Die politischen Kräfte in Deutschland sortieren sich neu, weil konservative Anliegen im Raum stehen, die nicht mehr als rechtsextrem abgetan werden können. Während die ständigen Modernisierungen immer weniger halten, was sie versprechen, rückt die Verteidigung der Grundordnung der Moderne wieder stärker in der Vordergrund
Etwas geht zu Ende
Den Pegida-Demonstrationen scheint vorerst die Spitze abgebrochen zu sein und in Berlin-Neukölln tritt der SPD-Realo Buschkowski zurück. Der Mainstream der Wohlgesinnten und Schönsprecher im Lande jubelt. Dort denkt man, dass man nun alles, was in den letzten Wochen an neuen Tönen in der Republik hörbar war, begraben kann. Und doch hat hier ein Lehrstück stattgefunden: Die Dresdener Demonstrationen haben gezeigt, dass es jenseits der etablierten Politik nicht nur eine stumme und stumpfe Masse von orientierungslosen „Nichtwählern“ gibt. Nein, es ist deutlich geworden, dass es hier ein Anliegen gibt. Es ist allerdings ein Anliegen, das ungewohnt ist. Es ist konservativ. Man fordert verlässliche Regeln und die Wahrung der Errungenschaften dieses Landes. Größere konservative Demonstrationen, die außerparlamentarisch aus der Bevölkerung heraus entstanden, hat man in der Bundesrepublik bisher selten gesehen. Im Grunde sind sie etwas Neues in ihrer Geschichte. Nun zeigt sich, dass konservative Anliegen eine bedeutende Zahl von Menschen mobilisieren können. Das zu wissen, ist gut. Die Menschen werden darauf zurückkommen.
Ein noch größeres Lehrstück wurde allerdings auf der Gegenseite aufgeführt. Man hätte ja erwarten können, dass die Öffentlichkeit und ihre prominenten Akteure den Neuankömmlingen mit einem Mindestmaß an Interesse begegnen. Das gehört eigentlich zur Meinungskultur einer offenen Gesellschaft. Doch stattdessen ist etwas geschehen, was für die Bundesrepublik mindestens so ungewohnt ist wie die Dresdener Demonstrationen selber: Die Reaktionen waren fast durchweg negativ, sogar schroff abweisend – warnend, zensierend, verdrehend, blockierend, verdunkelnd, verdächtigend, bevormundend. Man wollte einfach nicht zuhören. Man wollte sich nicht in seinen Ansichten irritieren lassen und versuchte, die Demonstranten mit diffamierenden Begriffen („Rassismus“, „Neonazis“) ins Abseits zu stellen oder mit psychologischen Diagnosen („Angstbürger“) zum Arzt zu schicken. Selten hat man so plumpe Versuche gesehen, öffentlich (und friedlich) geäußerte Meinungen abzufertigen. Und noch nie hat man einen solchen Schulterschluss gesehen, mit der diese plumpen Mittel eingesetzt werden. Es bildete sich eine Art heilige Allianz: die Regierungskoalition, die Parteien der parlamentarischen Opposition, die Gewerkschaften, die Unternehmensverbände, die Kirchen – niemand wollte bei diesem Ritual der Selbstbestätigung fehlen. Und die wichtigsten Medien sahen ganz unverkennbar ihre Aufgabe darin, die Negativreaktionen zu verstärken und zu ermutigen. Dass dies durch die öffentlich-rechtlichen Medien geschah, die schon durch ihre Besetzung den Mainstream abbilden, war nicht erstaunlich. Aber auch eine so maßgebende, unabhängige Instanz wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung machte mit.
Hier wurden Zeichen gesetzt, die ihren Platz in der Geschichte der Bundesrepublik finden werden: Der Bundesjustizminister lässt sich in Berlin vor einem Transparent „Stoppt Neonazis“ fotografieren und dies Bild, das jeder Betrachter als Beleg für eine neue NS-Gefahr in Deutschland ansehen muss, geht um die Welt. Gleichzeitig lassen Stadtverwaltungen, öffentliche Einrichtungen und Kirchen während der missliebigen Demonstrationen die Beleuchtung von Gebäuden und Straßen abschalten. Während jede demokratische Öffentlichkeit auf die heilsame Wirkung von „mehr Licht!“ setzt, setzen sie auf das Dunkel, das schon immer das Mittel der Gegenaufklärung war. Und dann ist da die Neujahrsansprache der deutschen Bundeskanzlerin. Sie wird in die Geschichte der Bundesrepublik als die erste Ansprache eingehen, die die Bürger von der Teilnahme an einer Demonstration abzuhalten versuchte.
Die wachsende Zähigkeit der Verhältnisse.
Bei diesem Augen-Zu-Und-Weiter-So liegt der Verdacht nahe, dass etwas mit der Realentwicklung des Landes schief läuft und die Akteure, die es bisher geführt haben, nicht die Kraft aufbringen, dem offen ins Auge zu sehen. Dabei sollte man nicht gleich an eine große Krise denken oder gar an einen dramatischen Zusammenbruch. Eher wäre zu prüfen, ob es nicht ein allmähliches Erlahmen der Kräfte gibt; eine wachsende Abhängigkeit von Förder- und Dopingmitteln; eine zunehmende Zähigkeit der Verhältnisse; einen wachsenden Mitteleinsatz, um immer kleinere Fortschritte zu erzielen.
Gewiss kann darauf verwiesen werden, dass die Bilanzen des Landes noch stimmen – wenn man nur auf das schaut, was dort unterm Strich steht (Beschäftigtenzahl, Außenhandel, „schwarze Null“ beim Bundeshaushalt). Doch verschlechtert sich das Bild, wenn man auf das schaut, was über dem Strich steht. Wenn man auf den wachsenden Aufwand schaut, der nötig ist, um die Resultate zu erreichen: Auf die Arbeit in den Betrieben und auf die wachsenden Anforderungen, um ein Unternehmen am Laufen zu halten; auf das zähe Vorankommen auf vielen kleinen und großen Baustellen; auf die Erschwernisse bei der Energieversorgung oder den Engpässen im Verkehr; auf die nachlassende Fähigkeit von Schulen und Hochschulen, berufsbereite Absolventen zu bilden; auf die Ausfälle im Pflegealltag der Altenheime und der ambulanten Versorgung; auf die Tatsache, dass Unternehmensgründungen vor allem auf geförderten Märkten stattfinden; auf die ernüchternde Erfahrung, dass zwei große „Zukunftsprojekte“ – Energiewende und Mindestlohn – sich nicht als Befreiungsschläge erweisen, sondern teure und zerstörerische Dauerbaustellen.
Noch etwas ist unübersehbar. Die guten Zahlen ändern nichts daran, dass elementare Dinge des Lebens immer schwerer gelingen: die Stabilität der Familien und ihre Bereitschaft, Kinder zu bekommen und aufzuziehen, ist nicht sehr groß – trotz eines immer größeren Förder- und Beratungsaufwands. Offenbar können die sich immer höher auftürmenden Förderkulissen des Sozialstaats kein hinreichendes Motiv bilden, damit die Menschen mit Freude ihren Alltag angehen und Nachkommen in die Welt setzen.
Wenn die elementaren Dinge des Lebens als belastend empfunden werden, ist das ein Indiz, dass etwas zu Ende geht. Darauf deutet auch die Tatsache hin, dass die großen „Aufbrüche“ immer kürzere Halbwertszeiten des Verfalls haben. Und nun kommt die griechische Krise zurück und zeigt, dass diese Erschöpfungskrise im europäischen Maßstab stattfindet. Die Strategie „Rettungskredite gegen Reformzusagen“ hat sich festgefahren. Auf einmal sind wir Geisel der Kredite, die wir als Vorleistung erbracht haben. Und ist es nicht ganz ähnlich im eigenen Land, wo zum Beispiel in der Bildungspolitik alle möglichen Lockerungen eingeführt wurden, aber die versprochene Leistungssteigerung ausbleibt. Auch hier hat sich etwas festgefahren, was als großer Aufbruch begann. So geht gegenwärtig an vielen Fronten etwas zu Ende, das die Geschäftsgrundlage der letzten Jahre und Jahrzehnte war.
Vor diesem Hintergrund ist die wachsende Forciertheit des „Zeichen-Setzens“, mit der die Politik gegenwärtig die Öffentlichkeit zu besetzen versucht, im Grunde ein Zeichen der Schwäche. Die Appelle an den „Mut“ und andere moralische Antriebsmittel klingen nach Pfeifen im Walde. Und die „Geschlossenheit“ der etablierten Kräfte, die auf den ersten Blick so einschüchternd wirkt, zeigt nur, wie weit sich diese Kräfte von den Realentwicklungen im Lande abgeschlossen haben.
Nicht die Moderne geht zu Ende, sondern die Versuche, sie zu revidieren
Wenn in diesen Tagen das Gefühl wächst, dass etwas nicht weitergehen kann, ergibt sich die Frage, was da eigentlich erschöpft ist. Bisher war es der „progressive“ Mainstream, der alles Mögliche für beendet erklären wollte. Etwas für „überholt“ zu erklären und „Modernisierungen“ zu fordern, war schon zu einem Ritual geworden. Und es waren immer Bestände, die zur Grundordnung von Wirtschaftssystem, Staatsautorität und Familie gehörten, die für überholt erklärt wurden – weil sie zu starr und zu „kalt“ seien. So wurde die Schuldenkrise als „Versagen des Kapitalismus“ gedeutet; in den Schwierigkeiten bei Großprojekten wie Stuttgart 21 wurde ein „Versagen der parlamentarischen Demokratie“ gesehen; die Probleme mit Kinderzahl und Demographie wurden zum „Versagen der Familie“ gemacht. Damit wurden nicht vorsintflutliche Relikte in Frage gestellt, sondern Eckpunkte der Moderne: Die Schlüsselrolle der Unternehmen im Wirtschaftsleben (Privateigentum, Gewerbefreiheit, Vertragsfreiheit), die Hoheitsrechte des Gesetzgebers (Schlüsselrolle der frei gewählten Parlamente), die Familie als Grundelement der gesellschaftlichen Eigenverantwortung (im Grundgesetz ausdrücklich geschützt). Der progressive Mainstream stand also im Grunde mit der in Deutschland gar nicht so alten freiheitlich-demokratischen Grundordnung auf Kriegsfuß. Zu diesem Mainstream, der uns erklärt, dass wir eine ganz neue Modernisierung brauchen, die für das 21. Jahrhundert oder gar „das dritte Jahrtausend“ erforderlich sein soll, gehört inzwischen auch die wichtigste Gründungspartei der Bundesrepublik, die CDU/CSU.
Schaut man allerdings genauer auf die aktuellen Probleme und Krisen, ist dieser Abschied von der klassischen Grundordnung der Moderne überhaupt nicht logisch. Denn die Probleme machen sich heute gerade dort bemerkbar, wo die Grundelemente der Moderne außer Kraft gesetzt wurden. Die Schuldenkrise war nur durch eine neue Macht der Finanzdienstleister möglich, die die Rechte der Kapitaleigner aushebelte. Die zunehmende Unfähigkeit der öffentlichen Hand, eindeutige Richtungsentscheidungen zu treffen und durchzusetzen, liegt daran, dass die Hoheitsrechte des Parlaments durch andere Mächte durchkreuzt werden: durch Lobby- und Bürgergruppen; durch eine Justiz, die zunehmend eine eigene Politik verfolgt; durch europäische Instanzen, die sich als übergeordnete Legislative gebärden. Die Familien sehen ihre Rolle durch andere Lebensmodelle untergraben – insbesondere durch eine Individualisierung, die die familiären Einheiten auflöst und ihre Selbstverantwortung durch öffentliche und private Dienstleistungen und Berater ersetzt.
Diese Schwächung der klassischen Moderne läuft seit mehreren Jahrzehnten. Sie ist seit längerer Zeit die Signatur der Epoche, in der wir leben. Wir leben in einer Zeit, in der ständig an der Moderne herumgebastelt wird. In der sie eingeschränkt und revidiert wird. Diese Revidierung der Moderne erfolgt oft im Namen humaner oder ökologischer Anliegen. Fast immer sind es „freundliche“ und „mildernde“ Korrekturversuche, die sich damit legitimieren, dass sie Härten vermeiden sollen. Das können die Härten der Kapitalbildung und der Ungleichheit zwischen Kapital und Arbeit sein. Das können die Härten staatlicher Normen sein, wenn man etwa an die Schulzensuren denkt. Oder an die Härten, die große Baumaßnahmen für einzelne Bürger mit sich bringen können. Fast immer sind die Revisionen von Grundelementen der Moderne mit dem Versprechen einer leichteren Lösung von Problemen und eines schnelleren Glücks verbunden. Auch der politische Wettbewerb dreht sich inzwischen um diesen Glücks-Service .
Man sollte es offen zugeben: Diese Revision der Moderne ist verführerisch. Sie verspricht einen leichteren Weg zum Glück, der die „Umwege“ über Kapitalbildung, staatliche Hoheitsmacht und familiären Treuepflichten überflüssig macht. Man sollte auch nüchtern konstatieren, dass diese Revision zunächst einmal gewonnen hat. Wir leben nicht mehr in jener freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die der Gründergeneration der Bundesrepublik vorgeschwebt hat. Wir leben auch nicht mehr in jener Wirtschaftsordnung, mit der die Sozialdemokratie im Godesberger Programm ihren Frieden geschlossen hat.
Doch gibt es noch ein drittes Stück Wahrheit, das jetzt zunehmend sichtbar wird: Die Revision der Moderne war mit dem Versprechen verbunden, dass durch die Lockerung der Grundordnung ganz neue Kräfte geweckt würden. Dass die Geförderten stärker motiviert sein würden und zu größeren Schritten fähig sein würden. Dies Versprechen erweist sich nun als trügerisch. Die Verhältnisse sind zäher geworden. Wir haben ein Motivationsproblem im Land, teilweise sogar eine Rückkehr von Verwahrlosung und Gewalt. Die Rechnung derer, die die Moderne überholen wollten, ist nicht aufgegangen – und das zeigt sich in vielen westlichen Ländern.
Es gibt große und kleine Ereignisse, die gerade in den vergangenen Wochen gezeigt haben, dass die großen Versprechungen nicht gehalten werden können. Mit den Terrorattentaten in Paris hat unser Nachbarland entdeckt, wie weit sich in ihrer Mitte eine regelrechte Gegengesellschaft gebildet hat, die in Schulen und Stadtteilen ihr eigenes Gesetz durchsetzen will. Die Rechnung, Integration durch ein multikulturelles „Entgegenkommen“ zu bewirken, ist geplatzt. Nur ein paar Tage später kam, durch die griechischen Neuwahlen, die Schuldenkrise zurück. Es zeigte sich, dass der Deal „Rettung gegen Reform“ jederzeit kündbar ist und mit der Europäischen Zentralbank inzwischen ein Akteur geschaffen ist, der jenseits aller europäischen Verträge das Schuldenwachstum finanziert. Und noch eine andere, eher schleichende Entwicklung wurde zur alarmierenden Meldung: Industrie und Handwerk in Deutschland teilten mit, dass viele Betriebe in ihrer Existenz gefährdet sind, weil das Bildungssystem immer weniger berufsbereite Absolventen hervorbringt. Damit ist auch auf dem Feld, wo der Abbau grundlegender Standards der Moderne in Deutschland begann, die Stunde der Wahrheit gekommen.
So gibt es heute an vielen Fronten eine gewisse Ernüchterung und das Gefühl, dass wir auf diesem Weg am Ende der Fahnenstange angekommen sind. Doch ist es nicht die Moderne, die da zu Ende geht. Es sind die Revisionsversuche der Moderne.
Die neuen Konservativen stehen nicht dem alten Reich, sondern dem Gründergeist der Bundesrepublik nahe
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum das Motiv, mit dem sich heute eine neue Opposition formiert, ein konservatives Motiv ist. „Konservativ“ bedeutet allerdings nicht die Suche nach einem längst vergangenen klerikal-feudalen Abendland. Die Menschen, die sich heute dem Mainstream der letzten Jahrzehnte entgegenstellen, verteidigen – bewusst oder unbewusst – moderne Maßstäbe. Maßstäbe, die einmal mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland gesetzt worden sind. Europäische Schuldenkrise? Man muss auf den Verfassungsgrenzen der deutschen Haftung bestehen. Die Energiewende? Sie widerspricht der technischen Vernunft und dem für Deutschland typischen Mix der Energieträger. Der Mindestlohn? Die Gewerbe- und Berufsfreiheit in Bereichen mit niedrigen Erträgen muss verteidigt werden. Die Frauenquote? Die Vertragsfreiheit steht in Frage. Die doppelte Staatsbürgerschaft? Die Eindeutigkeit der Loyalität ist eine Grundbedingung jeder Republik. Die Einebnung des gegliederten Schulsystems? Ohne Leistungsgerechtigkeit gibt es kein modernes Bildungswesen. Einwanderung? Ja, aber mit gesetzlichen Einschränkungen und Auflagen bis zur Vollbürgerschaft. Auf allen diesen Feldern sind die konservativen Anliegen moderne Anliegen. Sie können unter Bezugnahme auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung formuliert werden, die sich die Bundesrepublik an ihrem Anfang gegeben hat.
Es ist also keine arglistige Täuschung, wenn Pegida-Demonstranten die schwarz-rot-goldene Flagge gezeigt haben. Sie stehen in mancher Hinsicht dem Gründungsgeist der Bundesrepublik näher als ihre Kritiker. Ist es wirklich so schwer zu verstehen, dass es in Dresden viele Menschen gibt, die mit der Hoffnung in die Wiedervereinigung gegangen sind, dass sie nun endlich in einem modernen Staatswesen und Wirtschaftssystem angekommen sind? Und die nun verwundert und enttäuscht über die real existierende Bundesrepublik sind?
Den Pegida-Demonstrationen ist vielleicht die Spitze abgebrochen, aber den Menschen ist nichts abgebrochen. Ihr Anliegen verweist auf fundamentale Schwächen der gegenwärtigen Bundesrepublik. Es ist nicht zu erwarten, dass die Entwicklung der nächsten Zeit diese Opposition widerlegen wird. Nicht sie ist am Ende, aber in der heiligen Allianz auf der Gegenseite wird es ungemütlicher werden.
(erschienen auf der Internetplattform „Die Achse des Guten“ am 31.1. und 1.2.2014)