Der Versuch, die Umwälzungen von 1989 in „Globalpolitik“ zu überführen, hat eine tiefe Vertrauenskrise ausgelöst. Mit „Jamaika“ hat die politische Geisterfahrt auf den Weltmeeren der großen Themen seinen passenden exotischen Ausdruck gefunden

Am Ende eines historischen Irrwegs

8. Oktober 2017

Die Bundestagswahl 2017 bedeutet zunächst: Merkel-Dämmerung. Der Merkelismus hat Perspektive und Ausstrahlung verloren. Er endet im Hin und Her politischer Deals. Mit „Jamaika“ hat die politische Geisterfahrt auf den Weltmeeren der „großen Themen“ seinen passenden exotischen Ausdruck gefunden. Tatsächlich hat die Politik alle Brücken zum eigenen Land abgebrannt. Das schlägt sich jetzt auch in der politischen Stimmung im Land wieder. Die Volkspartei CDU/CSU hat einen massiven Vertrauensverlust erlitten.

Doch die Opposition im Lande sollte sich nicht zu sehr auf die Personalie „Merkel“ fixieren und sich auch nicht zu sehr an den Ränkespielen von „Jamaika“ abarbeiten. Dadurch würde man die tieferen Gründe der Vertrauenskrise in Deutschland aus dem Blick verlieren und könnte auch keine tragfähige Alternative entwickeln.

In einem größeren, zeitgeschichtlichen Maßstab betrachtet, signalisiert die der politische Stimmungswechsel im Sommer 2017 den Anfang vom Ende eines historischen Zyklus. Er begann mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 und wurde von einer bestimmten politischen Grundentscheidung geprägt: Die Energien, die dieser Zusammenbruch freigesetzt hatte, sollten durch neue übergeordnete Instanzen aufgefangen und gezügelt werden. So konnten weder die nationalen Erhebungen im östlichen Mitteleuropa noch die deutsche Wiedervereinigung wirklich zum Zuge kommen. Die nationale Form, die diese Freiheitsbewegungen ja ursprünglich hatten, galt als rückwärtsgewandt und gefährlich. Die Bewegungen mussten daher sogleich „übernational eingebunden“ werden. Diese Versuche bestimmten im Laufe der 1990er Jahre immer mehr die Politik. Und sie bestimmten auch das, was dann unter „europäisch“ verstanden wurde.

Die regulative Idee „Einbindung“

Das Wort „Einbindung“ ist zum Oberbegriff eines ganzen historischen Zyklus geworden, der bis heute andauert. Als regulative politische Idee bedeutet er ein fundamentales Misstrauen. Die Nationen dürfen nicht in Freiheit entlassen werden, weil sie in ihrem Innern ein aggressives, zum Krieg tendierendes Wesen haben. Das gilt insbesondere auch für die deutsche Nation. Man hätte ja nach 1989 die Wiedervereinigung Deutschlands und die damit verbundene Souveränität als historische Chance begrüßen können: Endlich konnte ein republikanisch und demokratisch verfasstes Deutschland sich im Inneren wie im Äußeren bewähren. Und es konnte dies als Nation und aus freien Stücken tun. Aber genau diese Würde souveräner Freiheit wurde im Ansatz verwehrt, indem alles sogleich unter das Gebot „Deutschland muss eingebunden werden“ gestellt wurde. Das Gleiche gilt auch in vielen anderen Teilen Europas: Man überließ es nicht den Nationen, aus eigener Freiheit und am Gegenstand ihres eigenen Landes Maß und Mitte zu finden.

Die nach 1989 eigentlich logische und naheliegende regulative Idee wäre „Freisetzung“ gewesen. Das Ende des kommunistischen Blocks in Osteuropa hätte zu einem Schub der Freisetzung der Nationalstaaten und zu einem neuen Pluralismus führen können. Es gab viele europäische Länder, die in ihrer Geschichte noch gar nicht für längere Zeit die Gelegenheit gehabt hatten, sich als souveräne Republiken zu bewähren. Darunter war eben auch Deutschland. Es hätte sich hier bestens einreihen können.

Die These dieses Beitrags, der nur eine Gedankenskizze sein kann, ist: Die deutsche und europäische Politik muss noch einmal auf die Grundentscheidung nach 1989 zurückkommen. Der Vertrauensverlust, den die Bundestagswahl 2017 zeigt, kann als Anfang vom Ende des globalpolitischen Einbindungs-Zyklus verstanden werden. Wenn dieser Verlust konstruktiv gewendet werden soll, wird man unweigerlich auf die Rolle zurückkommen müssen, die die Nationen in der heutigen Welt spielen können und müssen. Nicht die „soziale Frage“ kehrt wieder – sie geht am Problem der globalpolitischen Vormundschaft vorbei. Es ist die „nationale Frage“, die beantwortet werden muss.

Das große Rad

Alle Krisen der neueren deutschen Politik sind Krisen des unverhältnismäßigen Handelns. Es wird ein zu großes Rad gedreht. Alle ruinösen Entscheidungen der letzten Jahre haben damit zu tun: Euro-Rettung, Energiewende, Klimapolitik, unbegrenzte Masseneinwanderung, Türkei-Deal, Anti-Trump-Kampagne, Grenzwert-Wahnsinn usw. usw. Die Ergebnisse dieser Politik sind alles andere als „groß“. Sie hat nur unendliche Baustellen eröffnet und eine wachsende Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Allerdings ist die politische Auseinandersetzung in Deutschland noch kaum bis zu dem systematischen Fehler vorgestoßen, der allen diesen Entscheidungen zugrunde liegt und der weitere solche Entscheidungen produzieren wird. Es gibt durchaus Streit um einzelne Themenfelder – man denke nur an die Schuldenkrise und vor allem an die Migrationskrise. Aber dieser Streit bleibt auf dem jeweiligen Feld, er ist noch zu sehr „fachpolitisch“. Zu wenig wird über die Grund-Koordinaten gesprochen, die quer durch alle Krisen wirksam sind. Die Grundstruktur, in der die deutsche und europäische Politik sich bewegt, entfaltet ihre Wirkung weitgehend im Verborgenen. Weil das so ist, kann auch keine systematische Alternative entwickelt werden. In der politischen Diskussion ist das „Nationale“ bislang ein nebulöses Feld geblieben, auf dem eher vage Assoziationen herrschen und keine institutionell-praktischen Vernunftargumente.

Die Nation als Willensbildner

Es gibt in Deutschland eine recht lebhafte Diskussion über Parteienmacht, Abgeordnetenfreiheit, Bürgerbeteiligung und Volksabstimmungen. Aber das ist eigentlich ein Sekundärproblem der Demokratie, denn hier geht es nur darum, wie ein bestehender Volkswille auf das Regieren übertragen wird. Das primäre Problem ist ein anderes: Wie kann sich ein fester und zugleich maßvoller politischer Wille in Freiheit überhaupt bilden? Wodurch bekommt der Wille Stetigkeit und Durchsetzungskraft? Und woran findet er sein Maß, um weder größenwahnsinnig noch engstirnig zu werden?

Die globalpolitische Einbindung weist an dieser Stelle einen gravierenden inneren Widerspruch auf: Sie soll einerseits mäßigen („einbinden“), aber sie soll das ausgerechnet auf einem völlig maßlosen („globalen“) Spielfeld tun. Wie kann da sichergestellt werden, dass die Freiheit nicht nur eine luftige, beliebige, unwirkliche Freiheit ist? Dass der Wille nicht zur Willkür wird?

Es braucht also eine institutionelle Grundeinheit, die groß genug ist, um der Freiheit Produktivität und Spielräume zu bieten, und die zugleich so begrenzt ist, dass die Freiheit realitätsgebunden bleibt. Die Nationen sind die institutionellen Einheiten, die sich auf dem mittleren Feld zwischen provinzieller Enge und globaler Zufälligkeit bilden. Wenn es darum geht, in Freiheit immer wieder neu einen festen und maßvollen politischen Willen auszubilden, ist die Nation eine sehr vernünftige und keineswegs „veraltete“ Lösung. Sie ist der beste Verbündete der Freiheit.

Es heißt, der freie Wille soll die oberste Instanz der Politik sein. Deshalb, so wird behauptet, sei es prinzipiell verboten und aussichtslos, dem „Selbstbestimmungsrecht“ (von Migranten, von Separatisten…) entgegenzutreten. Aber gibt es etwas Beliebigeres, Wechselhafteres, Maßloseres als den Willen? Ist er nicht ebenso wechselhaft und maßlos wie die Außenwelt, die uns umgibt? Alle Politik beginnt mit der Verhältnismäßigkeit des Willens. Es ist kein Zufall, dass im Völkerrecht neben dem Prinzip der Selbstbestimmung das Prinzip der territorialen Integrität etabliert ist.

Die Nation ist kein Mittel zur Willkürherrschaft und Welteroberung, sondern ein Mittel zur Herstellung der Verhältnismäßig in der Politik.

Es gibt eine Forderung, die das Willensproblem wunderbar auf die Punkt bringt: die Obergrenze für die Zuwanderung. Nur wenn die gewählte Regierung das Recht hat, die Zahl der Zuwanderer im Voraus für einen bestimmten Zeitabschnitt zu begrenzen, hat der politische Wille einen Bezugspunkt und kann „verhältnismäßig“ werden. Wie wird die richtige Höhe der Obergrenze gefunden? Da gibt es viele Einzelerwägungen, aber immer werden die inneren, nationalen Mittel eines Landes gegenüber dem äußeren Druck letztlich den Ausschlag geben müssen. Würde man das beherzigen, wäre heute sofort ein Moratorium für die Aufnahme „globaler Flüchtlinge“ und ein massives Rückführungsprogramm fällig.

Die Verfassungsnation

Ein vielzitierter Satz des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde (aus dem Jahr 1964) lautet: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ (E.W. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, Seite 60). Böckenförde stellt die Frage nach den Ressourcen, von denen der neuzeitliche, republikanische, demokratische Staat lebt. Aber er spricht eigentlich, nicht von der gesamten Verfassungsordnung, zu der ja auch das Staatsvolk und das Land als Voraussetzungen und Ressourcen gehören. Dieser Gesamtbau aus Verfassungsstaat und Verfassungsnation garantiert die Kontinuität einer freiheitlichen Demokratie. So wird aus dem vagen Gebilde der „Gesellschaft“ ein begrenzter Zusammenhang, aus dem heraus allgemeinverbindliche Normen gebildet und durchgesetzt werden können. Wer die Verfassungsnation streicht, macht aus dem Verfassungsstaat eine leere Hülle, der nur von außen Leben eingehaucht werden kann.

Aber stellen wir die Böckenförde-Frage doch einmal an die Globalpolitik. Für sie trifft der Böckenförde-Satz zu: Die Instanzen der Globalpolitik müssen tatsächlich von Voraussetzungen leben, die sie selbst nicht garantieren können. Diese Instanzen haben nichts, was mit der Verfassungsnation vergleichbar wäre. Sie zehren von der Festigkeit und Mäßigung des politischen Willens, der in den Nationalstaaten generiert werden muss.

Die historische Wegscheide 1989 neu aufgreifen

Wenn man den Irrweg der Globalpolitik verlässt, der nach 1989 eingeschlagen wurde, bedeutet das keinen unendlichen Rückgriff in die Geschichte. Man kann an vielen Errungenschaften der Entwicklung der Nationen anknüpfen. Der Rückgriff auf 1989 bedeutet: Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und der zugleich wehrhafte und maßvolle Geist, der es inspirierte, ist eine solche Errungenschaft. Die Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 geschah in diesem Geist. Sie hat eine territorial begrenzte Verfassungsnation entstehen lassen. Wenn statt „Einbindung der Nation“ eine Politik der „Freisetzung der Nation“ verfolgt wird, ist das eine Erfüllung des Grundgesetzes und der in ihm aufgehobenen Geschichte der deutschen Verfassungsnation.

Zugleich bedeutet der Rückgriff auf 1989 auch eine Präzisierung der europäischen Ordnungsalternative. Nicht der ganze europäische Einigungsprozess muss revidiert werden, sondern die Europäische Gemeinschaft, wie sie in der „Einheitlichen Europäischen Akte“ (1987 in Kraft getreten) festgelegt wurde, ist eine durchaus vernünftige Vertragsgemeinschaft, die Vorteile der Marktgröße und begrenzte Umverteilungsfonds miteinander verbindet. Die Frage der Souveränität war auf dieser Stufe noch eindeutig bei den nationalen Mitgliedsstaaten. Gewiss kann man nicht buchstäblich auf diese Akte zurückkommen, aber sie liefert einen Maßstab.

Die Krise der Volksparteien und die Flucht nach „Jamaika“

Die Stimmverluste von CDU/CSU bei den Bundestagswahlen 2017 machen unübersehbar, dass es in Deutschland nicht nur eine Krise der Volkspartei SPD gibt, sondern eine Krise beider Volksparteien. Es geht um eine Krise der Volksparteien überhaupt – und damit um eine Krise der Grundkoordinaten der deutschen Politik. Die Volksparteien waren bisher Garanten dafür, dass in der Politik ein bundesrepublikanisches Gesamtmaß galt. Man konnte darauf vertrauen, dass in ihr politisches Innenleben dazu führte, dass eine gewisse Breite der Bürger (Nutznießer und Steuerzahler) ein Gesamtinteresse formulierte. Bei den Klein-Parteien konnte man darauf sowieso nicht vertrauen. Doch nun ist dieser Volkspartei-Mechanismus zerstört. Die Globalpolitik hat die Konsistenz der deutschen Volksparteien aufgelöst. Ihr Maß ist in der Maßlosigkeit des Merkelismus nicht mehr gefragt. Und weder CDU/CSU noch SPD scheinen die Kraft zu haben, zu ihrer eigentlichen, nationalen Verantwortung zurückzufinden.

Die Bildung der „Jamaika“-Koalition mit ihrer Vorherrschaft von Sonderinteressen und ihrer völligen Unberechenbarkeit dokumentiert diese verfahrene Situation. Sie ist eine buchstäblich „exotische“ Koalition – in der alle festen Haltepunkte einer deutschen Politik fehlen.

Noch ist es zu früh, um vom Beginn eines neuen Zyklus in der deutschen und europäischen Politik zu sprechen. Aber eins kann man heute schon sagen: Ein solcher Zyklus wird noch einmal neu an den europäischen und deutschen Errungenschaften von 1989 ansetzen und ihren Freiheitsimpuls neu aufgreifen. Für das vereinigte Deutschland bedeutet das, dass es endlich als demokratisches, produktives und um seiner selbst willen liebenswertes Land auftreten kann. Und dass es sich dafür weltpolitisch nicht überheben muss.

 

(erschienen am 9.10. bei „Tichys Einblick“ und am 20.10. bei „Die Achse des Guten“)