Über das Buch „Siegen – oder vom Verlust der Selbstbehauptung“ von Parviz Amoghli und Alexander Meschnig

Auf der Suche nach der verlorenen Wehrhaftigkeit

22.Mai 2018

Eine geläufige Formulierung zur heutigen Lage lautet „Die Welt ist aus den Fugen“. Das Sprachbild, das hier gebraucht wird, legt nahe, das Problem in einem großen „Auseinander“ zu verorten, das die Welt spaltet. Und schon ist das Heilmittel geboren: Wir brauchen jetzt ein großes „Zusammen“ – der globale moralische Imperativ lautet „den Zusammenhalt stärken“.  Aber es gibt viele Anzeichen, dass die heutige Weltsituation anders zu beschreiben ist: als eine heillose Verwicklung. Als eine Kombination unterschiedlicher Übergriffigkeiten. Als ein endloser Kriegszustand ohne Aussicht auf Auflösung. Das erinnert in mancher Hinsicht an die deutschen Zustände im Dreißigjährigen Krieg, der vor 400 Jahren begann und der die Bildung einer neuzeitlichen deutschen Nation über lange Zeit zurückwarf. Während andere Nationen in Europa und im Westen ihre Existenz mit militärischen Siegen verbinden konnten, blieb diese Erfahrung in Deutschland immer zweideutig und umstritten. In unserer Zeit scheint diese Unfähigkeit zur militärischen Selbstbehauptung wieder bedeutsam zu werden. Aber diesmal nicht als deutsches Sonderproblem, sondern als generelle Unfähigkeit Europas und des Westens, das Eigene auch mit Gewaltmitteln zu verteidigen.

Das ist das Thema des Buches „Siegen – oder vom Verlust der Selbstbehauptung“ von Parviz Amoghli und Alexander Meschnig. Es geht dabei nicht um die vielbeschworenen „Werte“, die durch ihre Überzeugungskraft siegen. Hier werden nicht die „weichen Faktoren“ betrachtet, sondern geradezu demonstrativ „das Harte“ zum Prüfstein macht: die Fähigkeit, in einer kriegerischen Auseinandersetzung zu siegen. Frei nach dem Grundsatz: Das Gute ist nur dort wirklich etwas wert, wo es zur physischen Gewalt wird. Natürlich setzt sich ein solches Unterfangen sofort dem Vorwurf aus, gleichgültig gegenüber den Opfern kriegerischer Auseinandersetzungen zu sein. Doch die Autoren sind alles andere als Bellizisten. Sie wenden sich an ein deutsches Publikum, das inzwischen ein Grundgefühl der Hilflosigkeit gegenüber vollendeten Tatsachen hat, die andere setzen. Das Buch ist dabei kein Alltags-Report, sondern ein grundlegender Essay über die Fähigkeit und Unfähigkeit zum Kriege, der unsere Gegenwart in einem größeren historischen Maßstab betrachtet. Die Autoren beschreiben unterschiedliche Situationen und ziehen zahlreiche Quellen heran. Das macht das Buch zu einer Fundgrube. Es ist dabei auch ein ehrliches Buch. Es zeigt, wie bedrohlich und verfahren die heutige Situation ist, und kleistert diesen Befund nicht mit einer optimistischen Schlussbotschaft wieder zu. Dem mündigen Leser wird das recht sein.

Die Unfähigkeit zu siegen

Die Grunddiagnose der Autoren ist ernüchternd: Der Westen hat „keine Antwort auf die Frage, wie man heute siegen kann.“ (Seite 40) Und an anderer Stelle: „Demokratische Staaten, seien sie waffentechnisch, ökonomisch und politisch noch so überlegen, sind nicht mehr in der Lage, gegen einen entschlossenen Gegner zu siegen.“ (44)  Auch wenn der Westen das Gute vertritt und über starke Mittel verfügt, ist er doch nicht fähig, mit gewaltsamen Widerständen fertig zu werden. Das gilt auch für das Agieren des staatlichen Gewaltmonopols. Es handelt sich um eine Verlustgeschichte, denn die Autoren führen detailreich vor, wie die Geschichte der Menschheit mit der Fähigkeit, Kriege siegreich zu entscheiden verbunden war. In vier Kapiteln „Phänomenologie“, „Dispositive des Krieges“, „Kriegsziele“ und „Mentalitäten“ wird das geschichtliche Material analysiert und der Leser daran gewöhnt, kriegerische Auseinandersetzungen nüchtern zu betrachten und militärische Überlegungen nicht von vornherein als Teufelswerk abzutun. Er wird aber auch daran gehindert, die Grausamkeit des Kriegs als „reinigende Erfahrung“ romantisch zu verklären. Nicht zufällig zitieren die Autoren hier englische Stimmen, wie den Althistoriker Ian Morris: „Die Antwort auf die Frage: Wozu Krieg? ist paradox und schrecklich zugleich. Krieg hat die Menschheit sicherer und wohlhabender gemacht, aber nur um den Preis des Massenmords.“ (55). Man kann hier an die bärbeißige Brummigkeit eines Churchill denken, oder auch an die Nüchternheit des im Buch mehrfach zitierten Clausewitz, denen es fernlag, den Krieg mit flammenden Weltbeglückungs-Reden zu überhöhen.

Die historische Betrachtung des Buches zeigt erhebliche Unterschiede und Wandlungen der kriegerischen Grundkonstellationen. Die Auseinandersetzung zwischen Sesshaften und Nomaden wird ebenso dargestellt wie die staatliche Einhegung des Krieges in der Ära der Nationalstaaten – im Innern siegt der „Leviathan“-Staat über die (religiösen) Bürgerkrieg, im Außenverhältnis setzt sich ein Nebeneinander souveräner Territorialstaaten durch („Westfälische Ordnung“). Diese Ordnung gerät durch totalitäre Bewegungen im 20. Jahrhundert in eine Krise. Diese Krise ist kaum überwunden, da taucht schon eine neue Konstellation auf.

Die heillose Asymmetrie der „neuen Kriege“

Damit sind wir beim eigentlichen Anliegen des Buches: der Eigenart der „neuen Kriege“ (Herfried Münkler) der Gegenwart. Amoghli und Meschnig beschreiben eine merkwürdige Verflechtung zwischen zwei Entgrenzungen. Auf der einen Seite die nomadische Grenzüberschreitung der islamisch-arabischen und afrikanischen Welt und auf der anderen Seite die globalisierende Grenzauflösung der westlichen Welt. Nimmt man die staatlich einhegte Gewalt der klassischen Moderne als Maßstab, wird deren Ordnung damit doppelt gebrochen. Die arabisch-afrikanische Grenzüberwindung durch willkürliche Massenmigration ist ein Rückschritt in vormoderne Zeiten: „Mit dem …dem riesigen Überschuss an jungen Männern der zerfallenden afrikanischen und arabischen Staaten und der neuerliche Radikalisierung des Islam kommt es zu einer Art Rückfall hinter die Ära der Verstaatlichung des Krieges.“ (68) Die neuen Kriege sind „eigentlich die weiter oben beschriebenen alten Kriege“, schreiben die Autoren (66)

Zugleich ist „postheroische“ Strömung im Westen unfähig und unwillig zu einer bewaffneten Verteidigung der eigenen territorialen Integrität. Denn hier werden die Opfer als unerträglich empfunden, die ein Sieg in einem solchen Grenzkrieg erfordern würde. Das gilt für die Opfer auf der eigenen Seite, aber auch für die Opfer auf der gegnerischen Seite. Das Buchkapitel „Mentalitäten“ beschreibt sehr anschaulich die „Entmilitarisierung des Militärs“ (108), die insbesondere in Deutschland stattgefunden hat. Bis hin zu der geradezu bizarren Tatsache, dass im Weißbuch der Bundeswehr 2016 „nicht ein einziges Mal die Begriffe `Heer´, `Marine´ oder `Luftwaffe´ beziehungsweise `Panzer´, `Infanterie´, `Kampflugzeug´ oder `Drohne´ auftauchen“ (133). So wird die parlamentarische Integration der Bundeswehr in ihr Gegenteil verkehrt: Alles Militärische wird ausgebürgert. Und im politischen Diskurs ist es zum Tabu geworden, vom „Feind“ zu sprechen, weil die Regierenden nicht wahrhaben wollen, dass der islamische Radikalismus den Westen hasst, auch wenn dieser sich bis zum äußersten verbiegt (143).

Nimmt man diese beiden Seiten zusammen, muss man von einer „asymmetrischen“ kriegerischen Verwicklung sprechen, die nicht aufzulösen ist. Die Interventionen westlicher Mächte, die mit begrenztem Einsatz extrem weitgesteckte Ziele erreichen wollen, können nicht siegreich beendet werden. „Mit dem radikalen Islam, mit Selbstmordattentätern und Terroraktivisten sind die weitgefassten Kriegsziele (Nation Building, Demokratisierung, Befriedung der Region) zur reinen Chimäre geworden.“ (104). Aber eine Chimäre sind auch die Ziele des radikalen Islam und seiner nomadisierenden Krieger. Ihr Vordringen im Westen kann Zerstörung und Chaos bewirken, aber keine neue Ordnung errichten. Eine feindliche Übernahme der modernen Zivilisation durch den Islam oder andere Kräfte, die an der Entwicklung ihrer eigenen Länder gescheitert sind, ist aussichtslos. Das macht jedoch die Gesamtkonstellation, in der vormoderne und postmoderne Tendenzen ineinander verwickelt sind, nicht weniger verheerend. Es ist eine zerstörerische, immer weiter wuchernde Verwicklung – ein endloser Kriegszustand.

Gibt es ein anderes Szenario?

Es ist ein Verdienst des Buches, dies anschaulich, sachkundig, quellenreich und unverblümt deutlich zu machen. Das Kapitel „Ausblick“ fällt allerdings ein wenig vage aus. Die Frage, in welcher politischen (nicht nur geistig-moralischen) Konstellation von neuem Siege möglich wären, wird nicht weiter vertieft. Amoghli und Meschnig schreiben, es gehe darum, „…den Erhalt und die Bewahrung einer freien, pluralistischen und offenen Gesellschaft mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu verteidigen. Dafür braucht es aber einen gemeinsamen ideellen Kern, der alle Gruppen integrieren kann und so dem Zerfall des Gemeinwesens vorbeugt. Es braucht darüber hinaus die Selbstgewissheit hinsichtlich dessen, was es überhaupt zu verteidigen gilt. Erst wenn darüber Klarheit herrscht, wird Deutschland und mit ihm Europa in der Lage sein, dem militanten Islam auf Augenhöhe zu begegnen.“ (174). Das ist eigentlich recht wenig militärisch gedacht, obwohl der Leser ja gerade gelernt hat, dass das Politische ohne einen solchen materiellen Kern nicht realitätstüchtig ist.

Hier stellt sich eine sehr konkrete militärische Frage: Sind die Länder des Westens in der Lage, ihre territorialen Grenzen gegen die Massenmigration zu verteidigen? Das wäre ja ein sehr begrenztes militärisches Ziel – ganz ohne „Nation Building“ und andere Welt-Interventionen. Es wäre kein Eroberungskrieg, sondern ein Trennungskrieg. Gewiss behaupten unsere Regierenden und Rechtsgelehrten, dass man heute Grenzen nicht gegen willkürliche Übertritte abschirmen könnte oder dürfte. Aber dazu würde der Leser gerne einmal die Praktiker des staatlichen Gewaltmonopols hören.

Der Begriff „Trennung“ könnte auch als politischer Leitbegriff der Gegenwart taugen. Wenn es heute eine Art gordischen Knoten zwischen vormodern-vagabundierender Übergriffigkeit und postmodern-weltbürgerlichem Hegemoniestreben gibt, ist dann nicht ein Vorgehen, das beide Seiten auf sich selbst verweisen würde, das historische Gebot der Stunde? Man wird in der islamisch-arabischen und afrikanischen Welt nur dann Kräfte der Selbstverantwortung freisetzen, wenn man ihr den schnellen Zugriff auf die Früchte des Westens versperrt. Und man wird dem postmodernem Jet-Set nur beikommen, wenn man seine Weltgestaltungs-Ansprüche durchstreicht. Nur durch die politische Vernunft der Trennung könnte die zerstörerische Asymmetrie abgebaut werden. Es war diese Vernunft, die zu Beginn der Neuzeit bei der staatlichen Einhegung des Krieges Pate stand und die auch aus dem Dreißigjährigen Krieg herausführte.

 

Das rezensierte Buch:

Parviz Amoghli/Alexander Meschnig, Siegen oder vom Verlust der Selbstbehauptung (Werkreihe Tumult Nr.5). Manuscriptum Verlag Lüdinghausen/Berlin 2018. 177 Seiten. 18,90 Euro

(erschienen bei „Die Achse des Guten“ am 24.5.2018)