In der Ukraine-Krise hat die Europäische Union eine neue Spannungspolitik gegenüber Russland betrieben. Es zeigt sich, dass sie im Zweifelsfall ihre Interessen als Machtkartell über die europäisch-asiatischen Verbindungen stellt
Auf nach Kleineuropa?
Mit der Ukraine-Krise ist in diesem Frühjahr 2014 eine neue, unerwartet scharfe Tonlage in die internationalen Beziehungen gekommen. Zunächst hat dort ein Regimewechsel unter durchaus gewaltsamen Umständen stattgefunden; dann die Separation eines Landesteils, der Krim, und ihr Anschluss an Russland; schließlich eine Sanktionsoffensive von EU und USA gegen Russland. Vielleicht noch bedeutsamer ist die Tatsache, dass die Auseinandersetzung durch einen Deutungs-Rahmen vertieft wurde, der von einer grundlegenden Gegnerschaft, ja Feindschaft, zwischen „Putins Russland“ und „Europa“ (soll heißen: EU) ausgeht. In den beiden Jahrzehnten nach 1989 hatte es eine internationale Ordnungsvorstellung gegeben, nach der beiden Seiten trotz vieler Unterschiede strategische Partner sein konnten. Nun sind die Unterschiede zu Wesensgegensätzen vertieft worden, sodass eine Partnerschaft prinzipiell unmöglich erscheint. Erstaunlich ist dabei das Tempo dieses Klimawechsels. Ebenso die aktive Rolle der EU bei der Entwicklung von Feindbildern. Die Sanktionsmaßnahmen gegen ein großes Nachbarland – perspektivisch ist sogar von dessen „Schlüsselindustrien“ die Rede – sind ein Novum in der Geschichte der EU. Hatte man bisher den Eindruck, das Problem der EU bestehe darin, ein allzu müder und milder Verein zu sein, so scheint es jetzt so, als hätten sich ihre Akteure in „Falken“ verwandelt und die EU dränge sich danach, in die Liga der intervenierenden Weltmächte aufzusteigen. Auf jeden Fall ist die EU, die sich gerne als vermittelnde Instanz darstellt, noch nie so deutlich als „Partei“ aufgetreten wie in diesem Konflikt.
Nun gibt es manche, die diesen Wandel begrüßen und von der neuen, offensiveren Außenpolitik Gutes erwarten. Auch einige von denen, die gegenüber der „Transfer-EU“ Bedenken hatten, freunden sich nun mit der „Interventions-EU“ an.[1] Bei anderen ist das nicht so und der Autor dieses Essays gehört dazu. Die Radikalität der Majdan-Bewegung und die Perspektive eines Umsturzes in der Ukraine hat bei mir eher ein Gefühl der Skepsis ausgelöst. Diese Skepsis hat sich noch gesteigert, als ich sah, wie leichtsinnig hier Politiker und Kommentatoren im Namen von „Europa“ Öl ins Feuer gossen und wie schnell das Szenario einer Systemkonkurrenz EU – Russland dominant wurde. Dabei habe ich meinem Gefühl der Skepsis anfangs nicht ganz über den Weg getraut. Ist hier eventuell nur das in den letzten Jahren gewachsene Unbehagen über die EU-Politik ausschlaggebend? Oder eine Naivität gegenüber einem Russland, das ich nie näher kennengelernt habe? Oder ist vielleicht ein prinzipieller Oppositionsgeist am Werk, der immer „Nein“ sagt, wenn die Hauptströmung „Ja“ sagt und der mich, der ich in der Irak-Krise zu den „Falken“ gehörte, nun zu den „Tauben“ neigen lässt? Und dennoch bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es gute Gründe gibt, in der Ukraine-Krise nicht Russland als neuen Gegner anzusehen und zu isolieren.
Aber es geht mir noch um mehr. Mit der Ukraine-Krise scheint mir ein Punkt erreicht, an dem die bisherigen internationalen Ordnungsvorstellungen überprüft werden müssen: Erweist sich eine Konzeption von „Europa“, die ausschließlich von der EU geprägt wird, nicht als zu eng und monozentrisch? Ist es vernünftig und legitim, die Schwellenländer an den Normen und Standards der „hochentwickelten“ Länder zu messen? Ist es hilfreich, wenn dort, wo die Staatenbildung noch in Bewegung ist, das Völkerrecht als letzte Instanz bemüht wird und so zum Politikersatz wird?[2] Bei den folgenden Anmerkungen zur Ukraine-Krise bin ich mir nicht völlig sicher. Es kann sein, dass ich Wesentliches übersehe. Wichtig ist mir zunächst die Einsicht, dass es gegenwärtig wirklich offene Fragen über den weiteren Weg der modernen Staatenwelt gibt und dass die Zukunft nicht „alternativlos“ vorgezeichnet ist. Angesichts der übereilten Festlegung und Polarisierung der Positionen sollten wir zu einer ruhigeren, abwägenden Erörterung zu kommen.
Zur Faktenlage
Am Beginn der Ukraine-Krise steht eine innere Fehlentwicklung der Ukraine. Die Regierung Janukowitsch hat Misswirtschaft und Bereicherung betrieben und ist zu einem erheblichen Teil für die Misere der Ukraine verantwortlich. Diese Misere hat aber schon unter früheren Regierungen begonnen, darunter solche mit westlicher Orientierung (Timoschenko). Die Regierung Janukowitsch ist aus Wahlen hervorgegangen, die durch internationale Beobachter als weitgehend korrekt eingestuft wurden. Seine Legitimität wurde von einem alternativen Machtzentrum (für das der Majdan-Platz steht) in Frage gestellt, das für sich beanspruchte, den Volkswillen in der Ukraine zu repräsentieren. Von vornherein versuchte die Opposition, den Anschein einer Doppelherrschaft zu erwecken, bei der es unterhalb eines Umsturzes keine Möglichkeit einer Veränderung gab (wie etwa gemischte Regierungsbildung, Neuwahlen, paktierte Übergangsmaßnahmen).[3] Die Ukraine ist bürgerkriegsanfällig, da sich zwei Hälften des Landes und zwei Orientierungen der Bevölkerung mit wechselndem Übergewicht, aber annähernd gleichstark gegenüberstehen. Hinter den Unterschieden stehen auch unterschiedliche realökonomische Schwerpunkte und Bindungen nach außen. Die Ukraine steht zwischen dem westlichen „EU“- Europa und Russland im Osten.
Von Seiten Europas wurde die Opposition zunächst moderat unterstützt, insbesondere die gemeinsame Mission der deutschen, französischen und polnischen Außenminister hat versucht, einen legalen Regierungswechsel unter Beachtung der Institutionen (und unter Beachtung der doppelten außenpolitischen Bindung) zu ermöglichen. Janukowitsch hat vor diesem Hintergrund das Verhandlungsergebnis unterschrieben. Das „Steinmeier-Papier“ sah unter anderem die Rückkehr zu der bisherigen, unter Janukowitsch zwischenzeitlich veränderten Verfassung und einen Wahltermin vor. Dann gab es zwei Ereignisse, die bis heute nicht ganz aufgeklärt sind: Die Schüsse auf dem Majdan, die sowohl Demonstranten als auch Regierungskräfte (Polizei) trafen, und der Sturz Janukowitschs durch einen Umschwung bei Teilen des Sicherheitsapparats und des Parlaments in Kiew. Die Vereinbarung mit den Außenministern spielte keine Rolle mehr. Von einem demokratischen Regierungswechsel konnte damit nicht mehr die Rede sein. Der Umschwung erfolgte ohne Votum der Wähler, innerhalb weniger Stunden.[4]
Die EU und die USA haben sich in dieser Situation entschieden, die durch Umsturz gebildete Regierung anzuerkennen und sprechen nun von ihr als Vertreterin „der Ukraine“. Das mag praktisch realpolitisch den Tatsachen entsprechen, aber es bleibt festzuhalten, dass es sich nicht um einen (durch neue Mehrheiten revidierbaren) Regierungswechsel handelt, sondern um einen Regimewechsel, der die Westorientierung des Landes „unumkehrbar“ machen soll – um eine „neue Ukraine“, wie die Sprachregelung in Kiew ist. Dies Streben nach einer „definitiven“ Installierung einer prowestlichen Regierung ist ein wesentlicher Grund, warum die Umstürzler die Umsetzung des Außenminister-Papiers (das noch Russland an der internationalen Rahmung beteiligen wollte) nicht respektiert haben. Dabei spielte gewiss auch der Verdacht der Majdan-Kräfte eine Rolle, dass die etablierte Macht mit Betrug die Situation überstehen wollte. Aber es bleibt ein illegitimer Bruch, der deshalb den Keim weiterer Gewaltakte (und damit eines längeren Bürgerkriegs) in sich trägt.
Die Machtübernahme der russischen Mehrheit auf der Krim ist ihrerseits ein Regimewechsel, der in einen Staatswechsel mündete. Aber es ist schwer zu widerlegen, dass Russland diesen Wechsel als Antwort auf den Regimewechsel in Kiew befördert hat und nicht den ersten Stein geworfen hat. Es entspricht auch nicht der Realität, wenn der Eindruck erweckt wird, Russland sei gerade dabei gewesen, die Ukraine „zurück ins Imperium“ zu holen, und deshalb hätte die Opposition die Notbremse gegen eine geplante Annektierung gezogen (auf dem Majdan hätte sozusagen ein Präventiv-Putsch stattgefunden).[5]
Im Folgenden haben die USA und die EU Sanktionen gegen Russland verhängt. Es handelt sich um Eingriffe in das Eigentum (Kontensperrung) und die Freizügigkeit (Einreiseverbote) russischer Amtsträger und Unternehmensvorstände. Ebenso wurden geschlossene Verträge und Kooperationstreffen auf Eis gelegt bzw. die russischen Vertreter ausgeschlossen. Die USA und die EU haben damit erste Schritte in einem Sanktionskrieg gegen Russland getan, ohne dass Russland seinerseits die USA oder die EU angegriffen hatte (die USA/EU können nicht das Recht auf Selbstverteidigung für sich in Anspruch nehmen).[6] Damit ist die Ukraine-Krise in eine allgemeinere Konfrontation von EU/USA mit Russland übergegangen. Der Konflikt hat sich von seinem Ausgangspunkt, den inneren Problemen der Ukraine, beträchtlich entfernt.
Die neuen Feindbilder der „Erzählung Europa“
Es geht nicht nur um Fakten. Von erheblicher Bedeutung ist das Szenario, in dessen Rahmen der Konflikt gestellt und gedeutet wird. Ein solches Szenario kann die Bereitschaft, zu weiteren Konflikthandlungen zu schreiten oder davon Abstand zu nehmen, beeinflussen. Hier sind in den letzten Wochen erhebliche Veränderungen festzustellen. Auf einmal werden geographisch-moralische Großbegriffe ausgebreitet. Die EU spricht nun von einer „Diktatur“, die von einer „Demokratie-Bewegung“ (gemeint ist die „Majdan“-Versammlung in Kiew) gestürzt wurde. Ähnlich wurde vorher über Ägypten die Erzählung vom „Pharao Mubarak“ und der „Arabellion“ verbreitet (bebildert durch die Versammlungen auf dem „Tahir“-Platz in Kairo). Die neue Ukraine-Erzählung behauptet weiter, dass hier „Europa“ gesiegt habe. So wird eine moralisch-geographische Eingemeindung vollzogen, die dann handfeste Maßnahmen wie Sanktionen als „Selbstverteidigung Europas“ (gegen „Asien“?) erscheinen lassen. Worin „Europa“ hier konkret bestehen soll, bleibt unklar. Umso klarer ist die Definition eines Gegners und einer Stoßrichtung: Russland. Die russische Orientierung und Bindung eines Teils des Landes soll geschwächt werden. Sie gilt offenbar nicht als „europäisch“. Russland ist mit dieser diskursiven Wendung aus Europa herausdefiniert worden. Diese Stellungnahmen haben nicht nur zusätzliches Öl ins Feuer des Bürgerkriegs gegossen, sondern sie haben die europäische Idee auch verengt. Das europäische Projekt wird definitiv zum kleineuropäischen, monozentrischen Projekt, das sich um die EU und Brüssel versammelt. In dieser Form bekommt Europa einen exklusiven Charakter. Eine „strategische Partnerschaft“ ist mit einem Russland, das als „Imperium“ disqualifiziert wird und dem eine Grundtendenz zur Expansion unterstellt wird, nicht mehr möglich. So ist Europa zur Konfliktpartei in einem strategischen Konflikt umdefiniert worden. Die Reformen, die aus der Sowjetunion die russische Föderation gemacht haben, wurden eine Zeit lang als Basis für eine solche Partnerschaft angesehen. Nun gelten sie als bloße Umdekoration in einem nach wie vor imperialistischen Gebilde.
Zugleich wird Russland zu „Putins Russland“ und damit auf die Personalie eines einzelnen „Machtmenschen“ reduziert.[7] Eine solche Verkürzung der institutionellen und historischen Realität eines großen Nachbarlandes gehört eher zum Arsenal der Propaganda. Zugleich findet eine Machtthese Anwendung, die kurioserweise Anleihen bei linken Imperialismustheorien (Lenin, Luxemburg und andere) macht – wenn sie nämlich unterstellt, es gebe einen inneren, systemischen Zwang, dass sich aus kleineren Gebietsgewinnen automatisch „Hunger nach mehr“ entwickelt. Eben diese Behauptung eines zwanghaften Immer-Mehr auf der Gegenseite liefert der „europäischen“ Seite im Ukraine-Konflikt die Begründung für eine präventive Sanktionspolitik und für eine Strategie der Isolierung Russlands auf internationaler Ebene.
Die neue Russland-Erzählung bewegt sich mehr auf der Ebene der vermuteten Absichten als auf der Ebene der Fakten. Der Verlauf der Ereignisse in der Ukraine liefert keine Indizien dafür, dass Russland hier seit langem den Konflikt gesucht und von Anfang an die Dinge beschleunigt hat, um dann letztendlich die Krim (und vielleicht weitere Gebiete) als Beute einzufahren. Eher erscheint Russland in der Rolle der reagierenden Macht. Eine treibende Rolle scheinen eher die USA und die EU zu spielen. Ihr Diskurs ist keineswegs so defensiv, wie sie glauben macht – zum Beispiel mit der immer wieder vorgetragenen Erzählung, die „Demokratiebewegung“ auf dem Majdan läge im historischen Trend einer Westorientierung Osteuropas und sei deshalb gleichsam der natürliche Lauf der Dinge.[8]
Dabei fällt auf, dass immer wieder die Referenz „1989“ auftaucht, so als ob mit diesem Datum das Völkerrecht neu definiert sei und die normative Definitionsmacht für die weitere Entwicklung auf die Führungsmächte des Westens übergegangen sei. Tatsächlich steht „1989“ für den Sieg über den Totalitarismus, der im Sowjetimperium Gestalt angenommen hatte. Dabei darf nicht vergessen werden, dass innere Reformkräfte in Russland an der Auflösung dieses Imperiums wesentlichen Anteil hatten. Nur wegen dieses Bestandteils von „1989“ konnte es jahrelang eine Politik der strategischen Partnerschaft mit Russland geben (und auch eine entsprechende wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung). Nun wird dieser Bestandteil für nichtig erklärt. „1989“ wird umdefiniert, Russland wird aus dem Spektrum der Wendekräfte entfernt. Die neue Russland-Erzählung sieht eine geschichtliche Kontinuität einer ewig rückständigen und expansiven „asiatischen“ Macht.
Putins Imperium oder Schwellenland Russland?
Dabei gibt es gute Gründe, die Entwicklung Russlands seit dem Sturz der kommunistischen Diktatur einer anderen geschichtlichen Großtendenz zuzuordnen: dem Aufkommen der „Schwellenländer“, die insbesondere auch die asiatischen Realitäten stark veränderten. Durch dies Phänomen entsteht im Weltmaßstab ein starker „Mittelbau“ zwischen den „hochentwickelten“ Ländern und den „Entwicklungsländern“. Die alte Polarisierung in reich-arm, mächtig-abhängig, wissend-unwissend wird dadurch aufgebrochen.[9] Diese Entwicklung hat unabhängig von „1989“ stattgefunden. Sie hat schon vorher eingesetzt und hält bis heute an. Sie hat auch dazu beigetragen, dass die Attraktivität und Legitimation des kommunistisch-totalitären (und im Kern antimodernen) Lagers ein Ende fand. Es war nicht allein die Stärke des „Westens“, die den Wettlauf mit „dem Osten“ gewann, sondern das kommunistische Lager wurde auch von den Schwellenland-Entwicklungen überholt. Viele Länder dieses Lagers wurden schließlich selber Schwellenländer. So unterschiedlich diese Länder im Einzelnen waren, so bedeutete das weltweite Aufkommen dieses Ländertyps insgesamt neue, positivere Optionen der Zusammenarbeit. Nicht das Merkmal der aggressiven Machterweiterung und Systemveränderung stand bei diesen Ländern im Vordergrund, sondern das Interesse an Weiterentwicklung und Modernisierung. An dies Interesse konnte angeknüpft werden. Länder, die sich in diesem Status befanden und auch so verstanden, waren bei allem Streben nach Eigenständigkeit und Aufstieg doch partnerschaftsfähig. Mit ihnen konnten tatsächlich strategische Partnerschaften (nicht nur taktisch bestimmte Kompromisse) angestrebt werden. Man konnte in diesen Ländern an ein „wohlverstandenes Eigeninteresse“ appellieren, das über unmittelbare Gewinne und Machtzuwächse hinausging. Hatte man schon in Zeiten gegenüberstehender Blöcke auf das Prinzip „Wandel durch Annäherung“ gesetzt, so galt das in der neuen Weltordnung mit ihrem breiten Mittelbau erst recht.
Gewiss gab es hochgerüstete, ausgedehnte und „autoritär“ zusammengehaltene Schwellenländer – nicht nur Russland zählt dazu.[10] Aber es gab in der allgemeinen Entwicklung der Moderne Faktoren, die die Politik der Annexionen obsolet machten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hingen Wohlstand und Sicherheit immer weniger von Zugewinnen durch Annexion ab. Das Problem der „Überdehnung“ von Staaten, die ihre innere Brüchigkeit erhöhte, rückte in den Vordergrund. Zumindest musste nicht mehr davon ausgegangen werden, dass in jedem Konflikt expansive Interessen die Triebkraft waren. Fortschritt bestand eher in der „Intensivierung“ von Wirtschaft und Staatswesen. Auch in diesem Punkte konnte ganz neu von einem wohlverstandenen Eigeninteresse großer und mächtiger Schwellenländer ausgegangen werden.
Das gilt auch für die russischen Ziele gegenüber der Ukraine. Die Annahme, Russland wolle die Ukraine annektieren (und weitere Länder der Region), ist vor diesem Hintergrund wenig plausibel. Gewiss gibt es Äußerungen, dass der Zerfall des sowjetischen Großreiches eine „Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei. Oder Äußerungen, die den Schutz der zahlreichen russische Volksgruppen in Osteuropa zum Interventionsgrund erklären. Man sollte solche Tendenzen durchaus kritisch beobachten und kommentieren. Aber sie sind weit davon entfernt, russische Staatsräson zu sein. Russlands wohlverstandenes Eigeninteresse als Schwellenland wirkt in eine andere Richtung.
Umso erstaunlicher ist deshalb, wie schnell von der EU die Option „strategische Partnerschaft“ aufgegeben wurde und durch die rückwärtsgewandte Erzählung von „Putins Imperium“ ersetzt wurde. Die Konsequenz ist eine Politik der Abwendung, eine negative Politik, die sich nicht anders zu helfen weiß, als Brücken abzubrechen. Eine Politik, die wenig Vertrauen in den Gang der Geschichte und in die innere Logik der Moderne hat. Das Schwellenland Russland verwandelt sich wieder zum feindlichen Imperium. Der Westen sitzt allein zu Hause – nichts dokumentiert diese Rückzugsbewegung besser als die Rückverwandlung von G 8 in G 7. Und die Ukraine-Krise ist auch ein Präzedenzfall für andere Regionen. Der Abschied von der Schwellenland-Partnerschaft kann morgen bei anderen Konfliktfällen in Ostasien, im Nahen Osten, in Lateinamerika praktiziert werden.
Wichtig dabei ist, dass mit dem Rückzug von Partnerschaftsoptionen eine Engführung verbunden ist: Alle positive Entwicklung wird auf einen einzigen Pol des Guten ausgerichtet. Mit der Ukraine-Krise findet eine Zentrierung der ganzen Entwicklung im Osten Europas auf die EU statt. Die Eigenständigkeit des osteuropäischen Raumes und viele historische Verbindungen unter Einschluss Russlands bleiben im neuen Szenario auf der Strecke. Das war mit „1989“ so nicht vorprogrammiert. Gewiss gibt es gute Gründe, dass zunächst viele Verbindungen zum Westen, die unter dem Sowjetimperium zerstört worden waren, erneuert wurden und die Aufmerksamkeit besonders in Anspruch nahmen. Aber es gibt auch Anzeichen, dass bei der alleinigen Zentrierung auf „Brüssel“ die weitere Entwicklung dieser Länder und erst recht die Entwicklung der noch weiter im Osten gelegenen Länder auf Grenzen stoßen.[11]
Die EU als eifersüchtige Macht
Wenn die EU ein so starkes Interesse zeigt, die Ukraine in ihren ausschließlichen Einflussbereich zu ziehen, so liegt der Verdacht nahe, dass nicht eine Änderung Russlands die Haupttriebkraft der Ereignisse ist, sondern eine Änderung der EU: eine zunehmende Binnenorientierung, eine innere Kartellbildung, ein Rückzug der Institutionen auf sich selbst. Diese Diagnose mag verblüffen. Tritt die EU nicht gerade besonders forsch auf? Ist nicht auch die Forderung, die EU-Institutionen müssten mehr Macht gegenüber den Einzelstaaten bekommen, um in der Welt mit größerem Gewicht und „auf Augenhöhe“ mit anderen Weltmächten auftreten, eine ausgreifende Politik?
Doch Vorsicht, hier ist viel vom „Zeichen setzen“ die Rede. Wir bewegen uns weitgehend im Bereich symbolischer Politik. Der Assoziationsvertrag bietet der Ukraine zunächst einmal Foren und Konferenz zum Mitreden, aber nicht alternative Energielieferungen oder Investitionen in Fabriken und Infrastrukturen. Auch die NATO hat signalisiert, dass eine Mitgliedschaft der Ukraine nicht auf der Tagesordnung steht. Es ist eher ein „Wartezimmer“, das die EU oder die NATO der Ukraine anzubieten hat. Eine substanziell neue Integration – in der Sicherheitspolitik oder auch bei Kreditbürgschaften bzw. sozialen Förderprogrammen – ist nicht zu erwarten. Auch im Wirtschaftsleben zeichnet sich keine neue Integration in Wertschöpfungsketten ab, die einen Königsweg aus der wirtschaftlichen Schwäche der Ukraine bieten könnte. Es wäre also stark übertrieben, die Rolle der EU so zu verstehen, dass sie die Ukraine „annektieren“ wolle und sich dadurch eine bessere Position als „Weltführungsmacht“ erobern wolle. Nein, eher hat die Politik der konzentrischen Länderkreise, die die EU um sich herum zu bilden versucht, einen abwehrenden Charakter. Der Druck der internationalen Konkurrenz soll gemildert werden, die Kraft der aufkommenden Schwellenländer soll gedämpft werden. Dazu dient insbesondere eine Politik des Normenexports, die bestimmte Öffnungen der Märkte und Hilfszahlungen an die Übernahme von kostspieligen Normen durch die Nachbarländer bindet. Sie bildet ein bremsendes bzw. blockierendes Vorfeld („Glacis“). Die Außenpolitik der EU mag gegenwärtig durch ihre aggressiven Töne überraschen, doch diese neue Schroffheit gegenüber Russland scheint eher von einer Eifersucht bestimmt zu sein, die keine anderen Bindungen neben sich duldet.[12] Die „aktive“ Außenpolitik gegenüber der Ukraine ist nur soweit aktiv, als sie die östlichen Bindungen der Ukraine schwächen will und ihr die dadurch entstehende Abhängigkeit der Ukraine (und anderer Länder) durchaus willkommen ist. Brüssel denkt nicht daran, sein wohlbehütetes Kleineuropa weiter nach Osten zu öffnen. Ein Wartezimmer einzelner Patienten soll entstehen – kein autonomer politischer und wirtschaftlicher Raum mit Bindungsmöglichkeiten nach Osten und Westen (was eine stärkere Eigenrolle der östlichen EU-Mitglieder zur Folge hätte).
An dieser Stelle muss über die Eigenart des Normenexports gesprochen werden. Es handelt sich um eine paradoxe Form der Einmischung. Es handelt sich um einen „Einschluss“ der Nachbarländer ins eigene Normensystem, aber zugleich haben die Normen auch einen ausschließenden Charakter: Sie schließen Realitäten dieses Landes aus, die nicht die Normen erfüllen können oder wollen. Dieser Doppelcharakter ist deshalb von Bedeutung, weil die EU nicht nur kulturelle Werte und allgemeine Menschenrechte im Sinne der UN-Charta zur Bedingung einer engeren Assoziierung macht, sondern die Übernahme von wirtschaftlich-praktischen Normen für Güter, Arbeitsmärkte, Betriebsführung und von politisch-praktischen Normen der „Governance“ (der Prioritäten, der Steuerung durch Projekte, der Kofinanzierung). Die EU ist also nicht ein kultureller Akteur, sondern ein wirtschaftlich-politisches Normensystem. Wo sie die Erfüllung bestimmter Normen zur Teilnahmebedingung an Märkten und Förderprogrammen erhebt, nimmt sie erheblichem Umfang Einfluss auf das wirtschaftliche und politische Leben eines Landes, das der EU beitreten will oder das mit der EU einen Assoziierungs-Vertrag schließt. Oft sind die neuen Standards und Politikformen so teuer und aufwendig, dass sie in einem Land, das auf dem Stand eines Schwellenlandes ist, nur für einen Teil der Gesellschaft erreichbar und attraktiv sind. Die „weiche“ Expansionspolitik der EU wirkt also stark selektiv auf die Nachbar-Gesellschaften und führt zu inneren Verwerfungen. Es bildet sich im Land eine „europäische Klasse“, die sich in den EU-Normen- und Fördersystemen zu bewegen weiß, und die von den Alltagsproblemen der übrigen Bevölkerung kaum noch Notiz nimmt und diese längst selbstgewiss als „rückständig“ abtut.[13] Dies ist seit längerem auch in vielen Beitrittsländern im Zuge der Süd- und Osterweiterung der EU nachweisbar.[14]
Insgesamt wirkt der Mechanismus des Normenexports wie eine Kartellbildung. Es muss gar kein europäischer Einheitsstaat gebildet werden, sondern es kann auf dem Wege von Normen der Zugang zu Märkten und zu bürgerlichen Rechten (Gewerbe- und Vertragsfreiheit, Eigentum, Mobilität, Bau und Nutzung von Infrastrukturen) eingeschränkt werden. Diese Kartellbildung passt zu einem Grundproblem, das sowohl die EU als auch die USA nicht loslässt: ihre Wachstumsschwäche und Überschuldung. Die eifersüchtige Bindungspolitik der EU ist der Versuch einer stagnierenden Macht, die den lästigen Eigensinn von Schwellenländern dadurch einhegen will, dass sie ein Beziehungsmonopol zu errichten versucht. Es ist also nicht nur die neue Fremdbeschreibung Russlands („imperial“) irreführend, sondern auch die Selbstbeschreibung der EU ist ergänzungsbedürftig. Die „hochentwickelten“ Länder des Westens sind nicht mehr das, was sie vor ein paar Jahrzehnten noch waren.
Für einen Perspektivenwechsel der EU-Kritik
Die Wendung der europäischen Sache, die in der Ukraine-Krise sichtbar geworden ist, ist keine Wendung ins Kühne und Weite, sondern ein Rückzug. Mit ihr hat die EU-Zentrierung der Politik eine neue Qualität erreicht. Die EU sucht ihren Platz nicht mehr als Teilakteur in einem größeren euro-asiatischen Gefüge, sondern als alleiniges Gravitationszentrum. So wird Europa enger und verschlossener. Es gibt – gerade durch die vermeintlich so „aktive“ Politik – Bündnis- und Partnerschaftsperspektiven auf. Die Losung „mehr Europa“ enthält immer stärker eine Botschaft, die das Herz eng macht und nicht weit.
Diese Erfahrung in der Ukraine-Krise sollte Anstoß zu einem Perspektivenwechsel bei der EU-Kritik sein. Es gibt viele Menschen, denen die starke Bevormundung der Wirtschaft, der Lebensführung und auch der öffentlichen Rede durch die EU-Bürokratie zu Recht ein Dorn im Auge ist. Das war vor allem innenpolitisch gedacht und auch die Kritik an der „Transferunion“ war im Grunde eine Kritik an den Binnenverhältnissen der EU. Doch nun sehen sich die Menschen einer großsprecherischen EU-Außenpolitik gegenüber, die in Konflikte hineinschlittert, die sie nicht übersieht, geschweige denn beherrscht. Ging die EU-Kritik bisher davon aus, dass die EU allzu leichtfertig in falsch verstandener Solidarität Finanzmittel verteilte, so steht die Kritik jetzt vor der Aufgabe, auf Gefahr einer leichtfertigen Spannungspolitik hinzuweisen. Es wird also eine EU-Kritik gebraucht, die weiter blickt. Eine EU-Kritik, die nur auf die eigenen Besitzstände blickt und sie gegen die Zugriffe aus Brüssel verteidigt, greift jetzt deutlich zu kurz.
Die europäische Außenpolitik muss als Feld für Kritik und Alternativen entdeckt werden. Dabei geht es vor allem darum, dass diese Außenpolitik sich stärker (und pluralistischer) auf ihr Umfeld einlässt. Ein erster Anhaltspunkt könnte das sein, was gerade abgesagt wurde: die strategische Partnerschaft der Europäischen Union mit Russland. Der gesamte europäisch-asiatische Übergangsraum ist wirtschaftlich, politisch und kulturell in einer Double-Bind-Situation (die Ukraine ist hier kein Sonderfall, sondern ein exemplarischer Fall). Jede Lösung müsste also dual konstruiert sein. Sie könnte nicht eine Partnerschaft Europas mit seinesgleichen sein (innerhalb der „europäischen Familie“), sondern müsste eine Partnerschaft mit einem „fremden“ (und dabei auch starken) asiatischen Element sein. Dabei darf „dual“ nicht auf „bilateral“ verkürzt werden. Beschränkt sich die Partnerschaft auf Brüssel und Moskau stände sie immer unter dem Verdacht, über das Schicksal anderer, kleiner oder mittlerer Nationen disponieren zu wollen. Es kann also nur um einen breiter angelegten, eigenständigen Partnerschaftsraum gehen. Das ist natürlich leichter hingeschrieben als realpolitisch getan. Im Moment ist ja schon viel erreicht, wenn man verhindert, dass alle Verbindungen mit Russland zerstört werden. Aber für eine weitsichtigere Politik, als sie die EU verfolgt, braucht man auch Perspektiven mittlerer Distanz, die Ordnungsmöglichkeiten konkretisieren.[15]
In diesem Zusammenhang gibt es noch einen zweiten Kritik-Wechsel. Er betrifft das Verhältnis zwischen den Nationalstaaten und der Europäischen Union. Bisher galt – explizit oder implizit – die EU gegenüber den einzelnen Nationalstaaten als der tendenziell „friedensfähigere“ Akteur. Sie stand als Gemeinschaft „über den Nationen“, denen man eine Neigung zu Egoismus und Gewalt unterstellte, und deshalb nahm man an, dass sie strukturell friedfertiger sei. Nun zeigt die Ukraine-Krise etwas anderes: Während in Brüssel (und Straßburg) mit Verve die Spannungen mit Russland angeheizt wurden, waren es bestimmte Nationalstaaten, die mäßigend auf die EU-Politik einwirkten. Insbesondere war es die deutsche Bundesregierung. Das hat mit der Tatsache zu tun, dass Deutschland vielfältige wirtschaftliche und auch kulturell-menschliche Beziehungen mit Russland hat. Ergo: Eine Nation kann offener sein, als ein Verband wie die EU, in dem die Logik des Kartells die Oberhand gewinnen kann. Es fällt ja auf, dass die EU gleichzeitig ein Ressentiment gegen die deutsche Exportstärke aufgebaut hat. So rückt nun der Nationalstaat auf eine unverhoffte Weise wieder in den Vordergrund: Nicht als besonders egoistischer, engherziger, kurzsichtiger, chauvinistischer Akteur, auch nicht als schlafmütziger Altbestand der Geschichte, sondern als besonders weitsichtiger Akteur, der schon wegen seiner begrenzten Größe strukturelle Gründe hat, besonders aufmerksam und flexibel in seinen Außenbeziehungen zu sein.
(erschienen auf der Internetplattform `Novo Argumente´ am 9.4.2014)
[1]In einem Kommentar auf der Titelseite der FAZ vom 24.3.14, der eigentlich der AfD gewidmet ist, schreibt Justus Bender zustimmend: „Längst ist nicht mehr die Euro-Rettungspolitik, sondern die Konfrontation mit der Atommacht Russland das bestimmende Thema der Europapolitik.“
[2] Götz Aly schreibt in der Berliner Zeitung vom 18.3.2014: „Die erst 1992 als Staat gegründete Ukraine hat noch keine feste Form. Die einzelnen Landesteile sind höchst heterogen. Die heutige ukrainische Westgrenze wurde 1939 im Hitler-Stalin-Pakt festgelegt, andere Grenzen verdanken sich sowjetischer Nationalitäten- und Machtpolitik.“
[3] Die spanische „Transicion“ nach dem Ende des Franco-Regimes zeigte – in einer historisch viel stärker belasteten Situation – die Vorteile eines schrittweisen Übergangs, der Platz für eine Beteiligung aus allen Lagern lässt.
[4] Beim Anschluss der Krim an Russland wurde das schnelle Vorgehen von den Russland-Kritikern als Beleg für einen illegitimen Vorgang angeführt, obwohl hier immerhin ein Referendum stattfand. Die Regimewechsler in Kiew hatten bei ihren Schritten noch eiliger.
[5] Bei etwas ruhigerer, realpolitischer Betrachtung (mit etwas Abstand von den Ereignissen) könnte sich herausstellen, dass der Anschluss der Krim an Russland und die neuen Vertragsbindungen der Ukraine an die EU eine provisorische Stabilität durch gegenseitiges Nehmen und Geben ermöglichen, das auch in anderen Fragen ein erstes Lösungselement für die Dilemma-Situation sein könnte – russisches Gas für die Ukraine im Gegenzug zu besonderen Garantien für die russische Bevölkerung in der Ost- und Südukraine. Die rein völkerrechtliche Erörterung der Ukraine-Krise ist nicht flexibel genug, um solche politischen Lösungen ins Auge zu fassen.
[6] Vielleicht ist der Begriff „Sanktionskrieg“ überzogen. Die Maßnahmen sind nicht so weitgehend wie die „Kontinentalsperre“ (durch Napoleon) oder die „Seeblockaden“ (im ersten und zweiten Weltkrieg). Aber es handelt sich um Übergriffe von Staaten, die ein bestimmtes Verhalten eines anderen, souveränen Staates erzwingen sollen. Ob und in welchem Maße solche Übergriffe durch das Völkerrecht gedeckt sind, ist nicht weiter erörtert worden. Wahrscheinlich greift das Völkerrecht hier tatsächlich nicht – aus systematischen Gründen. Das Völkerrecht ist nur sehr begrenzt dafür geeignet, internationale Konflikte zu regeln. Es ist blind gegenüber vielen Vorgängen, die ein Land schwerwiegend bedrohen und schädigen können.
[7] Nach der Disqualifikation der Olympischen Winterspiele in Sotschi als „Putins Spiele“ setzte sich mit der Ukraine-Krise in der europäischen Presse die Regel durch, jegliche Handlung Russlands an „Putin“ zu adressieren. Eine kleine Liste von Formulierungen aus der FAZ mag das verdeutlichen: „Putins Kalkül geht auf“ (18.3. Kommentar Titelseite), „Putins Pipeline-Politik gegen Kiew“ (18.3./Wirtschaftsteil), „Putins Jalta“ (19.3. Kommentar Titelseite), „Putins Welt“ (20.3. Untertitel S. 8), „Putins Werk“ (20.3. Kommentar Titelseite), „Kältetherapie für Putin“ (21.3. Kommentar Titelseite), im Bericht über die Sanktionen werden die betroffenen russischen Amtsträger zu „Putins Umfeld“ (ebd. S.1). Andere deutsche und europäische Blätter bewegen sich in der gleichen Sprachregelung.
[8] Der amtierende US-Präsident erklärte, Russland habe sich mit seiner Ablehnung des ukrainischen Regimewechsels „auf die falsche Seite der Geschichte“ gestellt.
[9] Vgl. Gerd Held, Im Mittelbau der Welt (Essay in der Tageszeitung „Die Welt“ vom 26.2.2014)
[10] Es gibt eine Tendenz, bestimmte Schwellenländer nur deshalb unter Verdacht zu stellen, weil sie „groß“ sind und mehrere Ethnien (von sehr unterschiedlichem Gewicht im Gesamtland) umfassen. Aber solche großen Gebilde können durchaus politisch vernünftig und legitim sein. Sie können auch den ethnischen Minderheiten zusätzliche Entfaltungsmöglichkeiten bieten, auch wenn sie an der Zentralmacht weniger Anteil haben. Es gibt ja kaum jemand, der ernsthaft die USA wegen des „Erwerbs“ oder „freiwilligen Anschlusses“ von Texas, Alaska oder Hawaii zum Imperium erklärt. Aber schon die klassischen europäischen (heute „mittleren“) Nationalstaaten beruhen nicht auf der Selbstorganisation einer Ethnie. Auch sie wurden heterogen und asymmetrisch (Führungszentren griffen auf Peripherien über) gebildet: siehe Kastiliens Rolle in Spanien, Englands Rolle in Großbritannien, die Rolle der Ile de France in Frankreich und Preußens Rolle in Deutschland). Der neue Generalverdacht gegen asymmetrisch zusammengesetzte Schwellenländer ist falsch und geschichtsvergessen.
[11] Eine ganz ähnliche Konstellation gibt es auch im Süden Europas. Die Kräfte, denen die Befreiung von den Diktaturen in Ländern wie Portugal, Spanien oder Griechenland gelang, konzentrierten ihre Entwicklung in der Folgezeit immer stärker auf die EU. Doch machen sich heute die Grenzen dieser Zentrierung auf Brüssel und des Verzichts auf südliche „mediterrane“ Synergien bemerkbar. Das gilt noch mehr, wenn man die Länder des Südufers und ihre weitere Entwicklung mit einbezieht.
[12] Das deutet auch der deutsche Außenminister an, wenn er sagt „Wir werden unsere östlichen Nachbarn nicht in Entweder-Oder-Entscheidungen drängen“ und damit indirekt eingesteht, dass hier ein Problem der EU-Politik liegt (vgl. FAZ v. 30.3.2014)
[13] Der Begriff der „classe européenne“ ist in Frankreich inzwischen geläufig.
[14] Meine Skepsis hinsichtlich einer kleineuropäischen Lösung der Ukraine-Krise ist zu einem wesentlichen Teil vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen und Beobachtungen im Süden Europas – insbesondere im westlichen Mittelmeerraum (Frankreich, Spanien, Maghreb) zu verstehen.
[15] Hier kehrt ein Thema wieder, das schon mit der Idee einer „Mittelmeerunion“ berührt war, deren Start vor einigen Jahren versucht wurde. Das Projekt hat sich vorläufig festgefahren. Aber der Aufwand für eine solche Zwischenarena könnte sich auf die Dauer im Vergleich mit den Kosten einer kleineuropäischen Schließung doch als vernünftig erweisen – sowohl im Süden als auch im Osten Europas. Die „Mittelmeerunion“ scheiterte bisher nicht nur an Widerständen arabisch-islamischer Länder, sondern auch an der Eifersucht der EU gegenüber eigenständigen Staatenverbindungen in seiner Nachbarschaft.
(erschienen auf der Internetplattform `Novo Argumente´ am 9.4.2014)