Warum man das Gedenken an „1914“ nicht zu eng mit tagespolitischen Fragen verknüpfen sollte, warum das Streben nach Souveränität nicht automatisch zum Streben nach Hegemonie wird, warum das Ziel der Kriegsbegrenzung mehr zur Weltverbesserung beiträgt als das Ziel der Kriegsvermeidung

Aus dem Notizbuch

Verdun und Brüssel – Die Männer liegen dort wirklich. Die Friedhöfe bei Verdun sind nicht nur ein Denkmal. Sie halten mit ihren langen Grabreihen eine grausame Wirklichkeit fest. Zigtausende junger Franzosen und Deutsche, die gerade noch in ihren beiden Ländern an großen Fortschritten bei Lebensstandard und Grundrechten, bei neuen Techniken und Künsten Anteil hatten, stürzten im Umschwung eines Sommers in eine Massenbarbarei. Diese Nähe zwischen dem Aufschwung und dem Untergang ist das eigentlich Irritierende an „1914“ – an dem, was George F. Kennan die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts genannt hat. Seit diesem Datum gibt es so etwas wie einen Generalverdacht gegen die klassischen Bausteine der Moderne, insbesondere gegen die Nationalstaaten. Die These steht im Raum, dass ein Pluralismus unabhängiger Nationalstaaten nicht friedensfähig ist, sondern eine Dynamik enthält, die über kurz oder lang zum Krieg führt. Hingegen gilt die Idee, dass solche Staaten aus ihrer inneren Logik das Recht anderer Nationen respektieren und ihnen in ihrem Anderssein Aufmerksamkeit und Wertschätzung entgegenbringen, nicht mehr viel. Im Grund steht jede Art von pluralistischer Entwicklung unter Vorbehalt. Die Idee, man müsse den Pluralismus souveräner Staaten von außen einhegen und unter höhere Aufsicht stellen, beherrscht die Diskussion – sie erschien, erst recht nach dem zweiten Weltkrieg, als einzige zukunftsfähige Option. In diesem Sinn gilt auch die Europäische Union als Antwort auf 1914. Genau genommen allerdings löst diese äußere Einhegung die Probleme von 1914 nicht, sondern überbaute sie nur. Der Respekt von Nationalstaat zu Nationalstaat oder von Souveränität zu Souveränität war  nicht ihr Thema. Die Aufgabe blieb unbearbeitet liegen.

(nach einem Besuch in Verdun im Sommer 2013)

 

Drei Perspektiven auf 1914 – Es ist viel von „der Lektion“ die Rede, die aus dem Kriegsausbruch im Sommer 1914 zu ziehen ist. Oft wird der Eindruck erweckt, diese Lektion liege eigentlich auf der Hand. Da ist es angebracht, noch einmal nachzuhaken, was denn eigentlich die Fragen waren, auf die die Lektion eine Antwort gibt. In den Veranstaltungen, Ausstellungen und Publikationen, die jetzt im Abstand von einen Jahrhundert stattfinden, sind – mindestens – drei Sichtweisen feststellbar, die alle ihre Berechtigung haben.

1)      Eine sinnlich-anschauliche Präsentation von Zeugnissen und Materialien, die uns die Ereignisse näher bringen will. Dazu gehören Tagebuchzeugnisse von der Front, Nachbauten der Schützengräben, (nachkoloriertes) Bildmaterial, Geräusch- und sogar Geruchskulissen. Auch das Bühnenstück „Gefährten“, dessen Handlung über das Kriegsschicksal von Pferden konstruiert ist, gehört dazu. Es ist ein eindrucksvolle Perspektive, die allerdings eher das Erleben in den Vordergrund stellt und die Grausamkeit betont. Das Handeln (die Verantwortung und die Dilemmata bei Entscheidungen) bleibt hier im Hintergrund.

2)      Eine Erörterung der Kriegsschuld im unmittelbaren Sinn. Dabei geht es um die Schuld von Einzelpersonen, aber auch um die Schuld der beteiligten Nationalstaaten. Hier stehen sich insbesondere Positionen, die die Schuld einseitig auf der Seite der Mittelmächte (insbesondere Deutschland) sehen, und Positionen, die sie auf mehrere Seiten verteilen.

3)      Eine Erörterung möglicher struktureller Ursachen des ersten Weltkriegs. Hier findet sich insbesondere auch die These, dass das Nebeneinander souveräner Nationalstaaten eine Tendenz zum Krieg enthält. Und die Schlussfolgerung, eine immer engere Vereinigung Europas (in Gestalt der Europäischen Union) sei die beste Konsequenz. Auch die These, aktuell durch die neue Konjunktur der Kapitalismuskritik, dass die moderne Marktwirtschaft zum Krieg „um Profit“ neigt, gehört hierhin. Dem steht die These gegenüber, dass das die strukturelle Ursache eher in einer unzureichenden Entwicklung souveräner Staaten besteht. Und in einer Vernachlässigung der Mechanismen internationaler Konfliktbegrenzung.

 

Der Geruch des Krieges – Die Neigung, Ereignisse sinnlich erfahrbar zu machen und damit zu „emotionalisieren“, prägt unsere Gegenwart und damit auch das Gedenken an „1914“. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 6.7.2014 bietet einen ganzseitigen Artikel über den 1.Weltkrieg als Geruchsphänomen. „Wie der erste Weltkrieg roch, wie die Schützengräben, die Leichen – das kann man nicht in Archiven finden. Aber man kann es rekonstruieren, sagt Geruchsforscherin Sissel Tolass“, heißt es in den einführenden Zeilen. Anderthalb Jahre lang hat die Forscherin an der richtigen olfaktorischen Mischung gearbeitet, „die sie chemisch aus den unterschiedlichsten Elementen zusammenstellte“. Dass so etwas möglich ist, muss man nicht bezweifeln. Mancher wird nach einem Besuch in Frau Tolaas´ Geruchskabinett auch erklären, es sei ein „besonderes Erlebnis“ und eine “spannende Erfahrung“ gewesen. Allerdings ist die Frage erlaubt, ob diese Art der geschichtlichen Präsentation die existenzielle Seite des Krieges den Menschen wirklich näher bringt, oder ob sie diese Seite nur an den (schon durch viele heftige Eindrücke) abgehärteten „äußeren Schichten der Persönlichkeit“ (Georg Simmel) aufträgt. Sinnliche Nähe muss nicht unbedingt mit existenziellem Nahegehen identisch sein.  

 

Über Opferbereitschaft – „Der Krieg, ein Opfergang“ lautet die Überschrift in einem Beitrag des Diplomtheologen Eduard Kopp in der Zeitschrift „Chrismon“ (7-2014), in dem auf die unselige Rolle einer religiösen Überhöhung der politischen Kriegslegitimation eingegangen wird. Mit den Worten „Diese vaterländische Pflicht ist für den Christen Gottesdienst und Christusdienst“ wird der Berliner Hof- und Domprediger Bruno Doehring zitiert. Der öffentliche Aufruf Kaiser Wilhelms II. zum Krieg („An das deutsche Volk!“) vom 6.8.1914  wurde von dem Berliner Kirchen- und Dogmenhistoriker Adolf Harnack entworfen. Tatsächlich ist die religiöse Überhöhung gefährlich, weil sie die existenziellen Opfer, die mit jedem kriegerischen Einsatz verbunden sind, einer rationalen Abwägung entzieht. Sie werden entgrenzt. Der Staat ist nicht mehr eine säkulare Größe neben anderen gesehen, die auch nur bedingtes Gewicht hat. Allerdings überzieht der Autor seine Relativierung, indem er eigentlich ausschließt, dass sich Citoyen auf Grund rationaler Entscheidung für ein existenzielles Opfer entschließt. In „postheroischen“ Gesellschaften gebe es eigentlich nur das „viktime Opfer“ – d.h. das Opfer, das durch Unglück oder Verbrechen (durch äußere Gewalt also) und nicht durch eigenen Entschluss herbeigeführt wird. Der Mensch der Gegenwart (und Zukunft?), so wird behauptet, erbringt keine großen Opfer mehr, sondern kommt allenfalls unter die Räder. Damit wird nicht nur die Verquickung von Religion und Politik kritisiert, sondern das politische Handeln auf das Klein-Klein von Leistung und Gegenleistung („Fördern und Fordern“) beschränkt. Der Chrismon-Autor versteigt sich sogar zu einer religiösen Umdeutung. Jesus Christus, so schreibt er, „ist nicht absichtsvoll, nicht heldenhaft in den Tod gegangen oder geschickt worden. Er wollte einfach nur konsequent auf der Seite der Menschen sein, ihnen helfen. Er war Opfer der historischen Verhältnisse, kein Ideologe der Selbstopferung. Das ist heute theologischer Konsens.“ Eduard Kopp mag bei diesem Glaubensbekenntnis die Selbstmordattentäter, die sich auf den Islam berufen, vor Augen gehabt haben. Aber das ändert nichts daran, dass er hier auf neue Weise Religion und Politik miteinander zu verquicken versucht. Gottes Sohn wird zum Vorbild und Kronzeugen eines Zeitgeistes gemacht, der von existenziellen Opfern für eine Sache nicht mehr sprechen mag. Damit wird dieser Zeitgeist theologisch überhöht und nicht als Folge politischer Wertungen und Entscheidungen dargestellt. Wird das gebrochene Verhältnis zum existenziellen Opfer als politische Tatsache verstanden, kann sie auch verändert werden. Vielleicht erst von späteren Generationen, vielleicht aber auch schon ein bisschen in diesen Tagen, wo Hunderttausende Menschen im Irak mit Waffengewalt geschützt werden müssen – durch eine bewusste Entscheidung für einen Waffengang.

 

Altes Denken oder neues Denken als Kriegsfaktor? – In Bezug auf den ersten Weltkrieg gibt es das verbreitete Vorurteil, dass hier autoritäres, national-mythologisches, also „gestriges“ Denken Pate stand. Danach müsste man erwarten, dass die Vertreter der sogenannten „kulturellen Moderne“ in Literatur, bildender Kunst, Architektur oder Musik dem Krieg distanziert gegenüber standen. In einer Rezension des Buchs von Ernst Piper „Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs“ schreibt Frank-Lothar Kroll (in der FAZ v. 5.8.2014): „Man staunt über die ernüchternde Tatsache, dass es gerade die Vertreter der kulturellen Moderne gewesen sind, die nicht genug bekommen konnten vom Lobpreis des Krieges als rettender Reinigung, die den Kampf feierten und das Morden zum Fest machten, weil sie – geplagt von Luxusphänomenen wie Normalitätsüberdruss und Saturiertheitsekel – der Illusion einer Fundamentalerneuerung der Menschheit nachjagten.“

 

Das Begrenzungsproblem (I) – Überall dort, wo „der Nationalismus“ als Kriegsursache bezeichnet wird, ist eine Unschärfe im Spiel. Ist es der Souveränitätsanspruch der Nationalstaaten, der sie gegeneinander treibt, oder sind es übergreifende Geltungsansprüche, die sich auf andere Staaten oder auf die Welt im Allgemeinen beziehen? Dass allein schon das Beharren auf der eigenen Souveränität eine kriegstreibende Wirkung hat, ist nicht logisch. Allenfalls ein Verteidigungskrieg gegen eine Aggression ist hier denkbar, aber keine wechselseitige Eskalation, wie sie 1914 stattfand. Einen Zwangsmechanismus, der vom Souveränitäts-Streben zum Hegemonie-Streben führt, gibt es nicht. Es ist also nicht richtig, den 1. Weltkrieg zum Anlass zu nehmen, den Nationalstaat als solchen für gefährlich zu erklären und als Fehlentwicklung abzutun. Tatsächlich gefährlich sind übergreifende, globale Geltungsansprüche. Es geht also um eine Trennung zwischen Souveränität und Hegemonie. Das ist der Natur der Sache nach eine Begrenzungsarbeit. Diese Arbeit ist jedoch gar nicht ausschließlich und besonders für Nationalstaaten an. Falsche äußere Geltungsansprüche können auch von übernationalen Staatenbünden erhoben werden. Die Europäische Union ist also nicht schon deshalb über jede Gefahr erhaben, weil sie ein übernationaler Verbund ist.

 

Marxistisch-leninistische Einschüchterungen – Den systematischen Versuch, einen Zwangsmechanismus zwischen nationaler Staatlichkeit und Weltkriegstendenz in den Köpfen zu verankern, hat der Marxismus-Leninismus gemacht. Dabei spielt die Behauptung, dass die kapitalistische Marktwirtschaft auf einen Zusammenbruch hinausläuft und im Zulaufen auf den Abgrund die Neigung zum kriegerischen Ausweg unaufhaltsam wächst, die entscheidende Rolle. Der Schluss von begrenzten Einheiten (Kapital, Nationalstaat) auf zerstörerische Außenbeziehungen gehört zum Grundarsenal des Marxismus. Er hat damit zu tun, dass im Theoriekomplex des Marxismus Grenzen im starken Sinn gar nicht gedacht werden können. Seine Geschichtsvorstellung läuft auf ein unbegrenztes Allgemeines hinaus.

 

Wie die Neoliberalismus-Kritik funktioniert – Auf der Unterstellung eines Zwangsmechanismus beruht auch jene Weltkritik, die mit dem Prangerwort „Neoliberalismus“ arbeitet. Sie unterstellt eine zwingende Verbindung zwischen jedem Pluralismus unabhängiger Einheiten und der Entstehung von Krieg, Unterdrückung und Ausbeutung.

 

Der anachronistische Krieg – Auf merkwürdige Weise versteift sich das politische Gedenken an 1914 auf den innereuropäischen Konflikt, insbesondere auf das deutsch-französische Verhältnis. Hier hält man besondere Verbrüderungsgesten für angebracht und beschwört den großen Unterschied zwischen der kerneuropäischen Welt von 1914 und 2014. Das steht auffällig im Gegensatz zu vielen Forschungsergebnissen, die sich in den jüngst erschienenen historischen Büchern finden. Sie zeigen, dass der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland (auch zwischen England und Deutschland) eigentlich „falsch“ war und sich keineswegs logisch aus wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen Gegensätzen ergab. Gewiss gab es Verschiebungen der Kräfteverhältnisse, aber sie waren keine existenzielle Bedrohung für die irgendeinen der Nationalstaaten in Europa. Verglichen mit der Situation 1814 war Europa pluralistischer, die Ansprüche gegenüber fremden Besitzständen waren begrenzter, die gegenseitige Akzeptanz war im Grundsatz erreicht. Ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich ist nicht erst 2014 ein Anachronismus – er war es schon 1914. Man wird dem Verhältnis beider Länder nicht gerecht, wenn man so tut, als habe es die „Erbfeindschaft“ 1914 noch in vollem Umfang gegeben. Wenn heute ein solcher Unterschied zwischen einer „bösen“ alten Zeit und einer ganz neuen „guten“ Zeit gemacht wird, erweckt das den Verdacht, bestimmten politischen Interessen der Gegenwart zu dienen – zum Beispiel die Europäische Union, deren neuere Entwicklung in wachsendem Maß kritisiert wird, in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Eine politische Klasse, deren wesentliche Geschäftsgrundlage und Legitimationsform an die EU gebunden ist, versucht hier der Öffentlichkeit die These einzuprägen, dass die Europäische Union die entscheidende „Sicherung gegen Verirrung und Verführung“ (vgl. FAZ v. 4.8.14) sei. Da ist es gut, dass die historische Forschung – insbesondere auch die britische und die deutsche historische Forschung – gerade in diesem Jahr 2014 einige kluge Bücher auf den Markt gebracht hat.

 

Der komplexe Krieg – Der erste Weltkrieg ist nicht in allen seinen Aspekten eine anachronistische Rückkehr zu Feindschaften, die im Grunde längst überholt waren (das war er als Krieg zwischen den etablierten Nationalstaaten in Europa). An der östlichen und südlichen Peripherie war er in Ursachen und Wirkungen komplexer. Hier spielte die Bildung neuer Nationalstaaten und die Auflösung bzw. der Rückbau überholter Reichsverbände (Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich) eine wichtige Rolle. Hier hatten regionale Kriegsereignisse eine pluralisierende Wirkung (obwohl sie historisch als Teilereignisse des „großen Kriegs“ und seiner immensen und sinnlosen Opfer geschahen und gar nicht auseinanderzurechnen sind). Gewiss kann man fragen, ob die Auflösung der alten Reiche nicht auf dem Weg „friedlicher Revolutionen“ hätte erfolgen können. Dann wäre der Verweis auf die pluralisierende Wirkung von Krieg menschenverachtend. Tatsächlich gibt es kein ehernes Gesetz, das verhindert, dass sich souveräne Einheiten ohne Krieg aus hegemonialen Zwangsverbänden („Völkergefängnisse“) lösen können. Doch ist Geburt eines neuen Nationalstaats ein so existenzieller Vorgang, dass er nicht auf die Zustimmung aller Seiten oder auf von allen anerkannte (Völker-)Rechtsgrundsätze rechnen kann. Die Geburt neuer Nationalstaaten greift meistens einseitig in den völkerrechtlich geschützten Status Quo der Grenzen ein. Es ist schwer vorstellbar, dass die Auflösung der alten Reiche zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz ohne kriegerische Handlungen hätte zustandekommen können. Noch ein Jahrhundert früher fand das Heilige Römische Reich Deutscher Nation unter durchaus kriegerischen Umständen ein Ende und auch der deutsche Neuanfang (man spricht von den „Befreiungskriegen“ gegen Napoleon) war mit Krieg verbunden. Allerdings ist der erste Weltkrieg viel stärker von hegemonialen Konflikten geprägt, die auch andere Konflikte an der europäischen Peripherie überborden.

 

Das Begrenzungsproblem (II) – Angesichts der Komplexität des Kriegs ist das realpolitische Bestreben, kriegerische Auseinandersetzungen einzuhegen und das Motiv der Souveränität vom Motiv der Hegemonie zu trennen, wichtiger als die absolute Lektion „Frieden statt Krieg“.

 

Gallipoli – Die Halbinsel Gallipoli liegt an der Seeverbindung zwischen dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer, den Dardanellen. Heute gehört sie zur Türkei, 1914 zum damals noch bestehenden osmanischen Reich. Hier befand sich eines der größten und opferreichsten Schlachtfelder des 1.Weltkriegs, das aber in der europäischen Wahrnehmung kaum präsent ist. An dieser Stelle überlagern sich unterschiedliche Aspekte des Krieges. In Gallipoli versuchte eine Streitmacht der Entente-Mächte, hauptsächlich aus Briten, Australiern, Neuseeländern, Franzosen vom Meer aus die Dardanellen und Istanbul zu erobern. Sie unterschätzten die Gegenwehr und verloren. Das osmanische Reich, mit den Mittelmächten verbündet, schien in der Folge noch einmal im Nahen Osten an Einfluss zu gewinnen, doch gewannen die Entente-Kräfte 1916 schließlich die Oberhand. Das Osmanische Reich fand sein Ende und nur wenige Jahre darauf entstand eine territorial enger begrenzte, säkularisierte Türkei. Dabei stand sicher die militärische Niederlage Pate, aber auch der militärische Sieg in der Abwehrschlacht von Gallipoli. Denn der dortige Befehlshaber war jener Kemal Atatürk gewesen, der dann zum Begründer einer moderneren Türkei wurde.

 

Über die pluralistische Auflösung geostrategischer Ziele – Ein Merkmal der Situation von 1914 ist, dass Souveränitätsansprüche immer sofort mit hegemonialen Ansprüchen vermischt waren und von ihnen instrumentalisiert wurden. Eine Staatenbildung erschien sofort als Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Hegemonialmächten und –ansprüchen. Das liegt nicht nur an einer subjektiven Hybris, sondern auch an einem objektiven Sachverhalt: Es gab einige geographische Zentralorte, Hauptstraßen, Lagerstätten von Rohstoffen, die neuralgische Punkte für das gesamte politische und wirtschaftliche Weltsystem bildeten. Wer sie besetzte, hatte tatsächlich Übergriffsmacht. Von daher spielten geostrategische Überlegungen eine große Rolle. Das ist in heutiger Zeit anders. Die Pluralisierung ist nicht nur in Hinsicht auf die Zahl der Staaten fortgeschritten, sondern auch in Hinsicht auf alternative Wegverbindungen und Zentralorte.

 

Wirkliche Problemzonen und Streitfragen – Auch für unsere Gegenwart ist die Frage von Krieg und Frieden nicht so leicht zu beantworten, wie es das Vorzeigemodell der deutsch-französischen Versöhnung suggeriert. Die Problemzonen des Jahres 2014 – Ukraine, Syrien, Irak, Afghanistan, Südchinesisches Meer – liegen nicht innerhalb der Europäischen Union. Ein „Friedensraum Europa“ hilft nicht weiter bei schwierigen Fragen, die sich in Bezug auf Interventionen in den wirklichen Problemzonen stellen. Hier gibt es echte Abwägungsfragen, unterhalb einer absoluten militärischen Enthaltsamkeit und auch diesseits einer generellen, ständigen, globalen Intervention. Zwei knifflige Entscheidungskomplexe: 1. Wie weit kann und darf man von außen den „Diktatorensturz“ in Ländern betreiben, die ihre nationale Souveränität gerade erst ausbilden? Die Gefahr, mit einer Intervention die ganze Staatsentwicklung zu zerstören und an der Entstehung von „failed states“ mitzuwirken, ist nicht von der Hand zu weisen (s. Libyen, Ägypten, Syrien, Irak). 2. Selbst wenn man eine Intervention für notwendig erachtet, bleibt die Frage, ob sie tatsächlich – im Gesamtspektrum der Gefahrenherde der Welt und angesichts begrenzter eigener Kräfte – geboten ist. Braucht man nicht eine Rangfolge der Dringlichkeit? Ist es wirklich sinnvoll den Konflikt mit Russland anzuheizen, wenn im Nahen Osten eine viele größere Gefahr besteht und man starke Kräfte und jeden möglichen Bündnispartner braucht? Es geht also um realpolitische Entscheidungen, die ganz wesentlich Begrenzungsentscheidungen sind – nicht Ja/Nein-Entscheidungen. Nachdem das Modell „humanitäre Militärintervention“ seine Schattenseiten  gezeigt hat und nicht mehr als Universalmodell gelten kann, ist die Begrenzungsentscheidung noch wichtiger und schwieriger geworden.

 

Außenpolitischer Maximalismus –  Seit Beginn des Jahres 2014 hat der deutsche Bundespräsident in zahlreichen Auftritten eine aktivere deutsche Außenpolitik gefordert und dieser Absicht dadurch Ausdruck verliehen, dass er – auf Auslandsbesuchen – Urteile über die richtige oder falsche Politik anderer Länder abgab (u.a. über die Politik Russlands gegenüber der Ukraine, oder über innenpolitische Maßnahmen der türkischen Regierung). Auf einer Gedenkveranstaltung zum Ausbruch des 1. Weltkriegs in Lüttich am 4.August hat Joachim Gauck zwei Sätze gesagt, die in ihrer Allgemeinheit eigentlich unproblematisch klingen – und es doch nicht sind: „Wir können nicht gleichgültig bleiben, wenn Menschenrechte missachtet werden, wenn Gewalt angedroht oder ausgeübt wird.“ „„Wir müssen aktiv eintreten für Freiheit und Recht, für Aufklärung und Toleranz, für Gerechtigkeit und Humanität“. Es ist gerade die Allgemeinheit dieser Aussagen, die – aus dem Mund eines Staatsoberhaupts – die problematisch ist. Denn die Gründe für ein Handeln, das die Grenzen des eigenen Staatswesens überschreitet, sind hier sehr allgemein und in der Form von Prinzipien formuliert. Was Freiheit und Recht, Aufklärung und Toleranz, Gerechtigkeit und Humanität betrifft, verletzt  die Realwirtschaft und Realstaatlichkeit der meisten Schwellenländer in vieler Hinsicht diesen Prinzipienkatalog. Mit anderen Worten: Hier werden sehr weitgehende, universelle Geltungsansprüche formuliert, und mit der Formel „aktiv eintreten“ werden sie als Interventionsansprüche formuliert. Und hier spricht nicht ein Literat, Wissenschaftler oder Kirchenmann, der sich unter einem aktiven Eintreten Erklärungen, Appelle und Dialoge vorstellt, sondern der Vertreter eines Staatswesens, der vor dem Hintergrund von organisierter Macht spricht, die sein Staatswesen auszeichnen. Joachim Gauck darf sich deshalb nicht wundern, wenn seine Worte leicht als übergriffig empfunden werden – insbesondere außerhalb des geschützten europäischen Raums. Sie bedeuten, gerade durch ihre vage, prinzipielle Formulierung, eine maximalistische Außenpolitik. Die guten Zwecke, die Gauck aufführt, machen seinen Maximalismus nicht besser. Denn für die betroffenen Staaten bedeuten sie auf jeden Fall eine Verletzung: Die Tatsache, dass Staaten historische Realitäten sind und die Regierung eines jeden Landes mit ihrem „krummen Holz“ regieren muss, wird nicht akzeptiert. Damit wird die Basis für internationale Kooperation verengt und das ist gegenwärtig nicht hilfreich. Es kommt in der heutigen Weltlage oft vor, dass ein höchstes Ziel gar nicht erreichbar ist und dass man manche Kröte schlucken muss, um eine zweitbeste Lösungen zu erreichen. Vorausgesetzt, dass man „aktive Außenpolitik“ so versteht, dass man etwas bewegen will (die Gauck-Formel „für etwas eintreten“ lässt das offen). Zum Beispiel steht Deutschland immer häufiger vor der Frage, ob es mit in vieler Hinsicht fragwürdigen  Regimen zusammenarbeitet, die nur eine gewisse Stabilität gewährleisten – und trotzdem besser sind als der Abgrund eines „scheiternden Staates“. Ein wirklich um Außenpolitik bemühter Bundespräsident täte gut daran, durch seine Stellungnahmen dieser Realpolitik zu dienen und auch der deutschen Öffentlichkeit auch ihren Sinn zu erklären.

 

Auf dem falschen Fuß erwischt – Ausgerechnet jetzt, wo man im Gedenken an 1914 das zur EU vereinte „Friedenseuropa“ herausstellen will, sind die europäischen Staaten – insbesondere Deutschland – vor militärische Fragen gestellt. In diesen Tagen muss Deutschland erstmals in seiner jüngeren Geschichte die Entscheidung treffen, ob es Waffen in Krisengenbiete an eine kriegführende Seite schickt (die Kurden im Irak). Und im Bürgerkrieg in der Ukraine hat sich Deutschland (unter maßgeblichen Einfluss der EU) von der strategischen Partnerschaft mit Russland verabschiedet und gerät dabei in eine neue Blockbildung im Osten Europas, die zu militärischen Auseinandersetzungen führen kann. Es geht nicht darum, dass man nun „das Gegenteil“ von Friedenspolitik empfehlen sollte, sondern darum, dass die aktuellen Fragen kleinteiliger bearbeitet werden müssen als im Generalmodus des Warnens vor der „Urkatastrophe von „1914“. Realpolitisch kann man für Waffenlieferungen an die Kurden sein und gleichzeitig heftig gegen jede Anheizung des Ukraine-Bürgerkriegs sein. Es gibt in beiden Konflikten keine prinzipielle Antwort, die man eventuell sogar aus einer „Lektion von 1914“ ableiten könnte.

 

Über die Instrumentalisierung historischer Ereignisse – Es tut auch dem Gedenken an 1914 nicht gut, wenn man allzu schnelle „Lektionen“ und Ableitungen für den Hausgebrauch der heutigen Politik versucht. Die Opfer eines historischen Geschehens haben ihre Würde unabhängig von den Lehren, die eine spätere Zeit eventuell aus dem Geschehen ziehen kann. Will man wirklich zunächst behaupten, das Sterben von Millionen Menschen sei „sinnlos“ gewesen, um es dann im Nachhinein durch ein „Wir haben davon gelernt“ doch noch dialektisch mit Sinn zu erfüllen? „Sinnlos“ und „sinnvoll“ sind in der Historie nur sehr begrenzt anwendbare Kategorien. Geschichte ist in letzter Instanz ein Geschehen, das die Menschen übersteigt. Aus dem Nacheinander der Zeit gibt es so wenig ein Entrinnen wie aus dem Nebeneinander des Raumes. Es gibt eine existenzielle Würde der Soldaten von 1914, die sie ganz unabhängig von „sinnvoll“ oder „sinnlos“ haben – vielleicht ist es das, was uns beim Besuch der schlichten, wortlosen Grabreihen auf einem Soldatenfriedhof nahegeht.