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Bei einem Energieimport-Embargo gegen Russland droht Berlin ein Versorgungsnotstand. Hier zeigt sich exemplarisch die Bedeutung von fossilen Energieträgern für das Großstadtleben. 

Das Öl, das Gas und die deutsche Hauptstadt 

28. Mai 2022

Die Dramatik einer Lage zeigt sich immer an konkreten Orten. Ein Artikel in der „Berliner Zeitung“ („Bange Leitung“, 14.März 2022), der sich mit den Konsequenzen des Ukraine-Kriegs für die Energieversorgung befasst, lenkt den Blick auf Berlin: „Noch in diesem Jahr will Westeuropa seinen Bedarf an russischem Gas um zwei Drittel reduzieren und spätestens 2027 völlig unabhängig sein von fossilen Energieträgern aus Russland. Aber geht das auch in dieser Stadt?“ Und er fördert dann interessante Zahlen zu Tage: „Tatsächlich ist die Abhängigkeit in Berlin in vielen Teilen größer als anderswo in der Republik. Laut statistischem Landesamt wurde der Primärenergie-Verbrauch Berlins 2020 zu 94 Prozent mit fossilen Energieträgern gedeckt. Gut die Hälfte kam aus Russland. In Teilbereichen ist die Abhängigkeit hier jedoch deutlich höher. Zum Beispiel beim Mineralöl. Während vergangenes Jahr 34 Prozent des in Deutschland verarbeiteten Rohöls aus Russland stammten, werden die Tankstellen und Ölheizungen in der Region zu 90 Prozent mit russischem Öl versorgt.“ Dabei spielt der PCK-Raffineriekomplex in Schwedt eine Schlüsselrolle. Der Komplex ist einer größten seiner Art in Europa und wird direkt über die Drushba-Trasse aus Russland versorgt. „Neun von zehn Autos in Berlin und Brandenburg fahren mit Kraftstoff aus Schwedt“, erklärt das Unternehmen. 

Die Frage, ob in der Region auf das Angebot der Schwedter Raffinerie verzichtet werden könne, wird in dem Artikel vom Pressesprecher des zuständigen Wirtschaftsverbands „Fuels und Energie“ klar beantwortet: „Eine derartig große Energiemenge in kurzer Zeit zu ersetzen, ist extrem anspruchsvoll und nicht vollständig realisierbar – bestenfalls zur Hälfte.“ Bekanntlich hat Deutschland inzwischen einem Embargo gegen Öl-Importe aus Russland zugestimmt. Es werden alle möglichen Bemühungen für Ersatzlieferungen nach Schwedt in Aussicht gestellt, aber an vielen Orten in Westeuropa finden solche Bemühungen statt und es ist höchst zweifelhaft, ob man ein so großes Loch, wie es in Schwedt gerissen würde, zuverlässig und dauerhaft anderweitig füllen könnte. Hinzu kommt, dass Berlin auch sehr stark beim Energieträger Gas von russischen Lieferungen abhängig ist: 50 bis 60 Prozent des Verbrauchs kommen von dort. In der deutschen Hauptstadt wurde der Energieträger Gas als Kohleersatz jahrelang ausgebaut. Sein Anteil am Energieverbrauch stieg von 1990 bis 2020 von 16,5 Prozent auf 44 Prozent. Auch hier reicht kein Zusammenstückeln aus allen möglichen und wechselnden Quellen. Die Metropole Berlin und die Flächenländer im Nordosten Deutschlands würden zu Knappheitsgebieten.  

Über Vielfalt und Einheit in der Großstadt 

In unserer Zeit hört man überall das Loblied auf die Vielfalt der Großstadt. Aber man vergisst eine Bedingung dieser Vielfalt: die Stetigkeit der Energieversorgung, die nur durch Energieträger gewährleistet werden kann, die unabhängig von den Wechselfällen des Klimas sind. Vieles lässt sich improvisieren, und die Kultur der Großstadt lebt von ihren unverhofften Situationen und ihrer Spontaneität. Aber es gibt grundlegende Versorgungsaufgaben – eine fließender Massenverkehr, Versorgung mit großen Energiemengen, Entsorgung von Dreck und Müll. Ihre Lösung erfordert Stetigkeit, ein ständiges Stückeln und Auf-Sicht-Fahren wirkt bedrückend. Keine Großstadt kann unter der ständigen Drohung von Ausfällen gedeihen. Der Zwang, sich immer wieder Notlösungen zu suchen, lähmt jede Initiative. In den Großstädten würde also ein bedrückendes Knappheitsregime einziehen. Die finanziellen und moralischen Kosten wären also immens. Es geht um viel mehr als „ein bisschen Konsumverzicht“. Deshalb reagieren Großstädter sehr empfindlich, wenn es Anzeichen dafür gibt, dass Unzuverlässigkeit bei den großen tragenden Infrastrukturen einreißt. 

Die „Berliner Zeitung“ erinnert in ihrem Artikel an den Ausfall, der Anfang 2022 durch eine technische Störung in einem Umspannwerk verursacht wurde, bei dem 50000 Haushalte im Osten Berlins Anfang des Jahres 13 Stunden lang ohne Strom, Heizung und warmes Wasser blieben. Spätestens an dieser Stelle bekommt man eine Ahnung, vor welchem Abgrund die deutsche Hauptstadt steht. Es droht ein substanzieller Einbruch. Und dieser Einbruch trifft dann auch das kulturelle Leben, seine Einrichtungen, die Öffentlichkeit auf der Straße. Welche Öde da plötzlich in unsere Städte einziehen kann, wurde im Corona-Lockdown sichtbar. Einfachste Dinge, deren ständige Verfügbarkeit in einer Großstadt als selbstverständlich galt, sind auf einmal nicht mehr da. Und man bereut Entscheidungen, in die man leichtfertig eingewilligt hat, weil man in unserer Zeit die systemischen Zusammenhänge nicht mehr überblickt. Genauer: Weil man sich nicht die Mühe machen will, sie zu überblicken. Im kommenden Herbst könnte sich der Blick wieder auf Berlin richten – auf die Hauptstadt, die den Bau ihres neuen Flughafens nicht hinkriegte, weil sie jahrelang nur herumstückelte.    

Die Geschichte vom „Kriegsopfer“ 

In einem Leitartikel von Christian Greinitz (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.5.2022) unter der Überschrift „Kalter Herbst“ folgende Schlusspassage:

„Schon jetzt ist klar, dass Deutschland kein heißer, sondern ein kalter Herbst droht. Unternehmen müssen sich auf Rationierungen und die Gaszuteilung durch die Bundesnetzagentur einstellen, Privatverbraucher auf steigende Preise und kühlere Zimmer. Insolvenzen und Arbeitslosigkeit drohen. Die Einsicht fällt schwer und ist doch unabweisbar: Europa befindet sich im Krieg, ohne Verzicht und Wohlstandsverluste wird es nicht gehen. Doch diese Einschnitte sind nichts im Vergleich zu dem Überlebenskampf der Ukrainer.“

Die FAZ ruft also schon den Kriegszustand in ganz Europa aus, und erklärt Energie-Rationierungen und -Zuteilungen zur neuen Normalität. Eigene Bestände, Rechte und Interessen Deutschlands werden auf einmal ein „Nichts“ im Vergleich zum Kriegsgeschehen in der Ukraine. Jedes Abwägen gilt als Schwäche. Wer Opfer ablehnt, wird als Verbündeter von „Putins Russland“ behandelt. 

Geht es also um ein „Kriegsopfer“ in einem Überlebenskrieg Europas? Das ist eine Irreführung. Denn eine drastische Verknappung und Verteuerung aller fossilen Energieträger steht ja sowieso auf der Agenda der deutschen und europäischen Politik – im Zuge der „Klimarettung“. So war auch eine Stilllegung des Energiekomplexes in Schwedt im Grunde schon vorprogrammiert. ganz ohne Ukraine-Krise. 

Wer von Abhängigkeit spricht, darf von Knappheit nicht schweigen 

Das Import-Embargo gegen fossile Energieträger wird damit begründet, dass sich Deutschland (und große Teile Europas) durch leichtfertige Fehlentscheidungen in eine Abhängigkeit von Importen aus Russland begeben hätte. Ein Embargo gegen Russland wäre ein Schritt zur Unabhängigkeit in Energiedingen. Ein Akt der Freiheit also!? Mitnichten, denn die Ersatzlieferungen machen uns von anderen Lieferanten abhängig, die auch ihre Eigeninteressen haben. Und die auf dem durch das Embargo verengten Markt nun größere Hebel haben, diese Interessen durchzusetzen. 

Aber, so kommt die Antwort: „Wir haben doch unsere erneuerbaren Energien“. Der FDP-Vorsitzende hat sich dazu verstiegen, sie „Freiheitsenergien“ zu nennen. Können Wind und Sonne also die fossilen Energieträger in der jetzigen Situation ersetzen? Führen zusätzliche Windräder und Sonnenkollektoren zu einer stetigen, dauerhaften Versorgung Berlins mit Energie für Verkehrsmittel, Heizungen, Licht und digitalen Medien? Nein, das tun sie nicht. Eine Erhöhung des Anteils der „Erneuerbaren“ um 30 Prozent führt absolut nicht zu 30 Prozent mehr Versorgungssicherheit.  

Zeitenwende? Es ist die Energiewende, die fragwürdig wird

Die Vision einer Weltrettung durch erneuerbare Energien ist verführerisch. Sie wiegt uns in falscher Sicherheit. Sie täuscht uns eine Macht vor, die uns nicht zu Diensten steht. Denn in der Energiefrage entscheiden Mächte, die viel größer sind als Staaten und Regierungen. Das sind die Wechselfälle der ungezähmten Natur. Ihnen liefern wir uns bei den erneuerbaren Energien viel stärker ausliefern als bei den fossilen Energieträgern – jedenfalls dann, wenn wir diesen Energieformen beim heutigen Stand der Technik die Alleinherrschaft übertragen. Hier droht ein viel tiefere Unfreiheit. Sie erwächst aus der Willkür der Naturgewalten, der wir uns bei einem vorschnellen Abschalten der fossilen Energieträger ausliefern. Sie macht aus einer stetigen Energieversorgung ein seltenes Gut, dessen Vorkommen unserem Zugriff weitgehend entzogen ist. Diese Knappheit ist fundamentaler und bedrückender als die Abhängigkeit von bestimmten Handelsgütern.   

Die Ukraine-Krise zwingt uns, mit realistischem Blick die heutigen Möglichkeiten und Grenzen der „Energiewende“ zu betrachten. Die in Aussicht gestellten alternativen Energieträger können das jetzt Notwendige nicht liefern. Kein Geld der Welt kann daran etwas ändern. Und auch ein Wissen über vielleicht einmal mögliche Technologien hilft hier und jetzt nicht weiter. 

Das könnte sich im Fall der deutschen Hauptstadt im kommenden Herbst und Winter ganz handfest und drastisch zeigen. 

(erschienen am 2.6.2022 bei „Die Achse des Guten“ und am 3.6.2022 in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick Online“)