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Die Bilanzen von Wirtschaft und Staat in Deutschland sind verheerend. Aber man predigt eine „Zuversicht“, die völlig in der Luft hängt. So wird das ganze Land in einen hilflosen Wartestand versetzt.

Wer die Gegenwart nicht bewältigt, wird keine Zukunft bekommen

25. Juli 2024

Deutschland befindet sich in einem merkwürdigen Zwiespalt. Auf der einen Seite häufen sich die schlechten Nachrichten aus Kernbereichen der deutschen Industrie wie dem Automobilbau, der chemischen Industrie oder dem Maschinenbau. In vielen Bereichen sind die Kosten so hoch, dass nicht einmal mehr eine einfache Reproduktion der alternden Bestände gelingt, wie der Verfall des Streckennetzes der Bundesbahn oder die drastischen Rückgänge im Wohnungsbau zeigen. Elementare Berufstätigkeiten finden keinen Nachwuchs. Neben dieser Arbeitskrise gibt es inzwischen auch eine Kapitalkrise, weil die Wertschöpfung, aus der Investitionen finanziert werden müssten, nicht mehr gegeben ist. Mit anderen Worten: Deutschland bewältigt die ständigen Aufgaben, die für jedes moderne Land grundlegend sind, nicht mehr. Das Elementare gelingt nicht mehr. Die greifbaren Resultate und zählbaren Erträge bleiben aus. Die Gegenwartsaufgaben bleiben liegen.
Doch auf der anderen Seite gibt es eine Zukunftserzählung, die das Land in einen extremen Erwartungszustand versetzt hat. Ihm soll nicht nur die größtmögliche Katastrophe drohen, sondern zugleich die größtmögliche Erlösung winken. Auf der einen Seite gibt es eine bevorstehende Überhitzung des Planeten, eine weltweite Massenflucht-Bewegung und dazu Russland als neuer Weltkriegs-Treiber. Auf der anderen Seite stehen globale Heilsversprechungen: Eine Zukunft soll machbar sein, in der es eine „ganz neue“ wunderbare Welt aus erneuerbaren „natürlichen“ Energien, abgestellten Fluchtursachen und einem entmachteten Russland geben. Aus diesem Gesamtdrama aus finsterster Drohung und hellster Erlösung kann man sich nur schwer befreien. Es verwickelt das Land nicht nur in opferreiche Kämpfe und Kriege, sondern – schwerwiegender noch – es verhindert, dass das Land sich seinen naheliegenden Aufgaben und drängenden Problemen zuwendet. Obwohl die wunderbare Welt eines grünen Wirtschaftswunders in immer weitere Ferne rückt, wird die Klimarettung als „unser Klimaziel“ immer noch beschworen. Und die konkreten Stilllegungs-Beschlüsse wie das Verbot des Verbrennungsmotors ab 2035 werden nicht aufgehoben, obwohl kein gleichwertiger Ersatz vorhandeln ist. So wird die Gegenwart einer „ganz neuen“ Zukunft geopfert.
In Deutschland gelingt es angesichts einer unübersehbaren Krise nicht, dem Naheliegenden die erste Priorität zu verschaffen: dem Abwehrkampf gegen den Niedergang von Wirtschaft und Staat. Dieser Abwehrkampf kann nur geführt werden, wenn sich das Land von der Last und Verführung durch eine extrem dramatisierte Zukunft befreit, zumindest mehr Distanz zu dieser „großen Erzählung“ gewinnt. Denn diese Erzählung versetzt die Menschen in einen lähmenden Wartezustand. Sie werden zu einer bloßen Erwartungshaltung verurteilt. Sie sollen sich, wie man jetzt des Öfteren zu hören bekommt, in „Zuversicht“ üben. Um dem zu entgegen, muss dies Land viel stärker seiner Gegenwart ins Auge blicken. Dazu müssen die vorliegenden Bilanzen endlich ernst genommen werden, und nicht als bloße „Konjunkturdelle“ abgetan werden. Und es muss den elementaren, ständigen Aufgaben eines modernen Landes ins Auge blicken. Es ist ja nicht zu übersehen, dass dies Land häufig an den sogenannten „einfachen“ Dingen scheitert – weil es die täglichen Mühen scheut, die sie erfordern. Wenn Deutschland also eine Ordnungsidee braucht, die dem Niedergang entgegenwirkt, dann wäre es eine Ordnung, die der praktischen Auseinandersetzung mit der gegebenen realen Welt Priorität einräumt. Und die den Leistungen, die hier erbracht werden müssen, nachhaltigen Wert verleiht. Die also der Neigung entgegenwirkt, die Gegenwart eines Landes einer spekulativen Zukunft zu opfern.

Eine „vollkommen neue“ Zukunft?

Es ist ein guter parlamentarischer Brauch, dass eine Haushaltsdebatte mit einer Auseinandersetzung „Zur Lage der Nation“ verknüpft wird. Das bietet Regierung und Opposition die Gelegenheit, ihre Einschätzung zur Lage vorzutragen und vor diesem Hintergrund, den Umfang und die Prioritäten der Staatsausgaben zu begründen. Hier wird Zukunft also aus Gegenwart entwickelt. Doch ein Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5.7.2024 über die Bundestagsdebatte zum Bundes-Haushalt für das Jahr 2025 (Überschrift „Scholz irritiert als Chefoptimist“) deutet auf etwas Anderes hin. Dort heißt es:
„In der Bundestagsdebatte am Mittwoch platzierte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) seine neueste Wortkreation. Nach der Bazooka´ gegen Corona und dem „Doppel-Wumms´ gegen die hohen Energiepreise soll nun derWachstumsturbo´ kommen. Nicht weniger als `eine unglaubliche Belebung´ stellte Scholz in Aussicht.“ Und an anderer Stelle heißt es:
„Schon im vergangenen Jahr hatte Scholz für Erstaunen gesorgt, als er Deutschland wegen der Investitionen in den Klimaschutz ein Wirtschaftswachstum wie in den Nachkriegsjahren prophezeite.“
Der Kern dieses „Optimismus“ besteht darin, dass er sich gar nicht erst bei der deutschen Gegenwart aufhält, sondern den Blick gleich auf die Zukunft lenkt – auf eine Zukunft, die in gar keinem nachvollziehbaren Verhältnis zur Gegenwart steht. Der Gedanke, dass die Zukunft nur aus den heutigen Erträgen einer leistungsfähigen Wirtschaft zusammen mit effizienten Infrastrukturen entwickelt werden kann, ist der Regierung offenbar völlig fremd. Dass die Hindernisse, die diesen Erträgen jetzt entgegenstehen, auch jetzt beseitigt werden müssen, steht nicht im Mittelpunkt der Debatte. Stattdessen befasst man sich mit den Möglichkeiten zusätzlicher Schulden. Sie dienen als Ersatzlösung, um eine wirkliche Bewältigung der Gegenwartsprobleme zu vermeiden.

Das Verführerische der „Großen Transformation“

Wenn man freilich in der Auseinandersetzung um die Gegenwart und Zukunft des Landes nur „mehr Schulden!“ rufen würde, würde das niemand überzeugen. An dieser Stelle tritt nun die große Erzählung von einem Umbau der Welt, wie ihn die Geschichte nicht gesehen hat, in ihre Funktion. „Die große Transformation“ ist der Titel der Erzählung, wobei „Transformation“ ein schillerndes Wort ist: Es klingt ein bisschen nach Reform und ein bisschen nach Revolution. Eine magische Verwandlung klingt hier an. Aber wenn uns jemand von der Verwandlung von Wasser in Wein erzählt und das als „Innovation“ anpreist, sind wir doch ein bisschen skeptisch. Hier spielt nun der Zusatz „große“ eine wichtige Rolle: Im Großen sind wir eher zum Glauben geneigt als im Kleinen. Das macht das Verführerische an der versprochenen „Großen Transformation“ aus.

Metaphysik (I)

So wie „das Globale“ eine ganz eigene (räumliche) Metaebene ist, auf der die Ressourcen und Knappheiten eines gegebenen Landes nicht mehr zählen, ist „die Zukunft“ eine ganz eigene (zeitliche) Metaebene: Die Ressourcen und Knappheiten einer gegebenen Gegenwart zählen hier nicht mehr. Es ist, als wäre „die Zukunft“ ein eigener Planet, der ganz unabhängig von den Mühen der Gegenwart angesteuert werden könnte.

Metaphysik (II)

Eigentlich ist die „große Transformation“, über die heutzutage mit so großer Selbstverständlichkeit geredet wird, ein völlig absurdes Ansinnen. Die größtmögliche Bedrohung wird – wie mit einem riesigen planetarischen Zauberstab – in das größtmögliche Glück gewendet.

Urselchens Mondfahrt

Es gibt Versuche, der Zauberei einen Anstrich von historischer Plausibilität zu verleihen. Schon im Jahr 2019 hatte Ursula von der Leyen in Hinblick auf das „Green Deal“-Programm von „Europas Mann-auf-dem-Mond-Moment“ gesprochen. Es sollte ein „großer Moment“ entstehen, der mit dem Mond-Landungsprogramm der Amerikaner zu vergleichen wäre. Das ist ein Gedanke von verführerischer Leichtigkeit: Die „große Transformation“ soll nicht mehr sein als eine große Reise. Allerdings waren die Amerikaner in den 1960er Jahren nicht solche Narren, dass sie glaubten, mit einem Raumfahrt-Programm eine komplett neue industrielle Basis gewinnen zu können.

Die „Große Transformation“ als „Deal“?

Der „European Green Deal“ ist ein Maßnahmen-Paket, das von der EU-Kommission beschlossen und europaweit abgesegnet wurde. Der Titel des Pakets ist suggestiv: In Anlehnung an die Politik des „New Deal“ unter dem US-Präsidenten Roosevelt in den 1930er Jahren wird der Anspruch erhoben, einen großen Schub für das Wirtschaftswachstum auszulösen. Allerdings stand damals ein realer Produktivitäts-Zuwachs in der Industrie zur Verfügung, die eine Anschubfinanzierung wie beim „New Deal“ auf fruchtbaren Boden fallen ließ. Das galt auch für die Automobilindustrie auf Basis des Verbrennungsmotors. Diese realwirtschaftlichen Fortschritte führten zu einer Vergrößerung der Märkte. Automobile wurden auch für breite Gesellschaftsschichten erschwinglich. Doch nun, im „Green Deal“, ist eine solche realwirtschaftliche Grundlage nicht in Sicht. Im Gegenteil: Er bringt ökologische Auflagen, die viele Produkte erheblich verteuern und effiziente Technologien verbieten. Dazu gehört das Verbot der Verbrenner-Technologie in Automobilen ab 2035 – also das Verbot einer der Technologien, die dem alten „New Deal“ zum Erfolg verhalfen. Das Verbot wurde verhängt, ohne dass ein gleichwertiger, erschwinglicher Ersatz zur Verfügung stand. Man geht offenbar davon aus, dass „die Zukunft“ schon irgendwie liefern wird.

Ein ganzes Land im erzwungenen Wartestand

Angesichts des verheerenden Markteinbruchs bei Elektro-Automobilen und großer Ertragsprobleme in vielen Branchen, die von ökologisch motivierten „Wenden“ betroffen sind, könnte man erwarten, dass nun die verkündeten Ziele zurückgenommen werden. Aber das geschieht nicht: Es gibt keine große Korrekturbewegung im Land. Nicht einmal ein Innehalten, um nachzudenken. Mit seltsamer Eile wird immer wieder gleich vorneweg versichert, dass man treu zu „unseren Klimazielen“ stehe. Das gehört sozusagen zum guten Ton im Lande. Viele Unternehmen beklagen die gestiegenen Kosten und mangelnden Erträge, aber man scheut sich, die in der Politik getroffenen Richtungs-Entscheidungen und die eigenen Investitionsentscheidungen ausdrücklich als falsch zu bezeichnen. Im öffentlichen Leben beeindrucken zunächst die großen Weltdramen von Bedrohung und Rettung, und ein Rückzug aus solch großen Kulissen – auch wenn er noch so wohlbegründet wäre – hat es zunächst schwer, sich durchzusetzen. Er ist mit dem Makel der Kleinlichkeit und Feigheit behaftet. So ist ein nicht unbeträchtlicher Teil der Menschen bereit, an alle möglichen Wunderstoffe und Pilotprojekte zu glauben, die das große Weltretten doch noch zu einem guten Ende führen sollen. Das gilt besonders dann, wenn in der Öffentlichkeit die täglichen Leistungen der Realwirtschaft keine Aufmerksamkeit und keine Anerkennung mehr finden. Aber in einer Öffentlichkeit, in der die großen Weltdramen regieren, sind die Menschen mehr denn je zu bloßen Zuschauern degradiert.
Im Deutschland der Gegenwart stecken viele Menschen auf die eine oder andere Weise in einem Wartezustand. Dieser Zustand ist ein hilfloser Zustand: Man ist gezwungen auf etwas zu warten, das man gar nicht beeinflussen kann. Die Beschwörung einer „ganz neuen Zukunft“ hat das ganze Land in einen erzwungenen Wartezustand versetzt. Ein Ende ist nicht in Sicht.