Aus dem Archiv, Jahrgang 2013: Die Franzosen zeigen sich pessimistisch. Aber daraus spricht nicht die Schwerfälligkeit eines ewig gestrigen Landes, sondern die Abkehr von leichtsinnigen Zukunftsversprechen. Eine Sommerreise zwischen Provinz und Metropole
Auf der Suche nach Realität
2. August 2013
Der grand départ, der Start in die Sommerferien, ist in Frankreich wirklich ein Großereignis. Auch ich bin am ersten Juli-Samstag mit dabei – allerdings auf der Gegenfahrbahn, denn ich komme aus der Region Midi-Pyrénées und fahre vom Südwesten auf die Hauptstadt zu. Die Reisewelle der Nation kommt mir mit Sack und Pack entgegen und der Radiosender FM 107,7 liefert im Minutentakt Verkehrsmeldungen, die durch ihre Details rührend wirken. Einem Autofahrer, der auf der E 50 bei km 123 auf dem Seitenstreifen steht, wird ein ermutigendes „Hilfe ist unterwegs“ gesendet. Von der E 54 gibt es eine frohe Botschaft. „Der LKW wurde soeben abgeschleppt“ sagt der Sprecher und ist richtig begeistert. Die Nation darf sich umfassend betreut fühlen, der Verkehrsfunk ist ihr säkularer Seelsorger. Und doch sind die Reisenden auch mit der Erwartung gestartet, dass sich diese fürsorgliche Umlagerung auflockern wird, je näher sie ihrem jeweiligen Zielort kommen. Im Sommer verteilt sich die französische Gesellschaft in der Weite des Landes. Für ein Land, das eine starke Tradition der Zentralisierung hat, bedeutet die Ferienzeit eine merkwürdige Umkehrbewegung. Der dezentrale Reichtum Frankreichs gewinnt an Bedeutung. Gewiss hat der Tourismus seine eigenen Massenaufläufe, aber die Menschen kommen doch der landschaftlichen Vielfalt und dem Eigensinn der Regionen näher als sonst. Auch findet in dieser Urlaubssaison 2013 nicht nur ein Abschied von den Alltagssorgen statt, sondern die Reisezeit kann für eine Nation, die nicht mehr recht weiß, was sie glauben soll, auch den Sinn bekommen, die Realitäten neu in Augenschein zu nehmen und sich mit anderen Menschen darüber auszutauschen. Vom französischen Präsidenten scheinen die Franzosen nicht mehr viel zu erwarten. Seinen letzten Fernsehauftritt im Juni sahen nur noch 2,8 Millionen, ein Rekordtief.
Neuigkeiten aus Douelle
Die Ortschaft Douelle in der Region Midi-Pyrénées liegt beschaulich an einer Biegung des Flusses Lot, 90 km nördlich von Toulouse. Es ist ein Ort, wie es sie zu Hunderten im ländlichen Frankreich gibt. Wenn man mittags auf der leeren Hauptstraße steht, scheinen sich alle Vorurteile zu bestätigen, die man über das öde France profonde hört. Alles verschlossen und verschlafen. Aber die Häuser sind gepflegt und zur Straße grüßen höflich Blumenkästen. Der junge Mann, der die Post austrägt, ist ein bisschen amüsiert, als ich ihn frage, wo denn die Menschen sind. „Nein, Monsieur, sie sind nicht weggezogen, sondern um diese Zeit en route – unterwegs.“ Es gibt also Arbeit, aber Wirtschaft und öffentliche Dienste sind nicht mehr lokal, sondern regional organisiert. Vieles läuft über die Kreisstadt Cahors, aber „die Leute wohnen immer mehr in den kleinen Ortschaften“. Die Einwohnerzahl von Douelle ist gestiegen: 670 Einwohner waren es 1975, aktuell sind es 844. Und noch eine andere Zahl zeigt die neue Organisation des Landlebens: 1975 zählte man in Douelle 280 Autos, 2006 waren es schon 332 und heute ist die Zahl 400 in Sicht. Hockt in Frankreich jeder nur auf seiner eigenen Parzelle? Die KFZ-Statistik sagt etwas anderes. Ein Produkt der Gegend ist sogar sehr exportstark: Der „Cahors“ ist ein kräftiger, erdiger Wein, der für seine dunkle Farbe (dank der Malbec-Traube) berühmt ist. Der „black wine of cahors“ war schon im Mittelalter bekannt und wurde auch am englischen Königshof serviert. Heute ist er auf dem US-Markt gefragt, wobei zunächst argentinische Malbec-Weine den Weg ebneten. Nun ist China das große Thema, die dortige Nachfrage hat die Exportzahlen um 41% hochschnellen lassen. Im Weinbau-Fachblatt „La Vigne“ finde ich eine Internet-Umfrage, in der eine große Mehrheit die Schutzzoll-Drohungen zwischen der EU und China mit Sorgen sieht.
Mancher Leser wird es schon gemerkt haben: Ich bin nicht ganz zufällig auf diesen Ort gekommen. Aber das liegt nicht am Wein, sondern an einem Buch. „Les trente glorieuses“ (Die dreißig glanzvollen Jahre) handelt von der großen Wachstumsperiode unseres Nachbarlandes nach dem 2. Weltkrieg. Sein Titel ist zum Synonym für das französische Wirtschaftswunder geworden. Es ist 1979 erschienen. Sein Autor, Jean Fourastié, ist in Douelle aufgewachsen und später, als er in Paris als Ökonom bekannt wurde, jeden Sommer dorthin zurückgekehrt. Auf dem Friedhof am Ufer des Lot ist er begraben. Der Ort Douelle spielt in den Trente Glorieuses eine wichtige Rolle. Denn das Buch, das im Untertitel „Die stille Revolution“ heißt, handelt nicht nur von Paris und den alten Wirtschaftszentren. Es beschreibt auch den fundamentalen Wandel, den das ländliche Frankreich in dieser Periode geschafft hat. Fourastié nahm seinen alten Heimatort als exemplarischen Fall und zeichnete die Veränderungen minutiös auf: die Zahl der Traktoren und Telefonanschlüsse, die neuen Arbeitsplätze in Industrie und Dienstleistungen. Vor allem entstand jetzt erstmals eine flächendeckende Infrastruktur für Energie, Wasser, Verkehr, Kommunikation, Bildung und Gesundheit, die das Landleben aus seiner Isolation herausholte. Douelle zeigte die Erfolge einer dezentralen Agenda, die mehr Platz für die regionale Eigeninitiative schaffen wollte. Der historische Satz „Die jahrhundertelange Anstrengung der Zentralisierung, die notwendig war, um die Einheit Frankreichs herzustellen und aufrechtzuerhalten, ist nun nicht mehr das oberste Gebot“ stammt vom General de Gaulle. 1963 wurde nicht nur der deutsch-französische Freundschaftsvertrag geschlossen, sondern auch die Regionalbehörde DATAR gegründet. Tatsächlich hat sich die Landkarte Frankreichs geändert. Die Nation hat sich breiter aufgestellt.
Allerdings gibt es seit etlichen Jahren auch eine zweite Tendenz, die die Landkarte wieder ausdünnt. Als die Zeitung Le Monde im Jahr 2009, aus Anlass des dreißigjährigen Jubiläums von Fourastié´s Buch, über Douelle berichtete, waren etliche Betriebe und Produkte aus dem Ort verschwunden. So waren nur noch 7 Winzerbetriebe übrig, andere Anbauprodukte auf dem an sich guten Boden waren fast ganz verschwunden. Beim zweiten Rundgang durch Douelle fällt mir auf, was im Ortsbild fehlt: Es liegt nichts herum, keine Kisten, keine Erntereste, kein Mist – kein Stoff, der auf Arbeit wartet. Es ist ein gepflegtes Dorf, aber ein Ort für Verbraucher, ein „Residenzdorf“ sozusagen.
Erschöpfungszeichen in Paris
Ist also Paris doch wieder der entscheidende Motor des Landes? Ist hier das Frankreich der Zukunft zu besichtigen? In den großen Städten soll ja die „kreative Klasse“ zu Hause sein, die Spass und Arbeit, Individualität und Solidarität zusammenbringt. Der französische Pessimismus dürfte in dieser sozialen Schicht eigentlich nicht zu finden sein. Allerdings gibt es Meldungen, die zur Aufbruchstimmung der vielzitierten jungen, gut ausgebildeten Hoffnungsträger nicht recht passen wollen. Gerade hier findet man die meisten Anhänger der „exception culturelle“, das heißt, eines protektionistischen Schutzes vor der Konkurrenz auf internationalen Märkten. Von innerer Stärke der neuen Hoffnungsträger zeugt das ebenso wenig wie die schlechten Ergebnisse des französischen Schulsystems.
Ich sitze in einem kleinen Restaurant neben der Metrostation „Pernety“ im 14. Arrondissement mit Isabelle zusammen, einer langjährigen Freundin, die in einem größeren Verlagshaus arbeitet. „Findest Du, dass Paris sich verändert hat?“ fragt sie mich und es klingt etwas sorgenvoll. Nein, eigentlich erstaunlich wenig. Auf dem Hinweg kam mir vieles so vertraut vor, als wären meine Pariser Jahre von 1985 bis 1989 erst gestern gewesen. Die Bürgersteige – tausendmal geflickt. Die Gesichter der Häuser, die Geräusche der Schaufenster-Gitter, die Gerüche der Metro – wie unverwüstlich ist die alte Stadtmaschine Paris. Auch die Leute auf der Rue Raymond Losserand scheinen noch im gleichen, gar nicht so hastigen Schritt unterwegs zu sein. Die Metropole ist hier immer noch quartier – eine Behausung. Natürlich gibt es Neubauten und andere Auslagen, aber wenn es um den Stadtraum geht, überwiegt die Kontinuität. Vielleicht ist das ein Vorzug des Reisenden, dass er sich an Äußerlichkeiten orientiert und das Innenleben erstmal ignoriert „Ich finde, die Leute sind aggressiver geworden“, sagt Isabelle, „ungeduldiger, missmutiger“. Sie erzählt von der Metro: Die kleine Zivilität, mit der man sich gegenseitig Platz gemacht hat, ist seltener geworden. Auf der Arbeit gibt es eine wachsende Ernüchterung. Es zirkuliert immer mehr Information, aber die Ergebnisse werden nicht entsprechend besser. Dann sagt sie einen Satz, der einem lange nachgeht: „Wir wissen eigentlich nicht mehr, wo wir noch zulegen können“ Man beschwört im Betrieb immer wieder neue kreative Lösungen und zusätzliche Anstrengungen, „aber irgendwie sind wir am Ende der Fahnenstange angekommen.“
Das 14. Arrondissement von Paris, das ist vor allem der Montparnasse. Er hatte wirklich eine große Epoche in den 20er und 30er Jahren, auch noch in der Nachkriegszeit. Aber Kreativität war hier eigentlich kein Programm, kein offizieller Auftrag. Der Stadtteil wurde von experimentierfreudigen Leuten gewählt, weil er noch unfertig war und nicht durchorganisiert. In den Memoiren der Akteure von damals kommen immer wieder Dinge, Menschen und Lokalitäten vor, die irgendwie ungehobelt und unkalkulierbar waren. Heute fehlt es im 14. Arrondissement nicht an Leuten, die man zur creative class rechnen würde. Wahrscheinlich ist diese Gruppe sogar zahlreicher als früher. Aber was ich an Bildern und Veranstaltungsplakaten sehe, bietet keine Überraschungen. Der Stadtteil scheint weniger zu inspirieren. „In Paris zählen nicht Räume, sondern Beziehungen“, meint meine Gesprächspartnerin.
Ein Mindestlohn, der das Land eng macht
9,43 Euro ist der Mindestlohn in Frankreich, ganz gleich, ob in der Metropole oder auf dem Land. Der Lohn ist eine Größe, die tief in die konkrete Lebenswirklichkeit hineinreicht, in die Ertragskraft eines Produkts oder einer Dienstleistung, in die Finanzkraft eines Familienbetriebs, in die individuelle Leistungsfähigkeit eines Beschäftigten. 9,43 Euro ist viel Geld, besonders wenn man es Stunde für Stunde, Tag für Tag bezahlen muss. Man sieht die Felder rund um Douelle oder eine Geschäftsstraße in Paris und fragt sich insgeheim: Wie soll das erwirtschaftet werden? In Douelle, so berichtete Le Monde 2009, konnte kein einfacher Landwein mehr angebaut werden, weil er den Erntelohn von 8 Euro nicht hergab. In der Rue Alesia im 14. Arrondissement gibt es viele Kleiderläden und es fällt auch nicht an Passanten auf der Straße, aber mir fällt auf, dass zur besten Einkaufszeit kaum Leute in die Läden gehen. Wovon bezahlen die ihre Verkäuferinnen? Die Vietnamesin, deren Minimarkt noch zu später Stunde geöffnet ist, sagt mir „Wir sind selbständig. Wir dürfen auch für 1 Euro pro Stunde arbeiten.“ Und lächelt rätselhaft.
Ein Mindestlohn in dieser Höhe ist zum Teil eine Fiktion und zum Teil ein Anschlag auf die Realwirtschaft. Er führt zur Einstellung von Tätigkeiten, die trotz großer Mühen einfach nicht genug Ertrag bringen. Noch bedeutsamer ist, dass die willkürlich gezogene Zahlengrenze einen großen Teil der Arbeitswelt aus der öffentlichen Wahrnehmung ausschließt. Niemand fragt mehr nach, warum bestimmte Produkte und Dienste nur geringe Erträge erwirtschaften. Der Verlust von Betrieben, Produkten und Tätigkeiten findet weitgehend im Verborgenen statt. Aber auch den Satz „Wir wissen nicht mehr, wo wir noch zulegen können“, der aus der qualifizierten Mitte der Gesellschaft kommt, wir selten offen ausgesprochen. Dabei gibt es gute Gründe für die Annahme, dass Frankreich in einem Produktivitätswettlauf nur in wenigen Branchen gewinnen kann. Da ist es wider jede Vernunft, wenn die Politik der Nation auch noch das Hinterland der einfachen Tätigkeiten durch hohe Mindestlöhne beschädigt und ihr einen Öffentlichen Dienst aufbürdet, der größer ist als in allen vergleichbaren Ländern. Der Produktivitätswettlauf ist nicht der einzige Weg, um Arbeit im Lande zu halten. Aber ein anderer Weg öffnet sich nur, wenn die Betriebe von Kosten entlastet werden, damit sie sich bei Produkten und Diensten mit weniger Erträgen halten können. Wenn allerdings diese beiden Türen zugehalten werden, sitzt ein Land wirklich in der Falle.
Eine neue Mentalität für Frankreich?
Rückfahrt nach Deutschland, durch die Lorraine, vorbei an Verdun – dort, wo deutlich wird, wie eng unsere Nachbarschaft mit Frankreich ist. Hierzulande sind in letzter Zeit Stimmen laut geworden, die unser Nachbarland in einer ganz falschen Kultur gefangen sehen. Die Klischees einer ewig gestrigen, katholisch-unaufgeklärten, südländisch-verschwenderischen Nation tauchen wieder auf. Das klingt so, als ob unseren Nachbarn eine ganz neue Mentalität beigebracht werden muss. Dabei ist der Reformbedarf eher prosaisch. Einen Mindestlohn kann man ebenso ändern wie die skandalöse Bevorzugung des Öffentlichen Dienstes bei den Renten. Es geht um Maßnahmen, die durchaus in der Reichweite eines so politischen Landes wie Frankreich liegen. Meine Beobachtungen in diesem Sommer 2013 legen es nahe, besser zu unterscheiden zwischen den modernen Grundbeständen Frankreichs und einzelnen Fehlentwicklungen, die diese Bestände außer Betrieb setzen. Die Modernität unseres Nachbarlandes ist intakt und vielfältiger als früher. Pessimismus? Eher zeigen die Umfragen ine Abkehr von allzu luftigen Versprechungen. Auch die Schuldzuweisungen an die deutsche Bundeskanzlerin sind einer Mehrheit der Franzosen inzwischen suspekt geworden. Sie sind, ebenso wie die Feindbilder der „Reichen“, einfach zu durchsichtig.
(erschienen als Reportage in der Tageszeitung DIE WELT am 12.8.2013)