor abgelehnt wurde. Das bedeutet eine Preis-Diskriminierung für über 90% des Automarktes und eine Spaltung der Autoindustrie. So werden die Corona-Schließungen auf einmal zu klimapolitischen Schließungen. Dabei ist der ökologische Wert der E-Mobile hochumstritten, aber die Corona-Stilllegungen schädigen die bestehende Industrie so stark, dass die E-Mobile eine privilegierte Stellung bekommen, die in absehbarer Zukunft auf eine Monopolstellung auf dem Neuwagen-Markt hinausläuft. Obwohl die Lösung „E-Mobil“ die Auto-Käufer nun schon seit Jahren nicht überzeugen kann, wird so die Corona-Notlage ausgenutzt, um die Unternehmen noch stärker in die E-Mobil-Produktion zu zwingen.

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Die Schlüsselfrage der Auslastung – In diesen Tagen achten viele Unternehmer (und ihre Beschäftigten) besonders darauf, wie viele Plätze sie in ihren Geschäften, Hotels, Gaststätten, Theatern, Sporthallen, Bussen, Bahnen, Flugzeugen nach den „Lockerungen mit Auflagen“ anbieten können, und wie viele Menschen unter den erschwerten Bedingungen tatsächlich kommen. Es genügt eben nicht, dass die Betriebe öffnen dürfen. Es kommt darauf an, wie sie ausgelastet sind. Nur wenn die Auslastung ein bestimmtes Maß erreicht, können positive Erträge erwirtschaftet werden. Nur dann können Löhne, Unternehmereinkommen, Mieten, Kreditzinsen bezahlt werden. Anlässlich der Demonstrationen von Reisebus-Unternehmen haben die Sprecher ganz nüchtern vorgerechnet, wie hoch die täglichen Verluste sind, wenn ein Bus (mit den geltenden Abstandsgeboten im Bus) fährt. Die „Lockerungen“ änderten hier nicht daran, dass ein ganzes Gewerbe vor dem Konkurs steht. Mit anderen Worten: Wir werden in den kommenden Monaten erst richtig lernen, wie sehr die Wertschöpfung der modernen Marktwirtschaft auf Skaleneffekten beruht – auf der Ausnutzung großer bzw. teurer Arbeitsmittel durch relativ viele Menschen. Die Volkswirtschaft existiert nur unter diesem eisernen Verhältnis-Gesetz der Skaleneffekte. Wir werden das wohl erst lernen, wenn sich das Fehlen der Skaleneffekte in den Erträgen bemerkbar macht. Das sind die Folgen der pauschalen Corona-Stilllegungs-Politik. Sie treffen übrigens auch den Staat, dessen öffentliche Infrastrukturen nur bei einer beträchtlichen Auslastung finanzierbar sind. Das Deppenspiel „Staat gegen Markt“ hilft aus der Corona-Krise nicht heraus.

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Der Hype namens „homeoffice“ – Vor diesem Hintergrund ist der Eifer, mit dem in den letzten Wochen und Monaten das „homeoffice“ als Antwort auf die Kontaktverbote und Stilllegungen propagiert wurde, erstaunlich. Offenbar kümmert das Auslastungsproblem einen Teil der Gesellschaft gar nicht. Man kann das so verstehen, dass es heute einen beträchtlichen Teil von Funktionen gibt, die nicht mit großen Produktionsmitteln und den entsprechenden Betriebsstätten verbunden sind. Offenbar gehen diese Berufsgruppen auch davon aus, dass sie ihre Leistungen erbringen und ihre Bezahlung erhalten, während der andere Teil der Gesellschaft in Konkurs geht. Eventuell denken sie, dass die Leistung, die sie häuslich erbringen, irgendwie „global“ wirksam ist und honoriert wird. Dann hätte das „homeoffice“ eine kuriose Pointe: Die Globalisierung wird häuslich – was für eine Wiederauferstehung des Kleinbürgertums! Tatsächlich trifft man heute nicht nur beim politischen und wirtschaftlichen Management und Beratungswesen, sondern auch bei Wissenschaftlern, Künstlern und Medienleuten eine Neigung zu Weltthemen, die mit dem eigenen Fach und Fachumfeld nichts zu tun haben.     

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Eine „Corona-Krise“, in der es immer weniger um Corona geht – Das große Thema „Corona-Krise“ vermittelt immer weniger den Eindruck, dass es noch um eine konkrete Gefahren-Abwehr geht. Wo anfangs vor unmittelbar drohenden Ansteckungswellen gewarnt wurde, ist jetzt nur von einer allgemein fortbestehenden Bedrohung die Rede. Massenweise Verletzungen von Kontaktverboten bei (guten“) Demonstrationen werden nicht geahndet.  Wo ein konkreter Ansteckungsherd auftaucht, wie jetzt bei einem überwiegend von Sinti und Roma bewohnten Gebäudekomplex in Berlin-Neukölln, lehnt es die Stadtverwaltung ab, die über diesen Gebäudekomplex verhängte Quarantäne mit polizeilichen Mitteln durchzusetzen. Das wäre eine harte, aber räumlich streng begrenzte Maßnahme. Aber die zuständige Stadtverwaltung scheut vor der Konfrontation zurück, die eine wirklich durchgesetzte Quarantäne bedeutet. So kann das Virus weiter zirkulieren und die Bedrohung kann sich auf die ganze Stadt ausdehnen. Am Ende führt der politische Opportunismus vor Ort zu einer neuen Kollektivstrafe für die ganze Stadt: Das Virus breitet sich aus und dann wird auf einmal ein neuer allgemeiner Lock down verhängt.

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Das Gespenst „autoritärer Staat“ – Die tatsächlichen Alternativen werden vertuscht, indem man das Gespenst eines „autoritären Staates“ an die Wand malt. In einem Artikel in der FAZ (20.6.2020) erwecken Friederike Böge und Markus Wehner den Eindruck, Berlin müsste sich in Peking verwandeln, wenn man mehr haben will als eine bloße Ankündigungs-Quarantäne. Sie schreiben: „Müsste der Staat dann jetzt nicht härter durchgreifen, so wie es der chinesische Staat in Peking tut? In Berlin wird nicht wirklich kontrolliert, ob jemand die Quarantäne einhält.“ Dann zitieren sie den Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD): „Eigentlich müssten wir, wenn wir die gleichen Maßstäbe anlegen, genau wie in Peking die ganze Stadt lahmlegen…Das geht bei uns nicht. Wir sind kein autoritärer Staat wie China.“ Die Lahmlegung der ganzen Stadt ist eben gerade nicht die Alternative. Schnelles, striktes Verhindern jedes Quarantäne-Bruchs am Seuchenort kann gerade das Lahmlegen der ganzen Stadt vermeiden.

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Ein Blick ins Grundgesetz – Und hier ist noch einmal ein Blick in das Grundgesetz der Bundesrepublik, das 1949 in Kraft trat. Der Artikel 11 legt in Absatz 1 fest, dass alle Deutschen im ganzen Bundesgebiet das Recht auf Freizügigkeit haben. In Absatz 2 werden allerdings auch mögliche gesetzliche Einschränkungen dieses Rechts festgelegt, und sie führen uns in die krisenbedrohte Realität nach dem 2. Weltkrieg. Das Recht darf für die Fälle eingeschränkt werden,
„…in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit daraus besondere Lasten entstehen würden oder in denen es zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes, zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen, zum Schutze der Jugend vor Verwahrlosung oder um strafbare Handlungen vorzubeugen, erforderlich ist.“      
Von wegen „autoritärer Staat“ – es ist der Staat unseres Grundgesetzes, der hier das Recht zum Eingreifen hat, und die Rechtspflicht, dies gegebenenfalls umgehend zu tun.