Nicht um ein „für Europa“ oder „gegen Europa“ geht es, sondern um die angemessene institutionelle Ordnung für einen wachsenden Pluralismus der Nationen. Doch das EU-System kann immer nur mehr Vereinheitlichung liefern. Reflektionen am Beispiel Frankreichs
Die Wiederkehr der europäischen Frage
Der Griff des Europaparlaments nach dem Vorschlagsrecht für das Amt des Kommissionspräsidenten ist ein schwerwiegender Vorgang. Der Lissaboner Vertrag als gültiger EU-Grundlage wird verletzt. Nach diesem Vertrag ist das EU-Parlament ist nur eine beigeordnete Versammlung mit Vetorecht, aber ohne „konstruktive“ Rechte. Wenn sich diese Versammlung nun das Vorschlagsrecht nimmt, verschiebt es eigenmächtig seine Rolle in Richtung eines Vollparlaments und es verschiebt zugleich die Rolle der EU-Kommission in Richtung einer Europaregierung. Auch die Berufung auf „den Wähler“ – man hat ihn im Wahlkampf nicht über die Grenzen der Straßburger Versammlung aufgeklärt – hat etwas Usurpatorisches. Ein begrenztes Votum wird im Nachhinein zum Votum eines europäischen Souveräns erklärt. Dies geschieht ausgerechnet in einem Moment, in dem die hohe Zahl der Nicht-Wähler und der gewachsene Block der EU-Skeptiker in die entgegengesetzte Richtung deuten. Offenbar gibt bei führenden Politikern in Europa eine wachsende Neigung zu einer Politik des Durchdrückens. Die Parteien, die den EU-Leitsatz „Immer enger vereint“ vertreten, scheinen ihn nun auf Biegen und Brechen durchsetzen zu wollen.
Doch gibt es keinen Grund, sich davon beeindrucken zu lassen. Vielmehr sollte man dies Augen-Zu-Und-Durch als Zeichen werten, dass andere Optionen allmählich fassbarer, plausibler und machbarer werden. Das Politiksystem der EU ist dabei, sein Monopol auf politische Vernunft in europäischen Dingen zu verlieren. Europa kann wieder ernsthaft erwägen, ob ein geordneter Pluralismus souveräner Staaten, der klassische Modernisierungspfad also, nicht zukunftsfähiger ist, und ob die EU nicht schrittweise zu einer Ordnungsform dieses Pluralismus umgebaut werden kann. Die Anhänger dieser Richtung brauchen dabei nicht die Schroffheit und Eile der Europa-Drücker übernehmen. Sie können gelassener sein. Aber sie müssen sich auch nicht auf eine theoretische Diskussion beschränken. Sie können schon Politik machen. Eine Maßnahme, die vor einigen Jahren noch unvorstellbar war, kann nur ernsthaft erwogen werden: die (zeitweilige) Suspendierung der Mitarbeit in der EU. Und auch für die Frage, welche Mehrheit das denn beschließen soll, gibt es nach den Wahlen vom 25.Mai ein Szenario. Die bisherigen bürgerlichen Hauptparteien, insbesondere die Christdemokratie, die in vielen Ländern die nationale Entwicklung mit dem Kompetenzzuwachs für die EU verklammerten, hat in vielen Mitgliedsländern die Fähigkeit verloren, eine eigene Mehrheit (mit ein paar kleineren Hilfsparteien) zu bilden. Auch wenn die Stärke der EU-Kritiker noch recht klein und bisweilen wenig seriös ist, so ist den bürgerlichen Hauptparteien ein entscheidender Truppenteil abhandengekommen und es sieht nicht so aus, als würde er irgendwann noch einmal zu ihr zurückkehren. Das eröffnet die Möglichkeit, dass wir, nach einer Zeit schroffer Zurückweisung, eine Etappe neuer Koalitionen in wichtigen europäischen Staaten sehen werden, mit der man geduldig und konstruktiv einen Rückbau der EU durchsetzen kann. Eine Wahl Jean-Claude Junckers zum Kommissionspräsidenten und das Tam-Tam einer direkten demokratischen Legitimation der Brüsseler „EU-Regierung“, das jetzt zu erwarten ist, kann daran nichts ändern.
Doch der Reihe nach. Die Legitimationsprobleme des EU-Gebildes haben mit der Tiefe und Verschiedenheit der Probleme zu tun, die in den Ländern Europas zu lösen sind. Das kann am Fall Frankreich gezeigt werden.
Die französische Krise: Wie bewältigt man einen historischen Rangverlust?
Wir haben uns in politischen Dingen daran gewöhnt, einen recht harmlosen Charakter von Krisen anzunehmen: Ein Land kann in eine Krise geraten und wird dann irgendwie, so die optimistische Vorstellung, schon die richtigen Maßnahmen finden. Es mag dabei zu Verzögerungen und sozialen Konflikten kommen, Politiker und politische Parteien können versagen – aber insgeheim vertrauen wir darauf, dass die Dinge ins Lot kommen. Die „Realität“, so hört und liest man oft, werde schon für den heilsamen Druck sorgen, der letztlich zu einer Korrektur und zu den notwendigen Reformen führt. Entweder würde die Regierungspartei ihre Blütenträume aufgeben und zu einem realistischen Kurs finden. Oder es stünde eine Opposition bereit, die im Zuge eines Regierungswechsels diese Aufgabe übernimmt. Das ist eine freundliche und im Grunde beruhigende Geschichte. Das Leben geht weiter, jedes Gemeinwesen fällt irgendwie immer wieder auf die eigenen Beine. Diese Grundstimmung, das alles irgendwie regelbar ist und man eben „auf Sicht fahren“ müsse (Politik als „Fahren“ ist eine merkwürdige Vorstellung), dominiert gerade dort, wo viel von „Krise“ die Rede ist.
Auch der Fall Frankreich wird jetzt wieder in diesen, im Grunde beruhigenden Deutungsrahmen gestellt. Unser Nachbarland gilt als kranker Mann Europas (nicht nur wirtschaftlich, sondern jetzt auch politisch) und schon werden ihm all jene Schnell-Diagnosen und Therapie-Vorschläge angedient, die das europäische Politiksystem auf Lager hat. Dabei legt man sich eine Frankreich-Erzählung zurecht, die die Probleme des Landes krass unterschätzen und alles letztlich auf die Befangenheit seiner Bewohner zurückführen. „Die Franzosen fühlen sich abgehängt. Die Schuld dafür geben sie der EU und Deutschland“ schreibt die Frankreich-Korrespondentin der FAZ am 30.Mai im Titelseiten-Kommentar und sie ist weiß Gott nicht einzige, die die Lage Frankreichs zum rein subjektiven Seelen- und Mentalitäts-Problem der Franzosen machen.[1] Besteht die Krise also darin, dass die Franzosen die falschen Gefühle haben? Müssen sie also kräftig gemahnt werden, um wieder auf den richtigen Weg zu finden? Diese Story über unser Nachbarland ist so verheerend leichtsinnig, so blöd, so infam. Und sie ist – gegenüber einer klassischen Nation der Aufklärung – von allen guten Geistern Europas verlassen. Diese neue Frankreich-Erzählung, in deren Rahmen alle möglichen alten Kultur-Urteile über den angeblichen Volkscharakter unserer Nachbarn wieder hervorgekramt werden, ist jetzt, wo man doch überall „mehr Europa“ beschwört, ein kurioses Selbstdementi, eine Art Offenbarungseid.[2]
Dabei könnte man die Geschichte auch ganz anders erzählen und dabei einfach einmal den ganzen Komplex „Wer hat Schuld?“ beiseitelassen: Frankreich hat es geschafft, seine alte, im Grunde schon prekär gewordene Rolle als Führungsmacht noch über Jahrzehnte zu verlängern (wobei seine Rolle auf der europäischen Gemeinschaftsbühne ihm eine falsche Selbstgewissheit verschaffte). Tatsächlich haben Staat und Wirtschaft schon lange Zeit über ihre Verhältnisse gelebt. Das ließ sich immer weniger verbergen. Die Gesellschaft – bei allem Durcheinander, das dies Gebilde sowieso immer kennzeichnet – ist darüber zunehmend orientierungslos geworden. So etwas kann einer Nation passieren, auch einer starken Nation. Es ist keine Schande.
Allerdings ist es sehr schwer, aus einer solchen Lage wieder herauszufinden. Der schlichte Appell „mehr Realismus“ erfasst nicht die Tiefe und Schmerzhaftigkeit der notwendigen Veränderung, die ja den gesamten, über einen langen Zeitraum gewachsenen Rang unseres Nachbarlandes betrifft. Frankreich muss nicht nur die Hoffnung auf das Strohfeuer von Konjunkturprogrammen begraben, sondern auch die Hoffnung, dass ein Kürzungsprogramm (etwa im Sinne einer französischen Schröder-Agenda) zu einem neuen Aufschwung führen würde. Die Grundaufstellung des Landes hat dafür nicht genug Substanz und das internationale Umfeld hat heute viel mehr gleichwertige Akteure. Die Vorwärts-Strategie des „Herauswachsen aus der Krise“, die von allen Regierungen von links und rechts immer wieder – in den verschiedensten sozialistischen oder liberalen Formeln – beschworen wurde und im Grunde immer noch beschworen wird, kann gegen den historischen Rangverlust eines Landes nichts ausrichten. Deshalb ist die Kategorie der „Schuld“, die immer auf irgendein Fehlverhalten abstellt, hier fehl am Platz. Auch Spekulationen über irgendeine, angeblich zu „bieder-rückwärtsgewandte“ oder zu „südlich-hedonistische“ Mentalität (wie passen eigentlich beide Vorwürfe zusammen?), die die Franzosen daran hindert, sich anständig aus der Krise herauszuarbeiten, sind nicht nur herabsetzend gegenüber unseren Nachbarn, sondern auch oberflächlich gegenüber der Tiefe des Problems. Statt also die Franzosen zu schulmeistern, wäre zunächst einmal einfach Empathie angebracht.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Frankreich steht vor einer langen Durststrecke. Am Ende dieser Durststrecke wird die Nation, befreit vom Ballast falscher Erwartungen ihre Freiheit, ihre vita activa und ihre Selbstachtung wiedergewinnen, aber das relative Gewicht Frankreichs im internationalen Vergleich wird kleiner sein. Das wird sich ganz materiell ausdrücken in der Größe der Projekte, die es in Angriff nehmen kann. In seinen Städten, seinen Verkehrswegen, seinen sozialen Einrichtungen. Im Einkommen der Bürger (in dem so oft beschworenen „pouvoir d´achat“, der Kaufkraft der Menschen). Aber auch in der Breite seines kulturellen Angebots und in der Breite seiner sozialen Aufstiegschancen. Die wirtschaftliche, politische und kulturelle Krise Frankreichs muss also zunächst als Geschichte eines echten Verlusts erzählt werden.
Institutionelle Alternativen in einer grundlegenden Krise
Die eigentliche Grundfrage ist also, wie ein Land eine solche Durststrecke aushält. Schon diese Frage kommt in den leichteren Krisenszenarien mit ihren schnellen Rettungsmaßnahmen gar nicht erst vor. Wird die Frage aber gestellt, tritt ein Mechanismus in den Vordergrund: Wenn man eine große Rückstufung hinnehmen muss, ist es besser, sie aus eigenem Entschluss, aus eigener Einsicht und in eigenen Schritten durchzuführen. Das meint der Begriff der Souveränität. Sie macht es möglich, die Durststrecke als Werk der Selbstbehauptung zu bewältigen. Sie ermöglicht auch, eigene Prioritäten zu setzen. Sie kann damit zu einer Quelle der Selbstachtung werden. Denn die Geschichte der Krise wird nicht zu einer fremden Geschichte, zu einer Geschichte von höherer Hand, sondern sie bleibt „meine“ oder „unsere“ Geschichte. Sie wird Eigentum der Nation und gehört fortan zu ihren Beständen. Wenn es also wirklich hart auf hart geht und erhebliche Opfer anstehen, dann ist die Ressource der Souveränität gefragt.
Man sollte „Souveränität“ nicht als pompöse, arrogant über der Realität stehende Alleinherrschaft verstehen, sondern als eine nüchterne, eindeutige Zuordnungsregel. Sie hat mit Verantwortungsethik zu tun. Sie kann auf den „Volkssouverän“ ausgedehnt werden und gehört damit zu einer wohlverstandenen allgemeinen Mündigkeit und Freiheit. Sie gehört zum modernen Arsenal der property rights, und nicht zu einer kruden Logik der Macht. Zur Souveränität gehört die Haftbarkeit. Deshalb ist die Nagelprobe der Souveränität nicht der Moment besonders günstiger Umstände, sondern der Moment der Krise. Souveränität ist kein Merkmal von Sonnenkönigen, sondern ein Schlechtwetterprogramm. Souveränität meint damit nicht ein besonderes Maß an Willkür in einem „Ausnahmezustand“. Sie bewährt sich vielmehr in existenziellen Situationen mit einer eingeschränkten Wahl von Handlungsmöglichkeiten, mit Handlungsdilemmata. Der Souverän hat hier nicht nur das Entscheidungsrecht, sondern auch eine Entscheidungspflicht, der er sich nicht entziehen kann. Ein Souverän kann vieles, aber weglaufen kann er nicht.
Das gilt nun auch in demokratischen Zeiten und bekommt hier sogar eine gesteigerte Bedeutung: Der Mechanismus der eindeutigen, dauerhaften Zuordnung, den Souveränität beinhaltet, bedeutet einen Schutz vor der Willkür von Mehrheiten. Er stellt sogar den einzigen umfassend und dauerhaft wirkenden Schutz dar. Denn die Zuordnungsregeln und Haftbarkeiten (bis hin zur Staats-Insolvenz) sind auch gegenüber dem Volkssouverän wirksam. Gegen die Willkür der einfachen Wahlakte, mit denen sich bestimmte soziologische Mehrheitsgruppen durchsetzen können (wie jetzt beim Rentenpaket der Großen Koalition in Deutschland), hilft eben nicht „mehr Demokratie“, sondern nur ein institutionelles Arrangement, das die Folgen der Wahlakte auch für die Mehrheiten spürbar machen. Dazu gehört natürlich, als Basic, die territorialstaatliche Eingrenzung eines einheitlichen (unteilbaren) Bilanz- und Haftungsraums. Souveränität ist eine Einfassung von Demokratie und nicht zuletzt eine räumliche Einfassung. Ganz gleich in welcher Größe man sich das in Europa vorstellt (als ein einziger gesamteuropäischer Haftungsraum oder als Pluralismus vieler souveräner Haftungsräume) – es muss auf jeden Fall geklärt und festgelegt sein. Im vorliegenden Fall einer historischen Rückstufung, bei der es keine schnellen Erfolge und Belohnungen gibt, ist es wichtig, dass die Menschen zumindest die Gewissheit haben, dass alle den gleichen Restriktionen unterworfen sind. Nichts unterminiert die Moral auf einer Durststrecke mehr als eine löchrige Souveränität, die real gar nicht besteht.
An dieser Stelle wird der Unterschied zur europäischen Rettungspolitik deutlich. Und man muss die Rettungspolitik gar nicht dämonisieren, um den Unterschied zu verstehen. Man muss kein „Brüsseler Diktat“ und keine „sozialistische Ideologie“ hinter der Zunahme innereuropäischer Transfers und Haftungen vermuten. Man kann dieser Politik sogar konzedieren, dass sie einige gute Gründe für sich beanspruchen kann und dass sie in bestimmten Problemlagen sinnvoll ist. Aber sie ist eine Lösung mit letztlich milden und daher schwachen Mitteln. Das wird deutlich, wenn man sie institutionell analysiert: Sie ist ein Tauschgeschäft. Sie stellt Zuwendungen in Aussicht und verlangt als Gegenleistung Reformzusagen. Auf der faktischen Ebene gewährt sie Hilfszahlungen und bekommt als Gegenleistung tatsächlich bestimmte Kürzungen im Staatshaushalt. Dabei gibt es die Asymmetrie, dass die Hilfszahlungen immer in einem gewissen Grade den tatsächlichen Reformmaßnahmen vorausgehen, weil diese Maßnahmen nur in Teilschritten wirksam werden.
Aber nicht die Asymmetrie ist das entscheidende Problem dieser Politik, sondern die Symmetrie. Man will die Krise durch eine Gleichheit im Tausch bewältigen. Man muss die Anpassungen mit Belohnungen erkaufen. Belohnungen in Gestalt von materiellen Zuwendungen und auch Belohnungen in Gestalt von Mitbestimmung. Das Land wird in ein System ständiger Zuwendungen und Kooperationsstrukturen eingebunden. Mit diesem Anreiz sollen die Einwilligung in bestimmte Kürzungen und das Eingehen von Abhängigkeiten gemildert werden. Zu dieser Sanierung durch Anreize gehört es auch, dass Erfolge der ganzen Operation relativ schnell und greifbar dargestellt werden müssen. Bei längeren Durststrecken kommt es schnell zu Zweifeln über das Tauschgeschäft. Überhaupt ist das Tauschgeschäft anfällig für Misstrauen. Es ist vom ständigen Zweifel begleitet, ob die Symmetrie des Tauschs wirklich vorhanden ist – und dieser Zweifel ist schwer auszuräumen, wenn der Sanierungsvorgang die gesamte Aufstellung eines Landes betrifft und daher komplex ist.[3] Bei kleineren, regionalen oder sektoralen Sanierungen kann ein solches Rettungs-Arrangement durchaus funktionieren.
Die Lösungsversion, die in der europäischen Rettungspolitik zum Zuge kommt, verzichtet also weitgehend auf den Mechanismus der Souveränität. Sie arbeitet zwar von höherer Ebene (z.B. die „Troika“ aus EU-Kommission, EZB, IMF), aber diese Ebene ist auf die Einsicht, Einwilligung und Mitarbeit der Ebene des Landes (der nationalen Regierung) angewiesen. Diese nationale Ebene hat aber ihre Souveränität eingebüßt, denn sie hat sich von Hilfszahlungen und Reformauflagen von fremder Hand abhängig gemacht. Die Rettungspolitik beruht also auf einer doppelten Beseitigung der Souveränität, auf einem Gegenüber von Nicht-Souveränen.[4]
Dieser Verzicht auf Souveränität hat eine milde Seite: Das gerettete Land und die ausländischen Kreditgeber-Länder entgehen der Gewaltkur einer Staatsinsolvenz; der Ausschluss/Austritt aus bestimmten Verträgen und Gemeinschaften wird vermieden. Deshalb malen Anhänger der Rettungspolitik gerne die „katastrophalen Folgen“ jeder anderen Lösung an die Wand. Auf der anderen Seite bedeutet der Verzicht auf Souveränität den Verzicht auf eine große Ressource – die Ressource der Selbstbehauptung, der Würde der eigenen Tat. Die Souveränität kann auch unter der Bedingung materieller Verluste fortbestehen – das Eigene besteht unabhängig von der Größe des Besitzes fort. Wenn im Zuge der Rettungspolitik Zuwendungen und Reformen von fremder Hand veranlasst werden, erscheint das zunächst als Milde – insbesondere, wenn der Schritt „Staatsinsolvenz“ oder „Austritt“ vermieden wird. Aber die Ressource der Souveränität ist damit auch aus der Hand gegeben und kann nicht beliebig eingeschaltet werden. Die Krise und Krisenbehandlung wird zum Dauerzustand. Der Verzicht auf diese Ressource ist kein Verzicht auf eine „theoretische“ Konstruktion, sondern ein Abschied von Grundlagen der modernen Welt – von Mechanismen, die den Aufstieg und das hohe Niveau dieser Welt erreichbar machten.[5]
Man könnte den Unterschied zwischen Krisenbewältigung durch Souveränität und Krisenbewältigung durch Rettungsmaßnahmen aber auch als Unterschied zwischen einer politischen Lösung und einer verwaltungsmäßigen Lösung verstehen. Rettungsmaßnahmen beruhen auf den sekundären Mitteln, die einer Verwaltung zur Verfügung stehen. Wenn aber solche Maßnahmen im großen Maßstab und als eigene „Politik“ durchgeführt werden, bekommen sie einen problematischen Charakter: Mit der „Rettungspolitik“ tritt die Verwaltung aus dem Schatten der politischen Autorität des Gesetzgebers und erklärt sich selbst zur letzten Instanz. Max Weber hat in diesem Sinn die deutsche Politik zu Beginn des 20. Jahrhunderts als „Beamtenherrschaft“ ohne „politisches Führertum“ kritisiert.[6] Man kann so etwas bei sekundären Problemen machen. Man kann es eventuell auch bei einem kleineren Staat machen und ihn irgendwie „mitziehen“. Aber bei einem größeren Land in einer historischen Krise – das ist nun mit Frankreich der Fall – erscheint ein solches Kleinarbeiten der Probleme unmöglich.
In der Neusortierung der politischen Landschaft in Frankreich ist Vernunft am Werk
Damit kommen wir auf die französische Krise zurück. Hier ist ein großes Land betroffen, zudem eines der historischen Pionierländer der modernen Souveränität. Dazu kommt eine ambivalente Situation, was den Rang betrifft: Frankreich ist einerseits zwar nicht mehr auf Augenhöhe mit Deutschland, von den außereuropäischen Großmächten zu schweigen. Aber es ist auch „zu groß“, um im europäischen Politiksystem einfach mitgezogen werden zu können. Frankreich wird in Europa immer eine tragende Rolle spielen. Die Möglichkeit, ins Schlepptau äußerer Solidarität genommen zu werden, besteht nicht. Der häufig wiederholte Vorwurf, dass Frankreich sich nicht mit einem Rangverlust abfinden könne (und es gefälligst solle), verdeckt das objektive Problem der zukünftigen Einordnung. Frankreichs Stärke ist zu klein und gleichzeitig zu groß. Dieser ambivalente Status gilt, auf einem anderen Level, übrigens auch für Deutschland, das stärker ist als die anderen großen Nationen in Europa, aber auch nicht stark genug, um Europa insgesamt zu ziehen.
So stellt sich hier zum ersten Mal wirklich ernsthaft die Abwägungsfrage zwischen den beiden oben erläuterten institutionellen Lösungen: Kleinarbeiten der Krise im Tauschgeschäft „Zuwendung gegen Reformauflage“ oder Krisenbewältigung durch Rückbau in eigener Souveränität. Das lässt die Tatsache, dass in Frankreich die Forderung nach Austritt aus der EU in einem beträchtlichen Teil der Wählerschaft so populär geworden ist, in einem neuen Licht erscheinen. Sie ist nicht nur ein Ausfluss von globalisierungsfeindlichen, fremdenfeindlichen Ressentiments. Hier spricht nicht nur eine populistische Demagogie zu ihrem besitzständlerischen, modernisierungsfeindlichen Klientel. Sondern hier ist auch eine kühle, scharfe politische Vernunft am Werk, die die langfristigen staatspolitischen Kosten der Rettungspolitik sieht. Man kann zu Maßnahmen wie einer Suspendierung der EU-Mitarbeit Frankreichs auch aus ganz nüchternen institutionellen Erwägungen kommen. Das ist eine irritierende Feststellung: Man kann auf einem ganz anderen Weg als der Front National zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommen. Und es ist bestürzend, dass der FN im Augenblick ein gewisses Monopol auf staatspolitische Argumente hat. Sie kann „republikanisch“ auftreten und vorführen, dass die anderen Parteien Eckwerte der Republik zur Disposition stellen.[7] Eine Partei, die bisher eher durch Engherzigkeit, durch ethnische, rassistische oder religiöse Vorurteile aufgefallen ist, konnte nun dies Thema besetzen – weil andere es leichtfertig behandeln.
Das empört-faszinierte Starren auf den Aufstieg des FN kann davon ablenken, das eigentlich Neue in der allgemeinen Stimmungslage zur Kenntnis zu nehmen: Die Idee der Souveränität erfährt tatsächlich eine neue Wertschätzung. Sie ist nicht nur ein Reflex auf die Eingriffe der EU, sondern gewinnt immer mehr Kontur als eigenes, positives Programm zur Bewältigung der grundlegenden Probleme Frankreichs. Die Wiederentdeckung der Souveränität ist in Frankreich eine rationale Entscheidung, die gute Gründe für sich beanspruchen kann. Sie ist auch Folge eines Lernprozesses. Denn die Franzosen waren eben nicht „immer schon“ irgendwie besessen von sich selber. Sie haben erst über Jahre die EU-Option in verschiedenen Varianten gewählt und politisch-praktisch durchgespielt. Die jetzige politische Wende in Frankreich beruht auf der Erfahrung eines Scheiterns. Man kann das an den beiden Stationen „Sarkozy“ und „Hollande“ zeigen. Man sollte nur nicht das Vorurteil pflegen, die Franzosen seien so naiv zu glauben, dass ihr Land „eigentlich gut läuft“ und nur die bösen Kräfte von Brüssel oder vom Weltmarkt alles kaputtmachen. Es gibt bei unseren Nachbarn längst ein Alltagswissen, zumindest eine begründete Ahnung, dass etwas in den Betrieben, in den Schulen, in der Arbeitsweise des Staates nicht stimmt. Deshalb waren schon die Wahl von Sarkozy und die Wahl von Hollande Entscheidungen, bei denen der Wunsch nach Verbesserung Frankreichs den Ausschlag gab. Die Verbesserung wurde in zwei Varianten versucht.
Zunächst sahen die Franzosen, dass die Vorstellung, man müsse sich nur mehr anstrengen und mehr Ehrgeiz zeigen, nicht funktionierte. Man machte die Erfahrung, dass man an vielen Stellen schon „am Limit“ war. Man hatte industriell vielfach den Anschluss verloren und konnte das nicht einfach voluntaristisch wettmachen. Man konnte weder einen unternehmerischen Mittelstand noch eine industrielle Facharbeiterschaft herbeizaubern. Die Biographien waren schon anders gepolt. Natürlich gab es erfolgreichere Branchen und Regionen, aber das reichte nicht, um das ganze Land auf Niveau zu halten. Es fehlten überall der „Rohstoff“ und der „Nachschub“ in der notwendigen Breite des ganzen Landes. Diese Erfahrung ist mit der Präsidentschaft von Sarkozy, dem Hyperaktiven und Omnipräsenten, verbunden. In der Abkehr von Sarkozy, der Verkörperung des Aktivismus, kam die Erkenntnis – vorsichtiger gesagt, die Ahnung – zum Ausdruck, dass das französische Problem nicht „aktivistisch“ zu lösen ist. Dann kam Hollande, der für einen Moment den Eindruck erweckte, er würde die Franzosen verstehen und er könne Status Quo und Veränderung miteinander verbinden – ohne harte Sparpolitik, durch Reichensteuer, durch expansive Geldpolitik, durch subventionierte oder schlicht „befohlene“ Aufrechterhaltung industrieller Aktivitäten. Er erweckte den Eindruck, es gäbe eine höhere, helfende Hand, ein freundliches europäisches Szenario. Doch diese Hoffnungspolitik hielt nicht lange vor. Das lag weniger an einer schroffen Abfuhr von außen – zumal es ja den Rückenwind der EZB-Politik des billigen Geldes gab. Vielmehr sah man, dass sich im Land an der Produktivität von Wirtschaft und Staat nichts änderte. Und die Aussicht auf eine dauerhafte „solidarische“ Betreuung von außen befriedigte nicht. Sie fühlt sich schal an, sie verletzt die Selbstachtung. So ist zu erklären, warum in Frankreich auf die Ernüchterung über Hollande nicht eine weitere Radikalisierung nach links erfolgte, sondern eine eigensinnigere Stimmungslage entstand.
Beide Varianten haben sich als zu kurzsichtig und zu oberflächlich erwiesen. Die Wiederentdeckung des Souveränitätsthemas ist Folge dieses Scheiterns. Sie ist also Folge einer Einsicht, einer Reflektion. Sie ist deshalb ebenso ernst zu nehmen und zu achten wie andere Positionen. In Frankreich ist – in zwei Varianten – die Idee gescheitert, das Land käme ohne nachhaltige Abstriche an der Krise vorbei. Zum einen die Vorstellung, es könne aus der Krise „herauswachsen“, zum anderen die Vorstellung, es könne auf Dauer in einer Kunstlandschaft „jenseits der Krise“ wohnen. So kann man von einem gewissen Erfahrungsstand der Franzosen sprechen, der in der Wahl vom 25.Mai zum Ausdruck gekommen ist. Natürlich nicht klar expliziert und kanonisiert, sondern mit all dem Durcheinander, das zu einer öffentlichen Meinung gehört. Eine erhebliche Rolle spielt, dass die beiden bisher dominierenden politischen Lager alles andere als mobilisiert und inspiriert wirken. Man findet formelhafte Diskurse vom Rednerpult und viele kleine Bemerkungen des Zweifels im Publikum. Eine Jetzt-Erst-Recht-Stimmung für die europäische Sache sieht anders aus. Auch findet sich niemand, der wirklich durch die Beruhigung der Schuldenkrise durch die EZB-Politik ermutigt wäre.
Umso so heftiger wird dann der Widerspruchsgeist der Franzosen geweckt, wenn sie sehen, wie die etablierten Parteien diese Lage ignorieren und wie ihr formelhaftes und im Grunde überzeugungslose Europa-Gehabe hofiert wird. Es gibt inzwischen eine Entfremdung vieler Franzosen zu den Massenmedien gleich welcher Couleur. Auch gegen die politisch-pädagogische Bevormundung. Bisweilen findet man einen geradezu aufklärerischen Ehrgeiz, die diskursiven Manöver und Inszenierungen zu durchschauen. Ebenso wächst eine andere Fähigkeit: die Fähigkeit, die politische Szenerie schlicht zu ignorieren und sich auf eigene Faust zurechtzufinden. Wenn der Front National schon seit längerer Zeit bei den jüngeren Wählern bis 25 Jahre die stärkste Partei ist, dann ist hier auch ein gutes Stück französischen Anarchismus im Spiel.
Bedeutsam ist aber auch die Tatsache, dass es inzwischen eine zunehmende Zahl von Experten (im weitesten Sinn) gibt, die sich von den bisherigen politischen Lagern abwenden und zu FN-Wählern oder zu Nicht-Wählern geworden sind. Aus diesem Votum bzw. Nicht-Votum spricht keine dumpfe Gefühligkeit oder blinde Protestwut, sondern die Kenntnis der Realität vor Ort, auch Realität im Mittelbau der Unternehmen und des Öffentlichen Dienstes. Hier kommen Berufserfahrungen und rationale Kalküle zum Ausdruck. So wie es früher ein „vote utile“ gab, eine taktische Stimmabgabe, um im französischen Parlamenten regierungsfähige Mehrheiten herzustellen, so gibt es inzwischen ein anderes „vote utile“, das die FN als Hammer benutzt, um die Hängepartie Frankreichs aufzusprengen.
So kommt in der Gesamtstimmung in Frankreich etwas Neues zum Ausdruck, ein neuer Eigensinn, der sein Geschick lieber selber trägt. Dieser Eigensinn braucht gar kein besonderes Ressentiment „gegen Brüssel“. Es genüg die Überzeugung, dass das „europäische Projekt“ nichts wirklich Bedeutendes ist und einem Land wie Frankreich nicht helfen kann. Die französischen Sorgen sind also nicht zu klein und engstirnig für die „europäische Idee“, sondern sie sind zu groß für die emsigen Brüsseler Richtlinien-Schreiber. Der Vorschlag, man könne ja für seinen Betrieb oder seine Schule einen Antrag auf Fördergeld stellen, klingt in den Ohren der Menschen immer mehr wie eine Ausrede, ja, wie Hohn. Die Europäische Gemeinschaft war einmal, an ihrem Anfang und über einige Jahrzehnte, das große Ersatzprojekt für den französischen Ehrgeiz und so etwas wie ein Fenster in eine größere Freiheit. Dies Ersatzprojekt funktioniert nicht mehr und es liegt nicht daran, dass es den Franzosen an Freiheitsliebe fehlen würde, sondern an der Erfahrung, dass die administrativen Vereinigungsschritte der EU keine neuen Reichweiten für die Menschen bieten. Nicht Frankreich ist an dem frischen Wind der EU gescheitert, sondern die EU an dem französischen Bedürfnis nach Luft zum Leben.
Europa wird insgesamt pluralistischer, weil seine Länder vor Grundentscheidungen über ihre zukünftige Positionierung stehen
Es geht in Europa nicht nur um Frankreich und nicht nur um Rangverlust und Rückbau. Das Panorama der europäischen Angelegenheiten weist gegenwärtig eine Vielfalt von Problemlagen und Fortschrittsoptionen auf. Es gibt mehrere Länder, größere und kleinere, die auf ihrem Niveau Wachstumschancen haben. Es gibt solche, die sich in einer ambivalenten Situation zwischen Rückbau und Herauswachsen aus ihrer Krise befinden. Es gibt Länder an der südlichen und östlichen Peripherie, die zwischen der Hoffnung auf einen starken EU-Kern oder der Suche nach einem eigenen Entwicklungsraum schwanken. Es gibt ein Deutschland, das wächst und doch eine kluge Selbstbegrenzung der eigenen Möglichkeiten finden muss. Unterschiedliche Länder sehen sich unterschiedlichen Herausforderungen gegenüber, denen gemeinsam ist, dass sie existenzieller Art sind und Anlass geben, über ihre Lage zu reflektieren und eine haltbare Position zu bestimmen, die man wirklich behaupten kann. Es gibt einen neuen Pluralismus-Schub der europäischen Staatenwelt.
Ein Phänomen belegt diesen Schub: Die Reaktionen und Lösungswege der Nationen und Nationengruppen driften auseinander. So war es bei der europäischen Schuldenkrise, wo die Zinsraten für Anleihen sich stark auseinander entwickelten (z.B. zwischen Deutschland und Italien, von Griechenland ganz zu schweigen). So ist es in einzelnen Sektoren, wie z.B. der Energiepolitik, in der keineswegs die deutsche Energiewende das Maß aller Dinge ist. So zeigt sich bei den Verhandlungen um ein Handelsabkommen mit den USA, dass einige Länder sehr abwehrend sind und andere nicht (z.B. ist der Unterschied zwischen Frankreich und Spanien signifikant). So zeigen sich in der Reaktion auf politische Krisen wie z.B. die Ukraine-Krise erhebliche Unterschiede (Polen und die Baltikum-Staaten reagieren anders als Ungarn, Rumänien oder Bulgarien). Und auch die Parteiformationen, die sich bei den Europawahlen präsentierten, sind von dem Schicksal der einzelnen Länder stärker geprägt als von einem, wie auch immer gearteten, gemeinsamen „europäischen Projekt“. Das gilt auch für das Wählerinteresse, wie die sehr unterschiedlichen nationalen Beteiligungsquoten an den Wahlen zeigen.
Diese Unterschiede werden oft als Negativum interpretiert, als eine fehlende Reife für das europäische Projekt. Aber der stärkere Pluralismus könnte auch von einer neuen Lebenskraft und Realitätsnähe der Nationen zeugen. An dieser Stelle empfiehlt sich ein historischer Rückgriff, der etwas weiter reicht als bis zur Nachkriegszeit. Im 19. Jahrhundert war Europa der Ort einer neuen Breite der Nationenbildung und einer Auflösung der alten Reiche. Das war einmal die europäische Frage: Wie können sich aus einer großen Zahl unterschiedlicher Nationen handlungsfähige und verantwortungsfähige Staaten bilden und wie kann man ihr Zusammenleben ordnen? Die sog. „westfälische“ Ordnung, die mit dem westfälischen Frieden zunächst einmal nur als eine Grundregel für ein Zusammenleben souveräner Staaten etabliert war, war noch keineswegs durchgesetzt und wurde erst mit der Ausbreitung der Nationalstaaten im Laufe des 19. Jahrhunderts wirklich auf die Probe gestellt. Die Arbeit an dieser europäischen Frage ist im 20. Jahrhundert abgebrochen worden und das Datum „1914“, dessen hundertjähriger Wiederkehr wir in diesem Jahr gedenken, steht für diesen Abbruch. An seine Stelle traten mehr oder wenige humane oder totalitäre Ordnungsideen, bei denen entweder eine mildernde, humanitäre, christliche und sozialdemokratische Einbettung oder eine totalitäre Beherrschung im Namen von Klasse oder Rasse zum Zuge kamen. Die Gemeinschaftsbildung in Westeuropa und dann in ganz Europa gehört sicher (und zu unserem Glück) zur ersten Gruppe. Und doch bleibt es eine Tatsache, dass die ursprüngliche europäische Frage dabei nicht weiter bearbeitet wurde und die Ordnung nicht auf Souveränität, sondern auf einen Ausgleich von Zugewinn und Loyalität gebaut wurde. Diese Linie reicht bis in die gegenwärtige EU-Rettungspolitik, die also keine Neuheit sondern eine Kontinuität darstellt.[8]
Entgegen dem Mythos vom historisch-großen „Europäischen Projekt“ erfolgte die Gemeinschaftsbildung, die auf der Linie Montan-Union, EWG und EG schließlich zum EU-System führte, über sekundäre, defensive, schützende Anliegen. Das gilt für die schwerindustrielle Marktaufteilung der Montanunion, für das nach wie vor große (finanzielle) Gewicht der Agrarpolitik im EU-Haushalt, für die „nachholende“ Regionalförderung und auch für die Festlegung einheitlicher Normen (die zwar in einigen Aspekten sinnvoll ist, aber kein wirkliches Zukunftsunternehmen darstellt). Industrielle oder wissenschaftliche Zukunftsprojekte, die die Skaleneffekte eines übernationalen Konsortiums erfordern bilden eine Ausnahme in der EU-Tätigkeit bzw. finden im Wesentlichen außerhalb der EU-Strukturen statt (wie das vielzitierte Beispiel Airbus/EADS). Auch der Anteil der EU an der Bewältigung politischer Krisen und an der Bildung demokratischer Staaten – in Südeuropa oder in Osteuropa – wird überschätzt, zum Beispiel in der spanischen „Transicion“ zur Demokratie, deren entscheidenden Wendepunkte weit vor der EG-Mitgliedschaft liegen. Auch im Fall der osteuropäischen Befreiung spielte die „Perspektive EU“ zunächst einmal nicht die entscheidende Rolle, sondern der Westen insgesamt, insbesondere der anglosaxonisch-atlantische Westen. Auch hier ist die EU eher Nachhut als Vorhut. In der Rede vom „europäischen Projekt“ ist viel Bluff enthalten.[9]
In ihren Prämissen beruht die „Lösung EU“ auf einem niemals bereinigten Grundmisstrauen gegen die Souveränität der Staaten. Hinter der zentralen Rolle, die Milderung und ausgleichende Transfers in der EU spielen steht die (nie ganz offen ausgesprochene) Idee eines drohenden Staatenkriegs zwischen arm und reich in Europa – weil in Europa die Unterschiede der Faktorausstattung und der tatsächlichen Entwicklung beträchtlich sind. Da auch die Größen- und Machtunterschiede beträchtlich sind, wird auch immer wieder die Kriegsgefahr beschworen, wenn die Souveränität der Staaten nicht eingeschränkt und überbaut wird. Dies Grundmisstrauen führt paradoxerweise auch zu einem Misstrauen gegen die Gesellschaften in Europa. Auch sie bedürfen einer engen Betreuung, bisweilen auch Bevormundung. Das EU-System hat eine starke Neigung zu einer „formierten“ Öffentlichkeit (s. Zensur von Werbung wegen angeblicher Verführung zu Gewalt oder ungesundem Leben). Die Logik, dass die Souveränität eines einheitlichen Staatsgebildes eine andersgeartete, anarchische Souveränität namens „Gesellschaft“ aus sich herauslöst bzw. freigibt, ist dem Administrations-Geist der EU zutiefst fremd. Auch in dieser Hinsicht fällt das „große europäische Projekt“ hinter die Entfaltung der Dualität von Staat und Gesellschaft, die in der Epoche der Herausbildung souveräner Nationalstaaten einen starken Anstoß erhielt, zurück.[10]
Heute nun, wo ernstere Entwicklungsprobleme in Europa auftauchen, die nur durch den Mechanismus der Souveränität bearbeitet werden können, machen sich die Grenzen dieses Projekts bemerkbar. Man kann daher den gegenwärtigen EU-skeptischen Schub als ein Wiederanknüpfen an eine ältere, nie ganz abgebrochene Entwicklungslinie verstehen. Die klassische europäische Frage, wie eine pluralistische Ordnung souveräner Staaten verfasst sein kann, kehrt wieder. Das ist kein „Rückfall“ in alte finstere Zeiten, sondern das Entstehen einer unternehmenslustigeren, eigenwilligeren europäischen Landschaft. Sozusagen eine „Bergwelt“ von unabhängigen, sich nebeneinander behauptenden Höhen und Höhenzügen. Warum sollte zwischen diesen freien Höhen nicht eine viel echtere gegenseitige Achtung und Liebe möglich sein? Sie wäre ja nicht mehr bloß von der Angst vor Krieg und Katastrophen diktiert.
Wenn Europa in diesem Sinn aus der EU herauswächst, müsste das für die brave EU-Administration gar nicht so schlimm sein. Man müsste nicht das ganze Gebäude einreißen, sondern nur seine allzu dominanten Türme. Man muss den Charakter der Union als gemeinsames administratives Gebilde einer stetigen Kooperation souveräner Staaten nur offiziell machen und den Versuch, mit administrativen Mitteln einen Superstaat zu errichten, abbrechen. Die EU muss endlich das werden, was sie im Grunde ist.
Wer einen Rückbau der EU durchsetzen will, muss die zeitweilige Suspendierung der Mitarbeit wagen
Die Reaktion auf die Wahlen vom 25.Mai zeigen, dass die Parteien des Immer-Enger-Vereint nicht bereit sind, ihre Position einem neuen Wettstreit der Argumente auszusetzen. Sie wollen nicht nur ihre Reihen schließen, sondern auch jegliche andere Position zur „Spinnerei“ oder für „nicht hilfreich“ erklären. Auch bei der Bestimmung des EU-Kommissionspräsidenten scheinen sie darauf zusetzen, eine weiteren Vereinigungs-Schritt einfach durchzudrücken. Ganz unverhohlen erklärt man, die EU-Kritiker könnten sowieso nichts ausrichten. „Wir sitzen an den Hebeln, ohne die niemand arbeiten kann“ lautet der typische Grundsatz jeder übermächtigen Verwaltung. „Den Kritikern wird letztlich nichts übrig bleiben, als doch bei uns mitzumachen“ tönt es von den Schalterbeamten aus dem Brüsseler Zahlhäuschen. Der höhnische Ton ist unüberhörbar: „Ihr könnt Euch gar nicht leisten, bei der EU nicht mitzumachen.“ Sie setzen auf einen europäischen Mitmachzwang – einen Sog des eng gekoppelten Politikprozesses, dem sich kein Mitgliedsland entziehen kann und mit dessen Hilfe nun die EU-Skeptiker zum Einlenken gezwungen werden sollen.[11]
Wir befinden uns also nicht einfach in einer europäischen „Debatte“, sondern in einem Szenario der Macht, wo es auf den längeren Hebel ankommt. Nun gut, dann schauen wir mal. Zunächst einmal ist richtig, dass der Mitmach-Zwang erheblich ist. Die Mitgliedsstaaten haben ihre Politikabläufe europäisiert. Sie haben sich daran gewöhnt, dass es bei einer Mehrzahl von Projekten, Förderprogrammen, Normierungen, Ausschreibungen einen Pflichtdurchgang durch EU-Gremien gibt. Auch daran, dass Steuergelder diesen Pflichtparcours durch Brüssel absolvieren müssen und von dort erst wieder „abgeholt“ werden müssen (wer möchte schon in den Ruf geraten, sie nicht abgeholt zu haben?). Doch auf den zweiten Blick ist diese Macht der europäischen Politikverflechtung doch nicht so groß. Das zeigt schon der Blick auf Länder, die durchaus modern, prosperierend und international beziehungsfähig sind, ohne bei bestimmten EU-Einrichtungen mitzumachen oder überhaupt EU-Mitglied zu sein (GB kommt gut ohne den Euro aus; die Schweiz gut ohne die EU-Mitgliedschaft). Ein Blick in die Welt zeigt auch, dass die Länder auf der Mehrzahl der Erdteile solide Handelsbeziehungen und militärische Allianzen zustandebringen, ohne dafür ein Gebilde wie die EU zu brauchen. Es gibt zahlreiche globale Vertrags- und Fondssysteme bei Handel, Finanzen, Gesundheit, Ernährung, Bildung, Kultur, in denen eine europäische Nation auch dann eine Stimme hat, wenn es auf das vielzitierte „Sprechen mit einer einzigen europäischen Stimme“ verzichtet.[12]
Man sollte es also ruhig einmal darauf ankommen lassen, ob die EU wirklich die Waren, Dienstleistungen, Kapitalien und Menschen eines Landes aus ihrem Gebiet aussperrt und die Verkehrswege blockiert. Wenn ein Land seine Mitarbeit in der EU auf Zeit suspendiert, wäre eine Aussperrung eine ganz unverhältnismäßige Maßnahme mit erheblichen Rückwirkungen auf den Gesamtbetrieb der EU. Sie läge also in ihrem Eigeninteresse, den Konflikt nicht zu eskalieren, sondern bei einer Suspendierung der Mitarbeit einen Status vivendi zu finden.[13] Bei kleinen Ländern neigt die EU zwar schnell zu Sanktionsdrohungen (zuletzt bei der Schweiz), aber es wird sich zeigen, was passiert, wenn ein Land wie Frankreich die Mitarbeit einstellt. Nach dem ersten Schock der Trennung könnte sich rasch Ernüchterung auf Seiten der EU einstellen, während das losgetrennte Land einen erheblichen Teil der angeblich unverzichtbaren Brüsseler Leistungen substituieren kann. So sind zum Beispiel die regionalen oder sozialen Förderfonds leicht durch nationale Systeme, die den Vorzug der größeren Problemnähe haben, zu ersetzen. Teure europäische Richtlinien und Normen (wie die „Ökodesign“-Richtlinie) könnte man selektiv anwenden. Manches Bauvorhaben, das heute ohne wirklichen Mehrwert europaweit ausgeschrieben werden muss, könnte im nationalen Markt untergebracht werden. Ebenso könnte manches Wissenschaftsprojekt national oder binational organisiert werden, ohne den Großaufwand vieler EU-Forschungsverbünde, die mehr mit Kommunikationsproblem als mit dem Forschungsgegenstand beschäftigt sind.
Würden also wirklich einmal ein, zwei, drei Mitgliedsländer eine solche Suspendierung wagen, käme es zu einer interessanten Stunde der Wahrheit. Die Bringeschuld läge dann nämlich nicht allein bei dem einzelnen Land, das seine „Europafähigkeit“ beweisen muss, sondern auch bei der EU, die den Mehrwert des hohen und zusätzlichen Integrationsaufwands zeigen muss. Sie müsste diesen Aufwand von neuem legitimieren und könnte nicht mehr allein auf die Schwerkraft der etablierten Abläufe setzen. Die EU stünde dann im institutionellen Wettbewerb mit anderen, offeneren Integrationssystemen. Gegenwärtig versucht sie, sich diesem Wettbewerb zu entziehen und sich als alternativlos und unumgehbar darzustellen. Wird ein Exit – und sei er nur teilweise und befristet – gewagt, so könnte sich herausstellen, dass vieles, was vorgeblich nur „europäisch“ zu haben ist, in einem anderen Rahmen besser gemacht werden kann. Auf jeden Fall wäre das Land, das auf Abstand zum EU-System geht, nicht zu untätigem „Warten vor der EU-Tür“ verurteilt, sondern könnte sogar ein aktiveres, belebteres Land werden.
Zugegeben, das sind viele „Könnte“. Aber der Konjunktiv kann erst verschwinden, wenn man die Option Exit wirklich wagt. Dies ist die einzige Art und Weise, wie man der gegenwärtigen Politik des Fakten-Setzens und Durchdrückens etwas entgegenstellen kann. Vor allem kann man nur so eine wirkliche EU-Reform, die das Gebilde radikal verschlankt, durchsetzen. Geredet und versprochen wurde in den vergangenen Jahren genug, man denke nur an die endlose Rede von der „Subsidiarität“. Wahrscheinlich muss das europäische Politiksystem durch eine Periode der (Teil-)Austritte gehen, um schließlich Reformen zu erreichen. Souveränität wird eben nur errungen, wenn man etwas davon wirklich wagt – und das damit verbundene Alleine-Sein erträgt.
[1] Ganz ähnlich wie die FAZ schreibt der Tagesspiegel (21.4.) vom „Asterix-Syndrom“ Frankreichs gegen den Rest Europas und der Welt.
[2] Im Feuilleton der FAZ (27.5.) meint Nils Minkmar, in unserem Nachbarland einen „Camembert-Faschismus“ ausmachen zu können – ein Ausdruck, der eine Nähe französischer Alltagskultur zum Faschismus insinuiert.
[3] Deshalb ist die Rettungspolitik oft von finsteren Vorwürfen und Verschwörungstheorien gegen die Sanierer begleitet.
[4] Das ist eine bemerkenswerte Feststellung: Das europäische Politiksystem beruht auf dem Grundgedanken des Tausches. Sie beruht auf einem Gleichgewicht des Nehmens und Gebens – nicht auf einer durch eigene Einsicht, Mut und Verantwortung getroffenen Entscheidung, die ohne Rücksicht auf andere und deren positive oder negative Reaktion getroffen wird. Was in dem Bereich, wo eine Gesellschaft sich auf einem Markt bewegt, völlig richtig ist und den Vorzug moderner Wirtschaftslebens ausmacht, ist in dem Bereich, wo eine Gesellschaft sich in einer staatlichen Ordnung bewegt, kontraproduktiv.
[5] Vgl. North/Thomas (1982), The Rise of the Western World. Cambridge
[6] Vgl. Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1918) (in: M. Weber, Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1988)
[7] So profiliert sich der FN neuerdings in der Schulpolitik als Vertreter des einheitlichen republikanisch-laizistischen Schulwesens – gegen dessen Relativierung im Namen der „Verschiedenheit der Kulturen“.
[8] Vielleicht müsste man aber im 20. Jahrhundert auch von einem Nebeneinander beider Entwicklungslogiken sprechen. Im Weltmaßstab vermehrte sich aufgrund der Dekolonisierung die Zahl unabhängiger Nationalstaaten und dominiert seit diesem Jahrhundert erst auf allen Erdteilen der Welt. In Europa wurde in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg zunächst eine neue Partnerschaft der Nationen anvisiert, zu der auch die jeweils besondere Aussöhnung oder Freundschaft zwischen zwei Nationen gehört (zum Beispiel im deutsch-französischen Verhältnis). Jene abstrakte, übernationale Verwaltungsebene, die sich von den Montanverträgen über die EWG, EG schließlich zur EU verfestigt und verselbständigt hat, war im ersten Europaenthusiasmus noch gar nicht die Rede. Eine solche Europa-Vision hätte auch im Widerspruch zu der Weiträumigkeit der Allianz gestanden, die das deutsche NS-Regime über Europa von außen aushebeln musste und erfolgreich aushebelte. So muss doch einiges unter den Teppich gekehrt werden, wenn man behaupten wollte, alle positiven Entwicklungsstränge des 20. Jahrhunderts seien auf die Europäische Union „hinausgelaufen“.
[9] Zu diesem Bluff gehört auch das Phänomen, dass sich dies Projekt gerne als kulturelle Mission gibt und für sich einen „europäischen Geist“ in Anspruch nimmt. Schon Max Weber machte in seiner Analyse der „Beamtenherrschaft“ darauf auf das Phänomen des „ideologischen Beamten“ aufmerksam, der das Fehlen staatspolitische Ziele durch wohlmeinende und gefällige ethische Prinzipien ersetzt. Der „europäische Geist“ wird in der Regel weit rückwärts in der Geschichte (Mittelalter, Antike) verortet und geographisch enger als die moderne Konstellation des Westens gefasst. In jüngster Zeit zeigt sich, dass diese Kulturalisierung des EU-Projekts schnell alte und neue Kultur-Vorurteile umschlägt, zum Beispiel im deutsch-französischen Verhältnis. Auch lauert hier die Gegenüberstellung von „oberflächlicher Zivilisation“ und „tiefer Kultur“, die vor 100 Jahren bei der Zerstörung der gegenseitigen Achtung der Nationen eine unselige Rolle spielte.
[10] Das macht die EU im Weltmaßstab als Vorbild untauglich oder sogar schädlich. Denn in anderen Weltregionen funktioniert das Nebeneinander unabhängiger Staaten. Alle Großräume der Welt sind sehr heterogen zusammengesetzt, sodass sie – nimmt man das EU-Theorem ernst – eigentlich kriegsanfällig sein müssten und unter ein Weltprotektorat gestellt werden müssten. Mehr noch: sie müssten „katastrophenanfällig“ sein, denn in unserer Zeit wird die Drohung mit der Kriegsgefahr noch von der Katastrophenandrohung überboten. Und tatsächlich positioniert sich die EU mit seinen Normen und Richtlinien (und deren Export) als Protektionsprojektmit globalen Geltungsansprüchen, dem der Staatenpluralismus in anderen Erdteilen ein Dorn im Auge ist.
[11] Zur Erinnerung: Im Europawahlkampf hatten sich die EU-Freunde auf die Behauptung verlegt, die Brüsseler Richtlinien und Transfers seien letztlich alle von den Mitgliedstaaten im europäischen Rat beschlossen worden. Man dürfe also diese Beschlüsse nicht im Namen der Souveränität des eigenen Landes kritisieren. Das hat manchen Zuhörer und manchen Medienvertreter beeindruckt. Offenbar gibt es aber doch keine freie Entscheidung, sondern einen Mitmachzwang. Mit diesem Zwang wird jetzt, nach den Wahlen, wieder gearbeitet: Wer nicht an den Gemeinschaftsbeschlüssen mitwirkt, muss große Nachteile befürchten. Auch die entsprechenden Presseartikel waren gleich zur Stelle. „Die Welt“ publizierte am 28.5. einen Artikel unter der Überschrift „EU-Austritt würde Briten extrem hart treffen“, die Überschrift eines Beitrags in der FAZ am 11.6. lautete „EU-Austritt würde vor allem den Briten schaden“).
[12] Interessanterweise erklärt das von der FAZ (im Beitrag vom 11.6.) zitierte „Center for European Reform“ die hohen Austrittskosten für GB mit den Vorteilen des Binnenmarkts, nicht mit den Vorteilen des EU-Gesamtgebildes.
[13] Eine Suspendierung ist kein Austritt, Frankreich beispielsweise hat 1966 seine Mitarbeit in der NATO suspendiert