Unter dem Leitwort „Inklusion“ haben im vergangenen Schuljahr massive Eingriffe in den Unterricht stattgefunden. Es zeigt sich, dass es dabei gar nicht um ein besseres Lernen geht
Eine bildungsfremde Ideologie
Wie Bilder täuschen können. Wer die Fernsehbilder aus Klassenräumen, in denen nun behinderte Schüler dem Normalunterricht einer Grundschule oder eines Gymnasiums folgen sollen, aufmerksam betrachtet, stellt fest, dass sie vom Unterricht eigentlich gar nichts zeigen. Man sieht Szenen, bei denen Mitschüler dem Behinderten den Platz zurechtmachen oder mit ihm ein paar Worte sprechen. Von Lehrervortrag, Wortmeldungen, Übungen, Hausarbeiten, Vokabeltests oder gar Klassenarbeiten ist nichts zu sehen. Es ist eine Szenerie der Betreuung, die uns als schöne, neue Schulwelt präsentiert wird. Tatsächlich wird mit der sogenannten „Inklusion“ nicht an einem besseren Lernbetrieb gearbeitet, sondern es wird ein im Grunde unterrichtsfremdes Element eingeführt. Es geht nur um ein Irgendwie-Dabei-Sein der Behinderten. Im deutschen Bildungswesen ist lange daran gearbeitet worden, dass ein besonderes Förderschulwesen entstehen konnte, das beim Unterricht gezielt auf die jeweiligen Behinderungen eingehen kann. Seit es aber als Lösung gilt, wenn Behinderte und Nichtbehinderte einen gemeinsamen Klassenraum teilen, ist diese Aufbauarbeit entwertet. So ist gegenwärtig auch kaum noch von der konkreten Art der Behinderung die Rede ist – ob sie körperlicher oder geistiger Art ist, ob eine Verhaltensstörung vorliegt und was sie auslöst. So ist jetzt auch von „Inklusionskursen“ für alle Lehrer die Rede – als ob man das, was bisher ein eigener Pädagogikzweig war, auf einmal in ein paar Monaten nebenbei vermitteln könnte.
Doch nicht allein der Unterricht der behinderten Schüler nimmt Schaden, sondern der Lernbetrieb überhaupt. Schüler erzählen zu Hause, dass es ständig zu Ablenkungen kommt, bis hin zu größeren Unterbrechungen. Allein dadurch, dass ein Schüler immer wieder „mitgenommen“ werden muss und dazu, im laufenden Unterricht, irgendwo in der Klasse ein Sondergespräch stattfindet, leidet insgesamt die Aufmerksamkeit für das Thema der Stunde. Ein Betreuer für jeden behinderten Schüler soll die Lösung sein? Es ist das Eingeständnis, dass das „gemeinsame Lernen“ eine Fiktion ist und in Wirklichkeit nur ein äußerliches Nebeneinander stattfindet. Und was soll geschehen, wenn ein Kind zu Hause erzählt, dass der neue Mitschüler immer grabschen will, und es nicht mehr in diese Klasse gehen möchte? Inklusion kann im Ergebnis sehr rücksichtslos gegenüber der Schülermehrheit sein: Man nimmt in Kauf, dass die Lust auf das Lernen Schaden nimmt – in einer Phase, in der sich Begabungen bilden und das ein oder andere Lieblingsfach entdeckt wird. Entwicklungsschritte, die in Bildungsprozessen besonders kostbar sind und von denen später eine ganze Biographie zehrt, werden geopfert.
An dieser Stelle fällt auf, dass der Begriff „Inklusion“ eigentlich gar nicht von Bildung handelt. Das Wort mag feierlich-wissenschaftlich klingen, drückt aber einen im Grunde banalen Sachverhalt aus. Es besagt nichts weiter als „Einschluss“. An vielen Stellen der Gesellschaft findet so etwas statt, auch auf dem Bürgersteig. Man gehört irgendwie dazu. Das Prinzip Inklusion weiß nichts von Bildungsgütern, Schularten oder Fächern. Es kennt keine Rechtschreibung, keine englische Satzkonstruktion, keine geschichtliche Epochenfolge, kein Musikinstrument, keine Sporttechnik, keinen freien Vortrag eines Gedichts. Die fachliche Anforderung, die das Lernen ausmacht, kommt nicht vor. Aber mit Inklusion, so wird uns eingeflüstert, wird irgendwie etwas Gutes gemeint. Es soll möglich machen, dass „alle gemeinsam“ lernen und zugleich, oh Wunder, dass „jeder auf seine Art“ lernt. Und diese Hohl-Formel schickt sich nun an, zum neuen Oberbegriff für das deutsche Bildungssystem zu werden.
Wer spricht hier eigentlich? Bei Eltern und Schülern findet man viel Skepsis, die aber nicht immer laut ausgesprochen wird. Auch viele Eltern von behinderten Kindern ziehen gesonderte Förderschulen vor. Die Lehrer? Sie tragen immer wieder die praktischen Schwierigkeiten im Unterricht vor und empfinden den Verweis auf „Fortbildungen“ nicht gerade als Antwort. Nein, die Idee „Inklusion“ ist nicht in der Schulpraxis entstanden. Sie gehört zum hohen Ideenhimmel, der sich über den Sozialwissenschaften wölbt und von dort in der Bildungsforschung Fuß gefasst hat. So war es schon bei der Idee „Gemeinschaftsschule“ oder bei dem zeitweiligen Versuch, die deutsche duale Berufsausbildung schlechtzureden. Die Inklusionsformel ist nicht nur ein Mantra aus dem Elfenbeinturm, sondern sie steht auch für eine eigenmächtige Verwaltungsbürokratie, die nur an der Verteilung von Schülern und Lehrern herumschraubt. Die Vorstellung, dass etwas durch Umgruppierung von Menschen zu verbessern sei, ist typisch bürokratisches Denken. Mit der Bestimmung unverzichtbarer Bildungsbestände ist dies Denken überfordert. Die Gestaltung des Bildungssystems ist eine Führungsaufgabe, die nicht der Verwaltung, sondern der Politik zukommt. Wenn nun die Sozialtechnokraten mit ihren Regeln und Auflagen immer stärker über die Schulen bestimmen, haben wir es mit einem Versagen der politischen Bildungshoheit zu tun.
Es gibt gegenwärtig viele Gründe, die Arbeit der Schulen in den Mittelpunkt der Bildungspolitik zu stellen. Allein schon die Tatsache, dass das Leistungsniveau von Schulabsolventen immer größere Lücken aufweist, während ihnen gleichzeitig immer bessere Zeugnisnoten bescheinigt werden, muss Anlass sein, sich wieder der Kernkompetenz der Schulen zuzuwenden. Vor diesem Hintergrund ist es ein geradezu bizarrer Vorgang, dass jetzt eine neue Zusatzaufgabe, die Inklusion, zum Großthema geworden ist. Es ist auch eine Flucht vor den tatsächlichen Schwierigkeiten im Unterricht, vor dem alltäglichen Kampf um Aufmerksamkeit, Konzentration und Ausdauer der Schüler. Und wenn man die Bilder aus dieser Schulwirklichkeit mit den geschönten Bildern der Inklusion vergleicht, dann entsteht ein böser Verdacht: Dass das schwere Schicksal der Behinderten hier gar nicht ernstgenommen wird, sondern als bloßes „Anders sein“ zur Auflockerung des Unterrichts eingebaut wird. Bildung ist dann nur noch eine Reise durch verschiedene Erlebnisse und die behinderten Kinder und Jugendlichen zählen gar nicht als Mitschüler. Sie sind nur Objekte einer kurzfristigen Neugier und werden bald wieder in die Ecke gestellt.
(Manuskript vom 27.6.2014, erschienen als Leitartikel in der Tageszeitung „Die Welt“ am 7.7.2014 unter der Überschrift „Schöne neue Schulwelt“)