Noch wird der Substanz-Verlust der deutschen Wirtschaft nicht ernstgenommen. Man setzt auf einen großen Innovationsschub für die Wertschöpfung, doch den geben die kommenden Jahre gar nicht her.
Eine langsame Periode der Moderne
25. September 2020
Auf der Bühne beim jüngsten Parteitag der FDP in Berlin prangte in großen Lettern die Losung „Mission Aufbruch“. Es gab Redebeiträge, in denen ein neues „Wirtschaftswunder“ beschworen wurde. Die deutschen Liberalen glauben offenbar, die Aufgabe der wirtschaftlichen Vernunft in diesen Zeiten sei es, Erwartungen in einen großen, schnellen Fortschritt zu nähren und sich durch Optimismus zu profilieren. Soll das ein Gegenentwurf zu jener „großen Transformation“ der Welt sein, für die der politische Mainstream Deutschland einspannen will? Eher müsste man das Gegenteil sagen: Die FDP will die Wirtschaft unter dem Titel „Aufbruch“, für diesen großen Transformationsplan instrumentalisieren. Man behauptet, dass die deutsche Wirtschaft einen Sprung nach vorn machen könne und alle Schwierigkeiten und Knappheiten hinter sich lassen können, wenn sie nur mutig „Innovationen“ machte. Wirtschaft und Staat könnten aus ihren gerade wieder immens gewachsenen Schulden „herauswachsen“. Die Zerstörungen der bestehenden Unternehmenslandschaft und ihrer Arbeitsplätze könnten als „produktive Zerstörung“ im Schumpeterschen Sinne gewendet werden.
Auch die deutschen Liberalen wollen also zu denen gehören, die eine „ganz neue“ Welt versprechen. Sie stehen damit nicht allein. In den Wirtschaftsteilen großer Zeitungen ist immer wieder von allen möglichen „Innovations-Schüben“ die Rede, die durch den Corona-Stillstand angeregt würden. Die Digitalisierung würde sich in vielen Bereichen nun definitiv durchsetzen. Die Ökologisierung von Energie, Verkehr, Landwirtschaft fände nun den Platz, um sich durchzusetzen. Neue Arbeitsplätze und Arbeitslandschaften seien schon im Entstehen. Und ganz neue Großstädte gäbe es, in denen die digitalisierten Beziehungen die Krise von Läden, Gastronomie, Clubs und Hotels vergessen machen würden. Wo noch Mobilität gefragt ist, wäre sie ganz entspannt mit dem Fahrrad zu bewältigen.
Die Tiefe der Wirtschaftskrise
Es ist verblüffend: Gerade war noch von der „größten Wirtschaftskrise seit dem 2.Weltkrieg“ die Rede. Und nun ruft man in diese Krise „Aufbruch!“ und „Zukunft!“ hinein. Das hat mit einer Aufklärung, die an den selbständigen Gebrauch des eigenen Verstandes appelliert, wenig zu tun – aber sehr viel mit psychologischer Steuerung von Stimmungen. Dabei gibt es durchaus genug Berichte, aus denen man die Tiefe der Krise durchaus herauslesen kann. Die Wahrnehmung der Corona-Gefahr ist keineswegs auf ein vernünftig begrenztes Maß zurückgeführt, das nachhaltig Vertrauen schaffen könnte. Im Gegenteil gefällt sich die Politik darin, immer wieder neue „Wellen“ zu beschwören und damit „höchste Gefahren“ im Raum stehen zu lassen. Zugleich wird der wirtschaftliche Schaden durch die Corona-Politik mit ihrem Hin und Her zwischen Schließung und Öffnung ganz unzureichend beschrieben. Ein bisschen „Öffnen“ bringt noch nicht jenes massenhafte Zusammenwirken, das nötig ist, um positive Erträge zu erwirtschaften. Mancher Wissenschaftler liest aus wieder zunehmendem LKW-Verkehr und Stromverbrauch der Betriebe schon eine Wirtschafts-Erholung. Dabei werden solche Indikatoren auch von Betrieben oder Geschäften gespeist, die weiterhin rote Zahlen schreiben. Immer noch gilt für einen sehr großen Teil der Unternehmen, dass ihre Erträge die Kosten nicht decken und sie daher von ihren Rücklagen (von ihrer Substanz) zehren müssen. Oder sie müssen Schulden machen. Hier findet ein Zerstörungsprozess statt, der sich langsam immer tiefer durch den Boden der Volkswirtschaft frisst. Ein Großteil der Unternehmen weiß heute nicht, von welchen Erträgen er in absehbarer Zeit die Schulden abtragen oder die verbrauchten Reserven wieder auffüllen könnte. Es geht also nicht nur darum, dass die Wirtschaft mal eben „unterwegs“ zu einem Halt gezwungen wäre. Vielmehr ist das Wirtschaftsleben in seiner produktiven Substanz getroffen. Die Fähigkeit der Volkswirtschaft zur Reproduktion der eigenen Grundlagen ist nachhaltig beschädigt.
Ähnliches muss für die deutschen Staatsfinanzen festgestellt werden, deren Solidität ja lange Zeit und nicht ohne Grund als Trumpf angesehen wurde. Aber dieser Trumpf ist nun in der gigantischen Überbrückungs-Finanzierung ausgespielt worden. Er kann nicht zweimal ausgespielt werden. Das mühsam durch manchen harten Einschnitt ersparte Geld ist weg. Es kann nicht weiter die Bonität der deutschen Schulden garantieren und nachhaltig Sicherheit bieten. Die Schulden der öffentlichen Hand haben in Deutschland haben im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt jetzt Größenordnungen erreicht, die früher bei anderen Ländern als unsolide bezeichnet wurden. Es ist auch keine neuen Staatseinnahmen in Sicht, die ein „Herauswachsen“ aus den Schulden oder gar einen wirklichen Schuldenabbau ermöglichen würden. Da ist es kein Trost, dass die Schieflage anderer Länder noch größer ist. Das bringt das Vertrauen, das letztlich für die Entscheidung zum Kreditgeben unabdingbar ist, nicht zurück.
Die Frage der Produktivitätsentwicklung
Erst vor diesem Hintergrund wird der Ernst deutlich, mit dem die Diskussion über den zukünftigen Weg der deutschen Wirtschaft zu führen ist. Erstens: Sie kann nicht als Konjunktur-Problem geführt werden. Der Einbruch ist durch keine Konjunktur der Welt korrigierbar. Zweitens: Es genügt auch nicht, einfach auf „Innovationen“ und „Kreativität“ zu verweisen. Die Innovationen müssen realwirtschaftlich relevant sein, und sie müssen tatsächlich eine zusätzliche Wertschöpfung ermöglichen. Sie müssen so produktiv sein, dass sie die erlittene substanzielle Beschädigung der Wertschöpfung wettmachen können. So etwas hat es historisch durchaus gegeben – zum Beispiel nach der fundamentalen Wirtschaftskrise durch den 2. Weltkrieg. Damals fiel der Wiederaufbau in eine Periode von drei Jahrzehnten starker Produktivitätsgewinne (!945-1975). Das „Wirtschaftswunder“ hatte nicht nur eine Aufbruchstimmung oder eine bestimmte politische Steuerung zur Grundlage, sondern fiel in eine technikgeschichtlich besonders dynamische Periode.
Eine schnelle oder eine langsame Periode?
Das führt zur wirtschaftlichen Grundfrage unserer Zeit: Gibt unsere Zeitperiode einen vergleichbaren Produktivitätsfortschritt her? Dann könnte man zuversichtlich die Zerstörungen hinnehmen und an ihrer Stelle etwas ganz Neues aufbauen. Man hätte einen „Strukturwandel“ vor sich, der zwar einiges an Anpassung abverlangen würde, bei dem aber ein greifbares „Neuland“ zu erwarten wäre. Wenn hingegen unsere Zeit diesen großen Produktivitätsschub nicht hergibt, sehen die Konsequenzen ganz anders aus: Dann brauchen wir eine große, flächendeckende Entlastung der Volkswirtschaft. Insbesondere im produzierenden Gewerbe müssen jene Abgaben, Auflagen, Normen und Stilllegungsfristen auf den Prüfstand, die sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten – oft unter dem Titel „Soziales“ und „Ökologie“ – ausgebreitet haben, ohne auf die Entwicklung von Produktivität und Wertschöpfung Rücksicht zu nehmen.
Die wirtschaftliche Grundfrage lautet also, ob wir uns in einer Periode langsamen oder schnellen Produktivitätsfortschritts befinden. Diese Frage lässt sich nicht prinzipiell beantworten, sondern nur durch Betrachtung der realwirtschaftlichen Realität im historischen Maßstab. Es geht also nicht darum, ob wir uns in der Ära der Neuzeit befinden, in modernen Zeiten also. Es geht nicht darum, über irgendeine „Postmoderne“ oder „Spätmoderne“ zu spekulieren. Man darf sich auch nicht einreden lassen, dass nur diejenigen, die von einem schnellen Fortschritt und „neuen Aufbruch“ sprechen, modern und fortschrittlich sind, während diejenigen, die ein langsameres Entwicklungstempo sehen, rückwärtsgewandt, nostalgisch oder gar reaktionär sind. Die Diagnose „langsamere Periode“ darf auch nicht mit der Forderung nach einer „Entschleunigung“ verwechselt werden, die ja das erreichte technische Niveau in Frage stellt und beispielsweise das Automobil als Massenverkehrsmittel zum Sündenfall erklärt.
Eine „produktive Zerstörung“ durch das Corona-Virus?
In einer Einladung zu einer Veranstaltung der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung mit dem Titel „Aus Krisen für die Zukunft lernen – Corona als Katalysator für Innovation und Digitalisierung“ heißt es:
„Während der vergangenen Monate haben sich zahlreiche Prozesse in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik in einem rasanten Tempo gewandelt. Eine Rückkehr zum Status quo ante Corona erscheint in vielen Lebensbereichen nunmehr undenkbar. So sind beispielsweise die im beruflichen und privaten Leben eingesetzten digitalen Instrumente inzwischen zum festen Bestandteil unseres Alltags geworden. In dieser Veranstaltung wollen wir uns auf die während der Corona-Pandemie gewonnenen Fertigkeiten und Erfahrungen fokussieren.“
Wenn man das ernst nimmt, müsste man geradezu begeistert über den Lock down im Frühjahr dieses Jahres sein. Dass die Grünen versuchen, die Corona-Stillstände zu nutzen, um ihre Energie-, Verkehrs-, Landwirtschafts- und Ernährungswende in die entstandene Lücke zu drücken, ist unübersehbar. Aber es gibt offenbar auch eine Neigung im deutschen Liberalismus zu so einem Durchdrücken – insbesondere, wenn es um die Digitalisierung von Wirtschaft, Bildung und Alltagsleben geht. Von dieser Seite wird oft der Begriff der „produktiven Zerstörung“ (Schumpeter) ins Spiel gebracht. Aber nicht jede Zerstörung von bestehender Wirtschaftssubstanz ist produktiv. Das gilt besonders dann, wenn die Realprozesse des produzierenden Gewerbes, die öffentlichen Formen des Warenverkaufs und Konsums, die Massenverkehrsmittel oder der öffentliche Schulunterricht getroffen sind. Viele Menschen machen in diesen Tagen die Erfahrung, dass die Digitalisierung mehr zerstört als sie ersetzen kann.
Es wäre daher auch ganz töricht von einem Innovations-Automatismus auszugehen: Es genüge, etwas stillzulegen, um die Kräfte der Innovation gewissermaßen „anzuregen“. Die Moderne wäre dann eine Art „Innovations-Automat“, den man nur unter Druck setzen muss, damit er neue, produktivere Lösungen liefert. Jetzt, in der Corona-Krise soll man auf diesen Automaten setzen können. Auch in der Klima-Krise könnte man ruhig die CO2-Emissionskosten so hochschrauben, dass sie in vielen Gewerben unbezahlbar wären – das würde am Markt eine heilsame Selektion „überholter“ Betriebe und Branchen auslösen.
„Langsame Jahrzehnte“ sind keine schlimmen Perioden
Die Alternative „Aufbruch oder Rückschritt“ ist eine törichte Alternative. Die Unterscheidung von Perioden schnellen und langsamen Fortschritts kann aus dieser schlechten Alternative herausführen. Sie kann die Lage von Volkswirtschaften präziser verstehen und die sehr unterschiedlichen Konsequenzen für das Handeln klarer erfassen. Wenn wir Perioden langsamen Fortschritts als grundlegenden Bestandteil der modernen Welt anerkennen, kann das dazu führen, dass wir vorsichtiger beim Abschalten und Verabschieden bestehender Technologien, Fachkenntnisse, Betriebe und Branchen sind. Und dass wir den Wert einer bestehenden Produktivität und Wertschöpfung erkennen. Das ist der entscheidende Punkt: Die „langsamen Jahrzehnte“ sind keine schlimmen Jahre, denn das erreichte Niveau kann hier ja fortgeführt werden. Allein die Wiederholung dieses Niveaus ist schon eine große, täglich aufs Neue erbrachte Leistung. Ein Land und seine Bürger können auch auf diese Perioden der Geschichte stolz sein. Auch in diesen Perioden ist es modern. Die Wirtschaft der Moderne zeichnet sich durch ein bestimmtes, erhöhtes Niveau der Wertschöpfung aus und schon das Halten dieses Niveaus rechtfertigt die unsere freiheitlich demokratische Grundordnung und ihre Marktwirtschaft. Die Vorstellung, der höchste Daseinszweck der Moderne sei die ständige Innovation und das unaufhörliche Sich-Neu-Erfinden der Menschen ist eine Denkfalle.
(erschienen am 26.9.2020 in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“)