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Europäische Politiker versuchen, sich als die großen Warner auf der Weltbühne zu profilieren. Doch in der multipolaren Welt von heute zählt die Entwicklung des eigenen Landes mehr denn je.  (Diesseits von „Krieg oder Frieden“, Teil II)

Die Stabilität, die von innen kommt  

25. August 2025

Es hat also wirklich stattgefunden, das Treffen zwischen dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika und dem Präsidenten der Russischen Föderation. Und es wurde etwas anderes als eine Schauveranstaltung von zwei „Autokraten“. Das lag an den beiden Präsidenten, die sich mit Respekt und Aufmerksamkeit begegneten, statt sich nur mit eigenen Statements in den Vordergrund zu drängen. Es lag auch daran, dass es eine Begegnung von Delegationen war und das Treffen dadurch breiter angelegt war. Manches weckte Erinnerungen an Zeiten, als sich Russen und Amerikaner auf politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Veranstaltungen begegnen konnten – trotz großer Gegensätze.

Doch hat diese wohltuende Entdramatisierung noch keineswegs die Oberhand gewonnen. Das zeigt die hektische Intervention von namhaften europäischen Regierungschefs und der EU-Kommissions-Vorsitzenden, die das Treffen nur zum Anlass nahmen, um überall mit ihrem Feindbild Russland herumzufuchteln. Wer nur an Abschreckung und Sanktionen denkt, kann sich ein gutes Gedeihen Russlands gar nicht wünschen. Er kann immer nur auf ein schwaches, scheiterndes Russland hoffen.

Umso wichtiger ist es, die richtungsweisende Botschaft des Treffens im Juli 2025 zu sehen. Hier gab es, sowohl auf Seiten der USA als auch auf Seiten Russlands, ein Grundvertrauen darauf, dass auch die Gegenseite ein inneres Motiv zu einer stabilen Koexistenz hat. Es geht dabei auch um eine allgemeinere Frage, die viele Länder interessiert: Kann es in der multipolaren Welt von heute zu einer Stabilisierung kommen, auch wenn nicht alle Gegensätze überwunden werden können?  

Über Multipolarität

Multipolarität“ ist ein treffender Begriff, um die Welt in ihrer heutigen Gesamtheit zu beschreiben. Er ist auch ein Begriff, der einen geschichtlichen Langzeittrend beschreibt, der sich im Laufe der Neuzeit immer stärker durchgesetzt hat. Multipolarität bezieht sich nicht nur auf Großmächte, sondern auch auf mittlere und kleine Mächte. Die Zahl der Nationalstaaten hat sich in mehreren Schüben in verschiedenen Jahrhunderten immer weiter vergrößert. So hat sich im 20. Jahrhundert durch die Stärke der Unabhängigkeitsbewegungen in Lateinamerika, Asien und Afrika die Welt der Nationen stark erweitert. Zu diesem geschichtlichen Trend gehört auch, dass sich die soziale Zusammensetzung der Staatsbürgerschaft stark erweitert hat – die arbeitende Bevölkerung, und die Frauen sind heute in vielen Ländern (mit durchaus unterschiedlichen Verfassungen) Teil der Staatsbürgerschaft. Die Multipolarität bedeutet also eine fundamentale Erweiterung der Welt. Dies war kein Prozess, der durch einen Gesamtplan und übergeordnete Instanzen durchgesetzt wurde, sondern der auf getrennten Wegen und jeweils aus inneren Beweggründen erfolgte. Die Erweiterung geschah also in einem fundamentalen Nebeneinander. Die heutige multipolare Welt ist keine prästabilisierte Harmonie, sondern enthält erhebliche Gegensätze. Die Multipolarität der heutigen Welt ist daher keine „regelbasierte“ Globalität, und sie ist auch nicht auf dem Weg dorthin. Eine große, definitive Friedensordnung steht nicht in Aussicht. Das bedeutet aber nicht, dass deshalb ein „Krieg aller gegen alle“ ausbrechen müsste. Eine Stabilisierung der multipolaren Welt ist möglich und in Ansätzen durchaus erkennbar. Um die Möglichkeiten einer stabilen Koexistenz zu erkennen, muss man nicht auf die internationalen Konferenzen und die „Vernetzung“ der Welt schauen, sondern auf die Binnenentwicklung der einzelnen Staaten. Stabile Koexistenz kann nur auf einer stabilen Existenz der einzelnen Länder aufbauen. Das bedeutet, dass die Binnenentwicklung der Länder Vorrang vor der Außenentwicklung haben muss. Nur dann führt die Multipolarität nicht zu einem Hin und Her globalisierender Ansprüche von Seiten der einzelnen „Pole“.      

Überall nur noch Feinde?  

Gegenwärtig erlebt die deutsche und europäische Öffentlichkeit eine rasante Vermehrung der Feindbilder. Überall wird Misstrauen gesät, überall werden finstere Motive unterstellt. Vor allem, wenn es um die sogenannten „Supermächte“ geht. Gerade war „Putins Russland“ der Hauptfeind der Menschheit, jetzt wird „Trumps USA“ gleich mitverhaftet. So verständigt man sich auf der Negativ-Linie „böser Putin, aber auch böser Trump“. Die Staaten zweier großer Länder sollen zum persönlichen Eigentum von Machthabern geworden sein. Dafür wird dann das Wort „Autokratie“ verwendet, so als wäre die Vermehrung der Feindbilder ein wissenschaftlicher Befund. Und es warten ja noch jede Menge weiterer Staaten, die man unter Autokratie-Verdacht stellen kann: Netanjahus Israel, Erdogans Türkei, Xis China, Orbans Ungarn. Eigentlich wird in jedem Land, wo ein Wahlkampf stattfindet, eine „autokratische Gefahr“ ausgemacht. So wird die multipolare Welt zu einem Treibhaus des Bösen – zu einer Negativ-Welt, in der überall Elend und Verheerung droht. Aber was haben die kritischen Kritiker eigentlich positiv zu bieten? Was für eine Welt käme heraus, wenn man die auf Russland-Feindschaft gebaute Zelensky-Ukraine oder einen auf Israel-Zerstörung zielenden „Palästinenserstaat“ als Modelle für die internationalen Beziehungen der Zukunft nehmen würde?   

Die multipolare Welt braucht eine konstruktive Lösung

Jede Überlegung über die heutige Weltlage ist hier an einem Scheideweg. Man kann seinen Ehrgeiz darin setzen, ringsum die Regierenden, jeden und jede, zu „entlarven“. Man kann sich „skeptisch“ damit begnügen, überall Gefahren zu wittern und vor „trügerischen Hoffnungen“ zu warnen. In der heutigen multipolaren Welt gibt es viele Mächte, die politisch, wirtschaftlich oder kulturell „anders“ sind. So führt das Negativ-Programm dazu, dass ein immer größerer Teil der Welt unter einen Generalverdacht gestellt wird. Am Ende würde man sich in einer Welt gescheiterter Staaten wiederfinden – in einer anarchischen, haltlosen Welt.

Wer dem entgehen will, darf es sich nicht zu leicht machen. Es reicht nicht, nur einfach „die Guten“ zu suchen, und damit nur auf Personen zu schauen. Eine Personaldebatte greift zu kurz. Die Stabilität einer multipolaren Welt darf nicht von einzelnen, alles überragenden Führungspersonen abhängig sein, sondern muss auf strukturelle Bindungen beruhen, die so elementar sind, dass sie in sehr verschiedenen Ländern zu finden sind. Das ist mit „Koexistenz“ gemeint, und der Prüfstein ist, ob die strukturellen Bindungen auch in Ländern zu finden sind, die als „autokratisch“ und „populistisch“ bezeichnet werden. Wer nach einer stabilen Koexistenz in der heutigen multipolaren Welt strebt, kann die Autokratien nicht von vornherein ausschließen. Er kann auch nicht die Vorbedingung stellen, dass die Autokraten erst aufhören müssen, Autokraten zu sein, bevor sie ein anerkanntes Mitglied der Staatenwelt werden können. Stattdessen lautet die Frage: Gibt es Bindungen, die „Autokraten“ davon abhalten, ihr Land in einem großen Krieg aufs Spiel zu setzen? Gibt es Bindungen, die „populistische“ Mehrheiten davon abhalten, als bloße Verfügungsmasse für Kriegsmobilisierungen zu dienen?

Der schillernde Begriff der „Autokratie“

Der Begriff der „Autokratie“ ist ein sehr schillernder Begriff. Man kann mit ihm eine „Selbstherrschaft“ meinen, die eine extreme Form der Willkürherrschaft darstellt, weil sie an nichts gebunden ist als an die Person des Herrschers. Sie wäre dann eine „selbstherrliche“ Herrschaft, die den Staat als persönliches Eigentum des Herrschers betrachtet. Hier gibt es kaum eine Hemmung, in einem Krieg das eigene Land bluten zu lassen und seine Existenz aufs Spiel zu setzen.

Aber „Autokratie“ kann auch als starke Zentralisierung der Staatsmacht verstanden werden. Sie könnte sich mit einer Verfassung vertragen, die – zum Beispiel in einer konstitutionellen Monarchie – das Staatswesen an das Wohl des Landes bindet, und diese Verantwortung auf eine bestimmte Rolle überträgt, die einer Person oder einer Erbfolge von Personen – dem König bzw. dem Königshaus – auszufüllen hat. Der König ist dann „der oberste Diener seines Staates“, wie Friedrich II. von Preußen zu sagen pflegte. Dann wäre der Spielraum persönlicher Willkür gering und der Neigung, das eigene Land aufs Spiel zu setzen, vorgebaut.

Die Geschichte kennt gewiss Beispiele extremer persönlicher Willkürherrschaft, die als „autokratisch“ bezeichnet werden, aber sie kennt auch Beispiele verantwortlicher Staatsführung, die ebenfalls mit diesem Begriff bezeichnet werden können. In der europäischen Geschichte spielte die „absolutistische“ Herrschaftsform in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit in mancher Hinsicht eine konstruktive Rolle. Ihr Zentralismus hat bis heute in manchen Ländern Einfluss auf die Regierungsform – zum Beispiel in Ländern mit starker Machtkonzentration bei einem Präsidenten. Es besteht also kein Grund, mit dem schillernden Begriff „Autokratie“ einen Teil der heutigen multipolaren Welt unter den Generalverdacht zu stellen.

Auf die innere Verfassung der Länder kommt es an

Die Schrift des Philosophen Immanuel Kant „Zum ewigen Frieden“ (1795) ist hier nicht nur von Interesse, weil sie von Krieg und Frieden handelt, sondern weil sie die Abneigung gegen den Krieg und die Zuneigung zum Frieden in den inneren Verhältnissen der einzelnen Staaten verortet. Bedeutsam ist, dass die Schrift in einer Zeit verfasst wurde, als die meisten Staaten in Europa nach heutigem Wortgebrauch als „autokratisch“ bezeichnet würden. Doch Kant rechnet diese Staaten nicht insgesamt zu denen, die leicht einen Krieg vom Zaum brechen. Wo also verortet er die kriegshemmenden Bindungen?  

Kant fordert als Grundbedingung für einen Zustand, in dem der Ausbruch von Kriegen erschwert ist, dass die Verfassung „in jedem Staate republikanisch“ ist. Aber dann fordert er, dass man „die republikanische Verfassung nicht (wie gemeiniglich geschieht) mit der demokratischen verwechseln“ solle. Und er erläutert diese Forderung folgendermaßen:

„Die Formen eines Staats (civitas) können entweder nach dem Unterschiede der Personen, welche oberste Staatsgewalt inne haben, oder nach der Regierungsart des Volks durch sein Oberhaupt, er mag sein, welcher er wolle, eingeteilt werden; die erste heißt eigentlich die Form der Beherrschung (forma imperii), und es sind nur drei derselben möglich, wo nämlich entweder nur einer, oder einige unter sich verbunden, oder alle zusammen, welche die bürgerliche Gesellschaft ausmachen, die Herrschergewalt besitzen (Autokratie, Aristokratie und Demokratie, Fürstengewalt, Adelsgewalt und Volksgewalt). Die zweite ist die Form der Regierung (forma regiminis) und betrifft die auf die Konstitution (den Akt des gemeinsamen Willens, wodurch die Menge ein Volk wird) gegründete Art, wie der Staat von seiner Machtvollkommenheit Gebrauch macht: und ist in dieser Beziehung entweder republikanisch oder despotisch.“

Kant unterscheidet also die „Form der Beherrschung (forma imperii)“ von der „Form der Regierung (forma regiminis)“. Für die Frage der Einhegung oder Entfesselung von Krieg ist für Kant die Form der Beherrschung (Autokratie, Aristokratie oder Demokratie) nicht so wichtig. Die Frage von Krieg oder Frieden ordnet er der Form der Regierung mit der Alternative republikanisch oder despotisch zu: jede Despotie bedeutet eine erhöhte Kriegsgefahr, während jede republikanische Ordnung die Kriegsgefahr einhegt. Es geht hier, wohlgemerkt, um die Ordnung der einzelnen Länder, nicht um eine Weltregierung. Und diese republikanische Ordnung bedeutet, dass eine Allgemeinverbindlichkeit hergestellt wird, der alle – einschließlich der Regierenden – unterworfen sind. Despotische Verhältnisse beginnen dort, wo nur der persönliche Wille von Einzelnen (oder von Vielen) regiert und wo der Staat als persönliches Eigentum geführt wird.

Bindungen, die aus dem Inneren der Länder kommen

Wichtig ist hier zunächst, dass Kant zu dem Ergebnis kommt, dass auch eine Autokratie den Allgemeininteressen eines Landes (der Res Publika) verpflichtet sein kann. Eine solche Regierungsform kann also dem Krieg abgeneigt sein und an einer stabilen Koexistenz interessiert sein. Gleiches gilt für die Aristokratie und für die Demokratie – also für alle drei personellen Grundformen der obersten Staatsgewalt. Für alle drei gilt auch, dass die Bindung an die Allgemeininteressen nicht selbstverständlich ist, und dass sie verloren gehen kann. Alle drei Grundformen enthalten die Möglichkeit, dass die Staatsgewalt einen republikanischen oder einen despotischen Charakter hat. Entscheidend ist die Bindung an das Allgemeininteresse eines Landes.

Was aber bestimmt die Stärke oder Schwäche dieser Bindung? Bei Kant klingt das so, als sei die Frage der Bindungen eine Frage von Willen und Bewusstsein der Menschen, eine Frage von subjektiven Haltungen und Einstellungen also. Eine solche Selbstbindung wäre eine recht unzuverlässige Bindung, denn der menschliche Wille und das menschliche Bewusstsein sind, für sich genommen, sehr wechselhaft und maßlos. Sie sind durch keine Realitätsprobe bestätigt und erhärtet.

Es muss also geschaut werden, ob die Länder unserer neuzeitlichen Ära „objektive“ Bindungen hervorbringen, die sie vor Willkür und Kriegsabenteuern schützen. Und die so eine stabile Koexistenz begründen können, ohne dass sie sich globalen Einheitsregeln und Einheitsinstitutionen unterwerfen müssen.