Die Installierung eines „präventiven Notstands“ in der Corona-Krise ist keine isolierte Fehlleistung. Deutschland ist auf dem Weg, seine freiheitlich-republikanische Ordnung durch eine Vormundschafts-Ordnung zu ersetzen.
Eine neoautoritäre Abwicklung der Bundesrepublik?
5. November 2020
Mit dem November-Lockdown hat die Corona-Krise einen neuen Höhepunkt erreicht. Man kann einwenden, dass dieser Lockdown gar nicht so groß ist. Dass er nur einen Teil der Aktivitäten und sozialen Beziehungen im Land betrifft, und dass er obendrein auf einen Monat befristet ist. Aber seine Bedeutung liegt in dem Präzedenzfall, der damit geschaffen wird.
Denn hier werden sehr pauschale Maßnahmen ohne eine akute Notlage getroffen. Es wird ein präventiver Notstand eingerichtet. Die Maßnahmen werden ja mit dem Ziel begründet, eine in Zukunft mögliche extreme Verschärfung der Pandemie im Voraus durch eine Verringerung der Ansteckungszahlen zu verhindern. Die gesellschaftliche Realität wird damit Gegenstand eines sehr vagen Vorgriffs. Es fehlen die Zwischenglieder der Begründung: die Beziehung zwischen Infektionszahlen und tödlichem Verlauf; die Beziehung zwischen den Lockdown-Maßnahmen und den Infektionszahlen. Eine belegte, gesetzmäßige Beziehung gibt es nicht. Es handelt sich um ein Handeln auf Verdacht. Es ist so wie beim Datenschutz: Man kann immer eine gewisse Relation zwischen uneingeschränktem Datenverkehr und Vorbereitung schwerer Verbrechen herstellen. Aber zu Recht ist hier höchstrichterlich verfügt worden, dass eine generelle Datenüberwachung, die mit einer solchen Generalbeziehung begründet wird, nicht mit unserer Verfassung vereinbar ist. Sie stellt eine Grenzüberschreitung der staatlichen Exekutive gegenüber der Gesellschaft dar. Man kann hier nicht entschuldigend auf die Begrenzung und Befristung des jetzigen „kleinen“ Lockdowns hinweisen, denn diese Begrenzungen können schon bald hinfällig sein, wenn sich die erwünschte Wirkung auf die Infektionszahlen nicht einstellt oder nicht nachhaltig einstellt. Dann kann der Lockdown-Hebel, den die Regierenden sich jetzt gesichert haben, ganz andere Dimensionen annehmen.
Mit dem jetzigen „kleinen“ Lockdown ist also ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen worden. Der präventive Notstand ist damit schon institutionalisiert. Wird dieser Lockdown nicht ausdrücklich durch die Legislative (das Parlament) oder durch höchste Gerichte aufgehoben, führt er zu einem neuen weitreichenden Interventionsrecht, von dem die Regierenden jederzeit wieder Gebrauch machen können. Insofern stecken wir jetzt mitten in einer institutionellen Verschiebung unserer politischen Ordnung.
Die Doppelstruktur der politischen Ordnung
Eventuell wird der ein oder andere vielleicht einwenden, dass diese rechtlichen Einwände „Paragraphenkram“ sind, ein leerer Formalismus, eine bloß theoretische Konstruktion – während doch die Kranken und auch Todesfälle ganz real da sind. Und dass jeder Kranke und jeder Tote weniger eine gute Sache ist. So denken sicher viele Menschen guten Willens. Aber die Verfassung ist kein leerer Formalismus. Ihre Aufgabe ist es, durch alle Wechselfälle des Lebens der Bürger und des Schicksals des ganzen Landes eine Kontinuität herzustellen – einen festen, strukturellen Halt für die Aktivität der Bürger, der Wirtschaft, des Staates. Heutzutage, wo alles im Fluss zu sein scheint und nichts anderes möglich zu sein scheint als das „Steuern auf Sicht“, ist es schwierig, sich von diesem „Halt“ eine Vorstellung zu machen. Vielleicht kann man die Verfassung eines Landes mit einem Haus vergleichen, dass im Laufe seines langen Daseins sehr verschiedene Nutzungen und Generationen beherbergt hat, und dabei sowohl Glanzzeiten als auch Leerstände zu verkraften hatte. Und das diese Aufgabe, unabhängig von seinem Alter, auch weiterhin wahrnimmt.
Gerade Zeiten der Krise, wo viele Nutzungen und Existenzen wanken, sind für eine Verfassung Bewährungszeiten. Gerade in solchen Zeiten, wo Sicherheit sich nicht wie von selbst aus Gewinnen ergibt, sondern trotz Verlusten bestehen muss, kann sich eine Verfassung bewähren. Aber diese Struktur unserer modernen Welt will erstmal verstanden werden. Das doppelte Konstruktionsprinzip des Politischen aus fester Form und wechselndem Inhalt – es stellt Ordnung und Freiheit zugleich her – ist nicht so eingängig wie ein einstufiges Weltbild, das nur den dauernden Wechsel kennt, und dabei nur das jeweils Auffällige erfasst. Das Fehlen jeglichen Begriffs von Grundordnung bildet auch den Hintergrund, vor dem die jetzige Eskalation der Anti-Corona-Politik stattfindet – und der sie plausibel erscheinen lässt. Denn die Maßnahmen bedienen die unmittelbarsten Ängste und können die nachhaltigen Schäden, die sie verursachen, gar nicht sehen. Die sich ausbreitende Haltlosigkeit und Aussichtslosigkeit gehen in die Abwägung der Regierenden gar nicht ein.
Das Dringlichkeits-Argument und das Stabilitäts-Argument
Es ist daher nicht ausreichend, wenn es gegenwärtig in Diskussionen über die Corona-Krise oft heißt, man müsse neben den Gesundheitsfragen auch die Belange der Wirtschaft berücksichtigen. Der eigentlich wichtige Streitpunkt betrifft den Unterschied zwischen eines immer weitergehenden „Steuern auf Sicht“ und einer neuen Bekräftigung unserer verfassungsmäßigen Grundordnung des wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens – was einzelne, gezielte Schutzmaßnahmen einschließt, aber jede pauschale Entziehung von Rechten ausschließt. Es geht also jetzt nicht um eine sektorale Abwägung zwischen „Gesundheit“ und „Wirtschaft“ (oder „Kultur“). Vielmehr geht es um die Abwägung zwischen dem Dringlichkeits-Argument für „Maßnahmen“ auf der einen Seite und, auf der anderen Seite, dem Stabilitäts-Argument, das gerade in dieser Krise auf eine ausdrückliche Stärkung unserer Verfassungsordnung und unserer Institutionen setzt. Und das damit auf eine Stärkung des Normalbetriebs des Landes und des langfristigen Engagements, dass dieser Normalbetrieb braucht.
Das Dringlichkeits-Argument macht es sich im Grunde leicht. Es sagt: „Jeder Infizierte weniger ist besser als Nichtstun“. Deshalb soll auch jede Betonung der Schwere der Gefahr wichtiger sein als die Berichterstattung über die Mehrheit der Fälle, die ohne Gesundheitsschäden mit dem Status „virusfrei“ enden. Das Dringlichkeits-Argument sagt weiter: Auch die Wiederherstellung von Wirtschaft, Kultur und öffentlichen Infrastrukturen ist nur eine Frage von Maßnahmen, und die treffen wir mit unseren Geldhilfen. So kann die Bedeutung einer guten Ordnung für eine nachhaltige Selbsttätigkeit der Gesellschaft gar nicht mehr gesehen werden. Man fragt sich, warum sich moderne Länder überhaupt je Verfassungen gegeben haben.
Das autoritäre Potential der Corona-Krise
Eine Infektionskrise hat schwer einzugrenzende Wirkungszusammenhänge. Alles kann infizierend wirken. Auch die Wirksamkeit von Gegenmitteln ist schwer zu bestimmen. Das führt zu der Neigung, die gesellschaftlichen Aktivitäten weitgehend zu beschränken und sogar ganz stillzulegen. Zumal die langfristigen Kosten der Stilllegung weniger sichtbar sind als die Opfer des Virus. So entsteht eine Konzentration aller Aktivitäten auf einige wenige Macher, während der Rest zu weitgehender Passivität verurteilt ist. Die einen stehen vor den Kameras zur medialen Dauerberieselung der Bevölkerung, während diese nach dem Motto „Wir bleiben zu Hause und halten zusammen“ aller Mittel zur Eigenaktivität beraubt ist. So entsteht eine krasse Schieflage, eine autoritäre Vormundschaft. Sie wird nicht aggressiv-rücksichtlos begründet, sondern fürsorglich-milde. Aber es ist eine Vormundschaft. Die leergefegten Straßen stehen für eine Passivgesellschaft, die der bisherigen politischen Grundordnung der Bundesrepublik fremd war.
Die anderen „großen Krisen“ erscheinen in einem neuen Licht
Die Corona-Krise lässt nun auch andere, vorherige Krisen der vergangenen Jahre in einem neuen Licht erscheinen. Denn auch diese zeigen schon Anzeichen derselben autoritären Schieflage: Die Klimakrise, die Migrationskrise, die Atomenergiekrise, die Entdeckung immer neuer Armuts- und Umweltkrisen – immer wird eine abstrakte, wuchernde Gefahr präsentiert. Und zugleich gibt es immer „Wissende“ und „Gute“, die einer Aktivgesellschaft auf immer mehr Feldern das Leben schwer machen. Die Verschiebung der politischen Grundordnung in Deutschland (und anderen Ländern) hin zu einer neuartigen Bevormundung ist also schon länger im Gange. Denn die Entwicklung, die alle diese Krisen genommen haben und weiter nehmen, ist nicht „neoliberal“, wie ein geläufiges Schlagwort glauben machen will, sondern „neoautoritär“. Überall sind sie der Anlass für ein wild wucherndes Eingreifen aller möglichen, fürsorglichen, „höheren“ Hände. Dabei ist nicht offene, diktatorische Gewalt ihr Mittel, sondern die Besetzung der Spielräume, die für die Eigenaktivität der Gesellschaft notwendig sind. Sie „begleiten“ diese Aktivität mit kleinlichen Regeln und immer neue Zusatzaufgaben und Lasten. So lähmen sie die wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Aktivitäten, um sie am Ende doch ganz zum Erliegen zu bringen.
Der Verfall der langen Entwicklungsketten
Noch wichtiger als die gut sichtbaren, dramatischen Krisen, sind die allmählichen, verdeckten, aber umso tiefer wirkenden Verfallserscheinungen. Hier macht sich die Preisgabe fester Ordnungen, Strukturen und Bestände darin bemerkbar, dass die langen Entwicklungsketten eines Landes nicht mehr aufrechterhalten werden können. Die Fähigkeit zum langfristigen, generationsübergreifenden Aufbau geht verloren. Man denke an das Bildungssystem, dass seinen festen Kanon an Wissen und konkreten Fähigkeiten zu Gunsten vager „Kompetenzen“ und „Tagesthemen“ abgebaut hat und weiter abbaut. Man denke an die Nachwuchssorgen der Wirtschaft, sowohl auf der Eigentümer-Seite als auch auf der Arbeitnehmer-Seite. Man denke an den wachsenden Rückstand bei der Erhaltung und dem Weiterbau der Verkehrs- und Versorgungsinfrastrukturen. An die Tatsache, dass an den Hochschulen viele längerfristige Forschungs-Kontinuitäten verloren gehen, weil mit jedem neuen Drittmittel-Programm und jeder Neubesetzung eines Lehrstuhls alles immer wieder auf „Neustart“ gesetzt wird. Und natürlich gehört dazu auch der demographische Verfall: die Unterminierung des Willens, Kinder zu haben und aufzuziehen.
Tocquevilles Warnung
Schon früh hat es in der Ära der Moderne Warnungen vor der Gefahr gegeben, dass ein Vormundschaftsregime die Menschen auf ihre kleinsten und kurzfristigsten Interessen reduzieren kann, und dass dadurch Freiheit und Demokratie von innen bedroht werden. Eine Warnung stammt von dem französischen politischen Philosophen Alexis de Tocqueville, der nach einem längeren Reiseaufenthalt in den Vereinigten Staaten 1835 das Buch „Über die Demokratie in Amerika“ verfasste. Voller Neugier und Respekt gegenüber den dortigen politischen Verhältnissen, aber auch nicht blind gegenüber Schwachstellen. An einer Stelle heißt es:
„So bereitet der Souverän, nachdem er jeden Einzelnen der Reihe nach in seine gewaltigen Hände genommen und nach Belieben umgestaltet hat, seine Arme über die Gesellschaft als Ganzes; er bedeckt ihre Oberfläche mit einem Netz kleiner, verwickelter, enger und einheitlicher Regeln, das nicht einmal die originellsten Geister und die stärksten Seelen zu durchdringen vermögen, wollen sie die Menge hinter sich lassen; er bricht den Willen nicht, sondern er schwächt, beugt und leitet ihn; er zwingt selten zum Handeln, steht vielmehr ständig dem Handeln im Wege; er zerstört nicht, er hindert die Entstehung; er tyrannisiert nicht, er belästigt, bedrängt, entkräftet, schwächt, verdummt und bringt jede Natur schließlich dahin, dass sie nur noch eine Herde furchtsamer und geschäftiger Tiere ist…“
Diese Beschreibung ist hilfreich, um den Hebelpunkt in den Blick zu bekommen, der mitten in demokratischen Verhältnissen einen neuen Autoritarismus ermöglichen kann. Dies neoautoritäre System ist nicht einfach eine Diktatur oder Despotie; und „der Souverän“, der hier am Werk ist, setzt sich aus vielen Teilhabern der Bevormundung zusammen, die gar nicht zentral geleitet werden müssen. Es ist ein Netzwerk aus unzähligen Bevormundungen und selbstberufenen Vormündern, das sich lähmend über die Gesellschaft legt. Erinnern uns Tocquevilles Worte nicht an die wuchernden Krisenbaustellen unserer Tage?
Eine vergessene Erfahrung der Bundesrepublik
Eine freiheitlich-republikanische Grundordnung, die in sich Platz lässt für eine selbstbewusste Aktivgesellschaft, wäre eine Alternative. In der neuzeitlichen Geschichte Deutschlands sind die Zeiten mit einer solchen Grundordnung eher spärlich gesät. Die Logik, dass gerade in schwierigen Zeiten eine eindeutige und unantastbare Doppelstruktur von Freiheit und Ordnung entscheidend ist, gehört lange Zeit nicht zum politischen Bewusstsein unseres Landes. Umso wertvoller erscheint da die frühe Geschichte der Bundesrepublik und der Erfolg, der daraus in den folgenden Jahrzehnten resultierte. Die Gründergeneration der Bundesrepublik hat mit großer Weitsicht das Grundgesetz geschaffen. Auch in der politischen Wissenschaft und Bildung standen Ordnungsfragen im ersten Jahrzehnt dieser Republik durchaus hoch im Kurs. Das war nicht selbstverständlich. Es wäre auch denkbar gewesen, dass die materielle Not und die moralische Erschütterung nach dem Krieg dazu geführt hätten, sich für längere Zeit auf ein provisorisch-autoritäres Maßnahmen-Regieren zurückzuziehen. Das ist glücklicherweise nicht geschehen, obwohl heute vielerorts das Bild eines autoritären „Adenauer-Regimes“ über die damalige Bundesrepublik gehängt wird. Viele wichtiger wäre es, sich mit den neoautoritären Gefahren der Gegenwart auseinanderzusetzen. Denn in den „großen Krisen“ unserer Tage wird die ordnungspolitische Tugend der frühen Bundesrepublik nicht fortgesetzt. Der Lösungsweg, der über die Bekräftigung der freiheitlich-republikanischen Institutionen führt, wird nicht einmal ernsthaft erwogen. Stattdessen regiert heute ein „Steuern auf Sicht“, das damals glücklicherweise nicht zum Zuge kam. Und auch der naive „Wir schaffen das“- Optimismus war den Anfangsjahren der Bundesrepublik fremd. Man war sich bewusst, dass Wissen und Moral immer nur in begrenztem Umfang zur Verfügung stehen, und dass eine Gesellschaft, die unter solchen Knappheiten dennoch eine Aktivgesellschaft sein will, starke Grundrechte und Institutionen braucht.
Die Aktualität der Ordnungspolitik
Ich habe in diesem Beitrag nicht von der geläufigeren Bezeichnung „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ Gebrauch gemacht, sondern die Bezeichnung „freiheitlich-republikanische Grundordnung“ gewählt. Damit ist durchaus das deutsche Grundgesetz gemeint, sogar in einem stärkeren Sinn. Durch das Adjektiv „republikanisch“ soll die Ordnungsaufgabe unterstrichen werden. Eine freiheitliche und verantwortliche Demokratie kann sich nur in einer republikanisch-parlamentarischen Form entfalten. Die irrlichternde Umfrage-Demokratie und die medialen gesteuerten Aufmerksamkeits-Mehrheiten sind hingegen mit dem Neo-Autoritarismus bestens kompatibel.
Die Bezeichnung „freiheitlich-republikanische Grundordnung“ ist im Grunde ein Plädoyer: Mit der Corona-Krise hat das „Steuern auf Sicht“ einen neuen Umfang und eine neue Radikalität erreicht. Diese Krise zeigt, wie weitgehend diese Regierungsform hierzulande zum geheimen Grundgesetz geworden ist. Demgegenüber hilft nur eine Rückbesinnung auf die Stärken einer institutionell festen Grundordnung. Dabei kann Deutschland an die guten Erfahrungen in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik anknüpfen, die zu unserem politischen Erbe gehören.
(erschienen am 7.11.2020 in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“)