Der Sport und das „Sommermärchen“

Ob Olympische Spiele oder Fußball-EM – In diesem Sommer wurde immer wieder eine „gute Stimmung“ beschworen, für die auch der Sport zu in Dienst gestellt werden soll. Es ist daher höchste Zeit, sich mit dem zu beschäftigen, was der Sport ist und was er nicht ist. (Aus meinem Notizbuch)

Der Sport und das „Sommermärchen“

August 2024

In diesem Sommer 2024 haben sich die Dinge zu einem merkwürdigen Gegenüber entwickelt. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere europäische Länder. Und für die USA, wenn man an das merkwürdige Phänomen „Kamala Harris“ denkt. Auf der einen Seite wird alles auf die „Stimmung“ gesetzt. Gelingt es die Stimmung zum Guten zu wenden, wird alles gut. Also wird versucht, ein Klima der „Zuversicht“ zu erzeugen. Es ist ein Vorhaben, das auf Willen und Vorstellung gebaut ist, also einseitig auf das Subjektive. Demgegenüber konstituiert sich eine andere Seite, die alles auf die „Realität“ setzt. Dieser Realismus ist also nicht auf einen anderen Willen und andere Vorstellungen gebaut, sondern auf die Macht des Objektiven: auf einen „Ernst der Lage“, an dem die bloß subjektiven Stimmungskräfte der „Zuversicht“ versagen. Die Realisten müssen also nicht in einen Wettbewerb um die höherfliegenden Ziele und bunteren Erzählungen eintreten. Sie agieren auf einem ganz anderen Kampffeld: Dazu gehört freilich, dass der Ernst der Lage so stark wird, dass er nicht mehr übersehen und verdrängt werden kann. Für die Realisten hat nur das bleibenden Wert, was in Auseinandersetzung mit den Widrigkeiten und Knappheiten dieser Welt errungen ist. Der Realismus, so könnte man sagen, ist ein langsamer Geselle – verglichen mit der Leichtfüßigkeit der Stimmungsmacher.
Es findet also nicht ein einfaches Duell zwischen zwei Positionen statt, sondern eine Auseinandersetzung zwischen zwei ganz verschiedenen Kampf-Räumen und -Zeiten. Eine asymmetrische Auseinandersetzung. Eine Auseinandersetzung, die darum geht, welche „Arena“ sich durchsetzt. Es geht dabei um Verschiebungen, die den Beteiligten oft gar nicht ganz bewusst sind, sondern die sich hinter dem Rücken der Gesellschaft wie von unsichtbarer Hand vollziehen.

Über den Sport

Der Sport ist natürlich nicht repräsentativ für alle Probleme und die ganze Gegenwart eines Landes. Aber er ist ein interessanter Messpunkt, um den Stand der Auseinandersetzung zwischen „Stimmung“ und „Lage“ festzustellen. Um die Feinheiten von Frontverläufen und Frontverschiebungen erkennen zu können. Der Vorteil, wenn wir den Sport zum Beobachtungspunkt wählen, besteht darin, dass der Sport ein genuin physisches Feld eröffnet. Ein Feld physischer Auseinandersetzungen, Disziplinen, Arenen, Körpertechniken. In einer Welt, die sich uns heute meistens als Welt der Zeichen, Kommunikationen und Medien darstellt, bietet der Sport die Möglichkeit einer Gegenprobe: Hier kann man das Kommunikativen am Nicht-Kommunikativen messen, hier muss sich die Zeichenwelt in einer genuin anderen Welt bewähren. Sie hat sozusagen ein Auswärtsspiel.
Aber natürlich ist auch der Sport der Macht der Worte, der Zeichen, der Kommunikationen ausgesetzt und wird von dieser Macht oft überformt. Er wird zum „Medienereignis“, zum „Schauspiel“, zur Inszenierung, zum Anlass von immer längeren „Vorberichten“. Er wird ständig „besprochen“. Sportler werden ständig und rücksichtslos genötigt, ihr Tun und Erleben in Worte zu fassen – oft noch kurz vor oder nach ihrem Wettkampf. Und das hat auch Folgen für die Zusammensetzung des Publikums und seine Erwartungen. Man kann heute gar nicht davon ausgehen, dass bei allen Zuschauern wirklich das Erleben der physischen Auseinandersetzung – nicht nur mit dem Gegner, sondern vor allem mit den physischen Bedingungen und Schwierigkeiten ihrer Sportart – im Vordergrund steht. Viele erfreuen sich eher an der Schau, an der Begleitmusik, an den Lichteffekten, am Gemeinschaftserlebnis auf den Rängen.

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Die eigene Größe des Sports – Es soll hier nicht einfach Kulturkritik geübt werden, sondern der Blick für die spezifische Größe und Eigenlogik des Sports geschärft werden. Dazu gehört auch, ihn in seinen Mühen und Härten zu sehen. Und in seiner Begrenztheit. Er eignet sich nicht als Generalschlüssel zur Verbesserung der Welt oder zur Sanierung eines Landes. Zugleich soll der Blick für die verschiedenen, groben oder subtilen Besetzungen des Sports durch sportfremde Dinge geschärft werden. Dabei soll aber nicht einfach das Lied vom bösen „großen Geld“ und den bösen „Mammutveranstaltungen“ angestimmt werden. Manche Kritik an den Olympischen Spielen legt es ja nahe, solche Zentralereignisse am besten gar nicht mehr stattfinden zu lassen. Gerade in Deutschland hat in den vergangenen Jahren eine Kritik die Oberhand gewonnen, die – per Volksentscheid – Olympiabewerbungen von München oder Hamburg zu Fall gebracht hat. Das hatte wenig mit Sportsgeist zu tun, und viel mit einer Gleichheits-Ideologie, die nur noch ein provinzielles Klein-Klein zulassen mag. Die Anstrengungen und Einschränkungen, die eine sportliche Großveranstaltung jedem Veranstaltungsort abverlangt, können von diesem Standpunkt nicht mehr verstanden und akzeptiert werden. Das schlägt dann auf den Sport selbst zurück: Er darf dann nur noch irgendein ein „entspanntes Bewegen“ sein.

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Gesichter des Sports – „Geht auf den Platz und habt Spaß.“ Diese Devise ist in unserer Zeit des Öfteren als Ratschlag von Trainern an ihre Spieler zu hören. Auch mancher Sportler hat vor laufender Kamera schon geäußert, dass er einfach in den Wettkampf geht, und sich vornimmt, Spaß zu haben. Das hört sich gut an. Es ist wie eine Lockerungsübung. Und es passt ja zu einer der Grundhypothesen, die dies Land seit mehreren Jahrzehnten regieren: Dass man durch weniger Druck oder durch eine Belohnung, die der Leistung vorausgeht, eine höhere Leistungsmotivation erzeugt. Das wäre sozusagen die „Entspannungs-These“, die auch im Sport ihren Einfluss ausübt.
Doch sollte man einmal genau hinsehen, wenn Athleten unmittelbar vor einer Übung stehen. Wenn sie an den Start gehen. Oder wenn sie am Übergang zwischen verschiedenen Phasen einer Übung stehen. Ist ihr Gesichtsausdruck und ihre Körperhaltung wirklich entspannt? Besagt der Gesichtsausdruck eines Hochspringers, einer Turnerin am Schwebebalken, eines Paares Reiter-Pferd in der Dressur, eines Skirennläufers, einer Fußballerin wirklich, dass sie in diesem Moment „Spaß haben“? Nein. Gewiss ist es auch kein „Leiden“, das sich im Gesicht ausdrückt. Aber es ist Konzentration. Der sogenannte „Tunnel“, in dem der Athlet ist und sein muss, wenn er etwas erreichen will. Die Fokussierung auf ein bestimmtes, genau gesetztes Umschalten in einem Bewegungsablauf.

Über das Sommermärchen

„Plötzlich lächelt Paris“ steht in großen Lettern über einem ganzseitigen Artikel von Michaela Wiegel auf Seite 3 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. August 2024. Im Untertitel heißt es: „Frankreich erlebt sein Sommermärchen. Olympia verwandelt die Hauptstadt zum Besseren – wohl auch über die Dauer der Spiele hinaus.“ Es ist ein sehr großes Ansinnen, das hier einem doch relativ kurzen Ereignis zugeschrieben wird. Ein Lächeln also soll eine ganze Weltmetropole und nationale Hauptstadt zum Besseren verwandeln, und das „wohl auch“ nachhaltig über den Tag hinaus. In dem Artikel schreibt Wiegel:
„Schon jetzt steht fest, dass Paris ein Sommermärchen erlebt hat. Das besteht nicht nur im allgegenwärtigen Lächeln – ungewöhnlich genug in Paris – oder in den vielen Medaillen. Sondern auch in dem wiederentdeckten Stolz darauf, eine bunte und tolerante Stadt zu sein. Zahlreiche Sportler mit Migrationshintergrund haben in den vergangenen zwei Wochen die zentralen Plätze der Stadt in Szene gesetzt: als Fechter im Grand Palais, als Schützen am Invalidendom, als Skateboarder am Concorde-Platz. Sie haben nicht nur das alte Paris erstrahlen lassen. Die Stadt hat auch neue Bauten hinzugewonnen, die Olympia überdauern werden, etwa das olympische Dorf und eine Schwimmhalle, vor allem aber neue Metrostationen in der Banlieue. Sie sollen das Zentrum von Paris auch im übertragenen Sinn besser mit den Außenbezirken verbinden. Das Sommermärchen, so hoffen in diesen Tagen viele Pariser, könnte die Stadt nachhaltig zum Besseren verändern.“

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Am Ende dieses Artikels hält es die Autorin für angebracht, die Pariser Bürgermeisterin Hidalgo zu Wort kommen zu lassen. Sie hat sozusagen das Schlusswort des „Sommermärchens“:
„Noch größer ist die Freude der 65-jährigen Bürgermeisterin darüber, dass die Spiele wie eine fröhliche Absage an die Rechtspopulisten wirken. `Es passiert etwas unglaublich Positives. Man kann sich daran erfreuen, Menschen zu treffen, die anders sind als man selbst´, sagt sie. Die Botschaft der extremen Rechten, ist sie überzeugt, sei durch die Olympischen Spiele zertrümmert worden.“
Damit endet der Artikel, der unter der Überschrift steht „Plötzlich lächelt Paris“. Dies Verbindung ist bemerkenswert. Es geht um ein Lächeln, das zertrümmert. Wie geht das, fragt man sich. Es geht dadurch, dass es ein demonstrativ ignorierendes, ausschließendes Lächeln ist. Dies schließt alles aus, was den Ernst der Lage – auch in Paris, auch in Frankreich – ausmacht. Wer von diesem Ernst spricht, statt in das Lächeln miteinzustimmen, ist ein böser, kranker Extremist. Das “Lächeln“ wird hier zu einem hochangestrengten, hässlichen Grinsen. Pamela Harris lässt grüßen.

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Man könnte es vielleicht auch so ausdrücken: Je weitläufiger die Wirkungen des Sports beschworen werden, umso weniger bleibt von seinem Kern und seiner eigenen Größe übrig.

Zur Eigenlogik des Sports

Die immer häufigere Subsumierung des Sports unter sportfremde Maßstäbe stellen mit wachsender Dringlichkeit die Aufgabe, das präziser zu fassen und hervorzuheben, was die Eigenart des Sports ausmacht und ihn von anderen Zivilisations-Bereichen unterscheidet.
Der ist Sport wird bestimmt von einem Antagonismus. Dem Antagonismus zwischen sehr begrenzten körperlichen Anlagen und Kräften eines endlichen Wesens und den unvergleichlich größeren, niemals völlig beherrschbaren Anlagen und Kräften der äußeren Natur. Der Sport ist dabei nicht darauf angelegt, diese äußeren Kräfte möglichst weitgehend durch technische Mittel zu überwinden. Seine Rationalität und sein Reiz unterscheiden sich von der technischen Rationalität. Wenn ich mich schnell bewegen will, kann ich das Auto nehmen. Wenn ich hochhinaus will, kann ich einen Fahrstuhl nehmen. Aber im Sport tue ich genau das nicht. Er ist gewissermaßen eine „Zelebration der Schwäche“. Seine Regeln sind darauf angelegt, den menschlichen Körper in gewissem Sinn zu „entblößen“. Und auf die Macht technischer Hilfsmittel zu verzichten. Gewiss werden Laufschuhe und Fußballschuhe, Turngeräte und Turnmatten, die Stäbe des Stabhochsprungs, die Ruderboote, die Biathlon-Gewehre ständig weiterentwickelt. Aber der Grundkonstellation des Sports haftet doch auch etwas Archaisches an.
Man tut dem Sport keinen Gefallen, wenn man ihm eine Logik der grenzenlosen Steigerung der Leistungen unterstellt und die Rekordjagd zum Hauptanreiz für die Sportler erklärt – also das „schneller, höher, weiter“. Das Feld des Sports bietet in dieser Hinsicht kein grenzenloses Wachstum. Er strebt auch nicht nach einer Position immer größerer oder gar „unantastbarer“ Überlegenheit. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass der Wert des Sports nicht in einem bestimmten Endresultat liegt, sondern in der physischen Auseinandersetzung selbst, im „antagonistischen Moment“. Im Sport wird nach Toren, nach gemeisterten Höhen, nach schnelleren Zeiten gestrebt. Aber nie nach etwas Endgültigem. Der Antagonismus soll hier nicht aufgehoben werden. Er soll immer neu eröffnet werden können. Er soll fortbestehen.

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Der antagonistische Moment und die Photographie – Wie kann man sich diesen Moment vorstellen? Wie wird er fassbar? Walter Benjamin hat sich in seinem Essay „Kleine Geschichte der Photographie“ (1931) mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Technik der Photographie – im Gegensatz zur Malerei – nur mechanisch genaue Abbilder der Realität produzieren kann? Oder ob sie eine zusätzliche, magische Realität eröffnet, die dem menschlichen Auge vorher unzugänglich war. Benjamin neigt dieser zweiten Auffassung zu, und in seiner Begründung findet sich folgende Passage:
„Hat man sich lange genug über so ein Bild (eine Photographie, GH) vertieft, erkennt man, wie sehr auch hier die Gegensätze sich berühren: die exakteste Technik kann ihren Hervorbringungen einen magischen Wert geben, wie für uns ihn ein gemaltes Bild nie mehr besitzen kann. Aller Kunstfertigkeit des Photographen und aller Planmäßigkeit in der Haltung seines Modells zum Trotz fühlt der Beschauer unwiderstehlich den Zwang, in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchgesengt hat…
Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, dass an die Stelle eines vom Menschen mit Bewusstsein durchwirkten Raums ein unbewusst durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, dass einer sich vom Gang der Leute Rechenschaft gibt, sei es auch nur im Groben, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des Ausschreitens. Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln – Zeitlupen, Vergrößerungen – erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewussten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewussten durch die Psychoanalyse.“
Das „Fünkchen Zufall“, mit dem die Wirklichkeit die Fotographie „durchsengt“ hat, ist auch in der Sportphotographie am Werk. Sie kann den antagonistischen Moment festhalten, der oft nicht unmittelbar für unsere Augen zugänglich ist. Unseren Augen entgeht ein Teil der Realität, oft ein starker, beeindruckender, magischer Teil. Die Sportphotographie öffnet uns einen Zugang. Sie hat unsere Welt größer gemacht. Wir können ihr dankbar sein. Dabei liefert die Photographie keine „Konstrukte“. Diesen Moment im Sprung, im Kampf um den Ball, im Ruderboot, in der Erschöpfung nach der Zielankunft konnte niemand bewusst so hinstellen. Doch gerade dieser Unplanbarkeit macht das Bild authentisch. Es verleiht ihm eine Wirkungsmacht, die dann ihrerseits den Betrachter „durchsengt“.

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Erinnerung, sprich – In ziemlich früher Jugend habe ich die „Sportillustrierte“ entdeckt. Sie wurde meine Lieblingslektüre. Vor allem die großen Photographien von Wettkampf-Szenen. Wie habe ich manche Bilder angestaunt! Was für eine Welt tat sich da auf.

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Der Ernst des Sports (I) – Der Sport hat seine eigene Härte. Seine eigene Unerbittlichkeit. Schummeln ist ehrlos. Und erst recht Doping. Die Härte liegt aber auch im Zwang zum Resultat. Der „gute Willen“ allein zählt nicht. Man muss tatsächlich Tore schießen. Man muss eine Höhe beim Hochsprung tatsächlich bezwingen. Wenn man nur irgendwelche Gesten macht, irgendwie herumhampelt und bloß „viel Bewegung“ demonstriert, macht das im sportlichen Sinn nicht satt. Die Spannung des Gelingens oder Nicht-Gelingens ist immer präsent. Das ist der Ernst des Sports und unterscheidet ihn vom Kinderspiel.

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Der Ernst des Sports (II) – Aber diese Spannung des Gelingens oder Nicht-Gelingens ist nicht von einem besonders hohen Niveau abhängig. Man braucht keinen Spitzensport oder Olympiasieg, um es zu erfahren. Man kann es auch bei einer Kreismeisterschaft, bei der man nur einen zweiten Platz erringt, haben. Die Magie des Sports gibt es auf jedem Niveau. Aber all das wird sofort zunichte gemacht, wenn man auf einmal anfängt, die Anforderungen für eine sportliche Leistung ganz zu streichen – und einfach gratis Urkunden, Auszeichnungen und Beifall zu spenden. Mit solcher „Pädagogik“ erniedrigt man die Athleten, deren Leistungen sich auf niedrigerem Niveau bewegen. Und man stiehlt insbesondere Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit, kleine Kraftproben wirklich zu bestehen und etwas wirklich selbst – ohne fremdes Zutun – zu erringen.

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Das Training – Zum Ernst des Sports gehört auch das Training. Wenn die Leistung nur ohne große technische Mittel herbeigeführt werden kann, und wenn sie nicht durch fremde Hilfe und durch vorschnellen und beschönigenden Beifall ersetzt werden kann, bekommt das Üben eine wichtige Rolle. Die sportliche Leistung fällt nicht vom Himmel. Sie ist kein Geniestreich. Sie wird nicht „im Kopf“ gewonnen. Sie muss durch Trainingsfleiß erworben werden. Beim Training ist der Reiz des Wettkampfes nicht unmittelbar gegeben. Training ist eine Wiederholungs-Aufgabe. Nur so können Muskeln, Sehnen und Knochen aufgebaut werden. Nur so können Bewegungsabläufe eingeübt werden. Manch Ahnungsloser spricht da von stupider Arbeit. Und sogar – wenn es um junge Leute geht – von „Kinderarbeit“. Aber man lernt hier den Wert des Wiederholens kennen. Und das ist keine Selbstverständlichkeit in einer Zeit, die so tut, als könne man jeden Tag „innovativ“ und „kreativ“ sein. Und jede Wiederholung sei daher stupide Zeitverschwendung für „Verlierer“.

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Über Fairness – Es ist bemerkenswert, dass die Athleten, die sich gerade in einem harten Wettkampf miteinander befunden haben, aufeinander zugehen können und sich gegenseitig Respekt und Mitgefühl entgegenbringen. Der Sport muss also ein Element enthalten, das die Athleten einander nahebringt. Und dies Element kann nicht in einer kommunikativen Verständigung liegen. Ich denke, diese Nähe liegt in der – oben beschriebenen – Situation der Schwäche, die jede Sportart auf ihrer Weise herstellt: Dass die Athleten es immer mit unvergleichlich größeren äußeren Kräften und schwierigen Bedingungen zu tun haben, denen sie mit sehr beschränkten Mitteln gegenübertreten. Angesichts der gemeinsam erfahrenen „Blöße“, der sich alle unterwerfen, relativieren sich die Gegensätze zwischen den Athleten. Das ist eine starke Basis für Fairness.
Für diese Erklärung spricht auch, dass die Zuschauer sehr viel weniger zu dieser Fairness neigen, obwohl sie doch nicht so direkt am Wettkampf beteiligt sind wie die Sportler. Aber von den Zuschauerrängen ist des Öfteren zu hören, dass Fehlleistungen eines „gegnerischen“ Athleten mit höhnischem Jubel bedacht werden. Dagegen ist es wirklich sehr selten, dass eine solche Verhöhnung zwischen gegnerischen Sportlern auf der Laufbahn, auf dem Fußball-Platz, am Turngerät oder auf einer Ruderstrecke stattfindet. Oder bei einer Siegerehrung. Aber die geringere Fairness der Zuschauer ist eigentlich logisch: Sie sind ja nicht der sportlichen Grundsituation der Schwäche und Blöße ausgesetzt.

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Eine Begebenheit beim Pariser Marathonlauf – In der FAZ vom 12.8.2024 berichtet Alfons Kaiser von einer Begebenheit beim olympischen Marathonlauf. Der Titel lautet „Ein König ohne Socken“. Es geschah an der 30-Kilometer-Marke. Eliud Kipchoge aus Kenia ist zweifacher Olympiasieger und einer der Großen des Langstreckenlaufs. Aber an der 30-Kilometer-Marke musste er wegen starker Unterleibsschmerzen („Seitenstiche“) anhalten. Den Kontakt zur Spitze des Läuferfeldes hatte er schon vorher verloren, nun zog das übrige Feld vorbei. Er musste aufgeben. Aber er wurde nicht sofort von Helfern betreut und mitgenommen. Sondern er stand ganz alleine da. Das folgende berichtet Alfons Kaiser so:
„Eliud Kipchoge schaut nach hinten, aber niemand kommt, zwei, vier, sieben Minuten lang. Das Rufen und Klatschen (des Publikums am Straßenrand, GH), das „allez, allez!“ ebbt langsam ab, und es wird peinlich still. Er steht da ganz allein, blickt ins Nirgendwo, damit er niemand anschauen muss, einige haben Tränen in den Augen. Einer löst die Stimmung und ruft frech: „Gib mir dein Namensschild!“ Eliud Kipchoge reißt wirklich sein Namensschild vom Rücken und reicht es über das Gitter, jetzt ist der Marathon für ihn wohl offiziell beendet. Niemand fragt, warum er den Lauf unterbrochen hat. Erst später wird er von Problemen an der Taille sprechen, also vermutlich von Seitenstechen… An der Route des Gardes versuchen sie es mit Aufmunterung. Einer ruft: „Bitte die Schuhe!“ Und wirklich: Er reicht erst einen Schuh, dann den anderen hinüber. Und dann kommt doch noch ein offizieller Wagen, erhält an, ein weißer Van, kein Taxi, wie es später heißen wird. Eliud Kipchoge zieht seine Socken aus, gibt sie auch noch ins Publikum, steigt ein und lässt sich wegfahren. Ein König ohne Krone. Und ohne Socken.“
Es ist gut, dass der Journalist diese Szene aufgeschrieben hat. Aber wie falsch klingt der Schluss (und der Titel) der Geschichte. Der Ausdruck „Ein König ohne Socken“ klingt fast hämisch, angesichts des Scheiterns und der plötzlichen Einsamkeit eines großen Athleten. Er verfehlt ganz die Tragik des Geschehens. Und mehr noch: Er verfehlt die Grausamkeit dessen, was sich zwischen einem Teil des Publikums und dem Läufer abgespielt hat. Da gibt es Zuschauer, die die Situation ausnutzen, um sich das Namensschild, die Schuhe und die Socken des erschöpften Athleten unter den Nagel reißen. Wohl als „Andenken“, als Trophäe, mit der sie dann prahlen können. Was für ein erbärmlicher Triumph von Zuschauern, die sich wohl als die wahren „Könige“ des Geschehens fühlen, und die Athleten wie Dienstpersonal behandeln, das zu ihrer Unterhaltung da ist.

Eine magere Sport-Bilanz und viel sportfernes Gerede

Nach Abschluss der Olympischen Spiele in Paris fiel die sportliche Bilanz Deutschlands nicht sehr großartig aus. Sie blieb hinter den Erwartungen zurück. Man kann hier die Medaillenbilanz anführen – Deutschland landete auf Platz 10 der Teilnehmernationen. Dabei fiel auf, das nicht nur sehr große Nationen wie die USA und China vor Deutschland rangierten, auch nicht nur das Gastgeberland Frankreich, sondern auch mittlere und kleinere Nationen wie Großbritannien und die Niederlande. Aber es ging nicht nur um die Medaillen-Ränge. Es fiel auch auf, dass Deutschland in elementaren Sportbereichen wie Leichtathletik, Schwimmen und Turnen in vielen Disziplinen nicht einmal in die Endkämpfe vordrang. Beim Laufen, Springen und Werfen – sozusagen olympische „Grundfächer“ – ist dies Land zweit- und drittklassig geworden. Wie wird dieser „Ernst der Lage“ des Sports in Deutschland reflektiert? Wird er überhaupt zur Kenntnis genommen?

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„Freie Entfaltung“ ist keine Sportart – In der FAZ vom 13. August 2024 steht ein Kommentar von Anno Hecker mit der Überschrift „Was Paris lehrt“. Der Autor will eine ganz andere Grundorientierung. Was er schreibt, trifft nicht nur einen zu engen Leistungsbegriff, sondern überhaupt den Leistungsbegriff im Sport:
„Hinter der Idee des Spitzensports muss in erster Linie etwas anderes stecken als die Fixierung auf Medaillenbringen. Von Anfang an allein die Idee, talentierten Menschen die Chance zu bieten, sich frei entfalten zu können. Dass es dazu leider nicht so oft kommt, wie es möglich wäre, liegt vor allem an einer Geringschätzung des Sports im Alltag. Er spielt keine Rolle in der Bildungspolitik, er ist ein Streichkandidat in der Schule.“
„Wer unbedingt Medaillen will, wird sie bekommen, sobald er versteht, wo der Weg beginnt und wo er so professionell, so einfühlsam und klug wie nur möglich begleitet werden muss: bei dem Versuch, Kinder für ein lebenslanges Bewegen zu gewinnen.“
Die Bedeutung des Schulsports möchte man gerne unterschreiben, auch wenn nach meinen Erfahrungen der Sportunterricht für die sportlichen Kinder zu wenig bietet, und die Arbeit von Sportvereinen unentbehrlich ist, wo dem Leistungsbedürfnis der Kinder Nahrung gegeben werden kann, damit es nicht verhungert. Doch beim Autor kommt das Wort „Leistungsbedürfnis“ nicht vor. Wenn es um Leistung geht, geht es ja um ein Messen, das jeweils nach Sportart genau bestimmt werden muss, um nicht bloß bei irgendeinem beliebigen Herumgehüpfe stehenzubleiben. Es ist ja gerade der „Ernst“ von Höhe, Weite, Zeit, der den Sport für Kinder reizvoll macht. Erfolgserlebnisse bei Sport gibt es nicht gratis. Sie wollen errungen sein. Gerade dadurch ist der Sport als anspruchsvoller Ort, an dem man die eigene Wirklichkeit ausprobieren kann, so reizvoll und wertvoll. Doch an diesem entscheidenden Punkt gleitet der Autor in das Vokabular jener pädagogischen „Wende“, die in Deutschland in den 1960er Jahren begann und heute im Umgang mit Kindheit und Jugend dominant ist. Da finden wir das „sich frei entfalten können“. Und zugleich fordert der Autor auch etwas, was das glatte Gegenteil von freier Entfaltung ist: eine hochkomplexe, fürsorgliche und entsprechend bevormundende Betreuung, mit der normale Eltern und Vereinslehrer überfordert sind. Es muss eine „Begleitung“ geben, die „so professionell“, „so einfühlsam“ und „so klug“ ist „wie nur irgend möglich“. Da werden Enttäuschungen, die zu jeder wahren Freiheit gehören (und daher auch zu jedem Kinder- und Jugendsport), zum Tabu. Und schon soll da eine leitende Hand installiert werden, die alle Enttäuschungen von den Kindern fernhalten soll und deshalb in jedem Augenblick wachen muss.

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Über eine Alibi-Formel: „Menschen bewegen“ – Einen Tag vorher hatte derselbe Autor in einem bilanzierenden Leitartikel unter der Überschrift „Paris hat bewegt“ (in der FAZ vom 12.8.2024) geschrieben: „Das Beste der Olympischen Spiele ist ihre Kraft, Menschen zu bewegen. Paris hat bewegt.“ Aber geht es bei diesem „Bewegen“ wirklich um Sport? Die Sommerwochen von Paris waren ja in einem großen Maße eine Inszenierung, ein Schauspiel, ein großes Theater. Und das war ja auch die Grundlage, auf der Olympischen Spiele mit dem Stadtraum von Paris verbunden wurden. Sie wurden „urbanisiert“, aber im gleichen Atemzug wurden sowohl der Sport als auch die Stadt „theatralisiert“, also zu einer großen Schauveranstaltung. In den Worten von Anno Hecker:
„Das tägliche Drama des Weltsport-Theaters eint die Sommerspiele, egal wo sie stattfinden. Aber in Paris ließ sich etwas Neues beobachten: Die Urbanisierung der Spiele, ihre Einbettung in das Leben einer pulsierenden Weltstadt. Sie fanden nicht überwiegend eingepfercht in einem schönen Park statt wie in Englands Hauptstadt, nicht auf einem riesigen Parkplatz hinter dem Berg von Copacabana. Paris öffnete sich, platzierte den Sport da, wo man gern und mal eben hingeht, an die schönsten Plätze, die berühmtesten Monumente.“
Das Bild der Einbettung von Olympia in das Leben „einer pulsierenden Weltstadt“ ist dabei irreführend. Es war die Sondersituation eines in den Ferien entvölkerten Paris (die Beschäftigten, die keinen Urlaub hatten, wurden gebeten, sich nach Möglichkeit ins Home-Office zurückzuziehen). Ein zentraler Mittelkorridor der Stadt war für den motorisierten Verkehr gesperrt. Das war für die Spiele nicht anders möglich, aber kann kein Dauerzustand einer „pulsierenden“ Weltstadt sein. Zugleich bot die „Urbanisierung“ nur selten Gelegenheit, die Sportler in ihrer Aktion wirklich aus einer größeren Nähe zu sehen. Man war doch wieder auf große Bildschirme angewiesen. Die Symbiose stieß also auf Grenzen – sowohl von der Seite des Sports als auch von der Seite der realen Stadtabläufe. Eine moderne Großstadt ist eben keine Theater-Vorstellung, keine Bühne, auf die man dann bloß die Olympischen Spiele als besonderes Bühnenstück zu stellen braucht. Das Pulsieren ist realer als eine Bühne. Eine Großstadt ist eine physische Maschine.
Aber das „Menschen bewegen“, das Hecker in den Mittelpunkt seiner Bilanz stellt, ist eben weder genuin sportlich noch genuin großstädtisch. Er spricht von einem „Bild der Bilder“, das die gelungene Verbindung von den Spielen und Paris exemplarisch zeigt. Es ist das Bild „…von einem traumhaften Spiel im Beachvolleyball-Stadion am Fuße des Eiffelturms im Abendlicht der untergehenden Sonne“. Wenn er von „Menschen bewegen“ schreibt, beschwört er also im Grunde eine Atmosphäre. Eine Stimmung.

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Die Fußball-EM in Deutschland: Der Bundestrainer als „Bundestherapeut“ – Diese Indienstnahme eines Sportereignisses führt zurück zu einem anderen Sportereignis: der Fußball Europameisterschaft, die im Juni/Juli 2024 in Deutschland stattfand. Hier stand die Aufgabe im Raum, einen „Stimmungsumschwung“ im krisenhaften Deutschland herbeizuführen. Man hoffte auf eine positive „Bewegung“, auf ein neues „Sommermärchen“, dass das Auftreten der deutschen Nationalelf vor eigenem Publikum auslösen sollte. Und der Bundestrainer Julian Nagelsmann sollte dabei eine Schlüsselrolle spielen. Unter dem Titel „Der Bundestherapeut“ schrieb Christian Kamp im Sportteil der FAZ am 1.7.2024 in einem Kommentar folgendes:
„Julian Nagelsmann stand vor einer gewaltigen Aufgabe, als er den Posten übernahm, nicht zuletzt wegen der Hypothek des fortwährenden Scheiterns unter seinen Vorgängern. Dass seine Mannschaft es geschafft hat, diesen Ballast loszuwerden und Fußball nicht mehr als Kampf gegen die Dämonen, sondern wieder als lustvolles Spiel zu begreifen, ist zu großen Teilen sein Verdienst: Der Bundestrainer als Bundestherapeut.“
Diese Lobeshymne wurde nach dem Dänemark-Spiel verfasst, das auf dem Platz freilich nur um Haaresbreite und durch Mithilfe eines (gar nicht so sportlichen) „Videobeweises“ gewonnen und nicht verloren wurde. Aber wo es um Stimmungen geht, spielt der tatsächliche Spielverlauf auf dem Platz nur eine Nebenrolle. Auf dem Feld der Stimmungen können dann alle möglichen Wirkungen beschworen werden, vor allem eine Wirkung auf das Gesellschafts-Ganze. So verliert sowohl der Sport als auch die Politik ihre jeweils eigene Besonderheit und Wirksamkeit. Alles wird nun irgendwie zu einer Angelegenheit von Therapie. Seelen-Coaching und Pädagogik. Und der Bundestrainer spielt mit. Nagelsmann erklärte am 6.7.2024 auf einer Pressekonferenz:
„Es gab eine Symbiose zwischen der Mannschaft und den Menschen im Land. Und ich hoffe, dass wir es auch nachhaltig hinkriegen, diese Symbiose in weit wichtigeren Dingen fortzusetzen.“
Zu diesem Zeitpunkt war die deutsche Nationalmannschaft nach einer Niederlage gegen Spanien bereits aus dem Turnier ausgeschieden. Aber auf der Stimmungsebene konnte die Deutschland-Therapie unverdrossen weitergeführt werden. Und auch Christopher Melzer von der FAZ spielte dies Spiel mit:
„Es ist durch die Niederlage gegen Spanien dann doch nicht der ganz große Sommer der Nationalmannschaft geworden, aber dafür etwas, was genauso wertvoll ist: Es ist der Sommer geworden, in dem die Menschen in Deutschland glauben und hoffen, dass es wieder der ganz große Sommer der Nationalmannschaft werden kann.“
So war das Land nun weiter auf „Glauben und Hoffen“ verwiesen.

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„Viel bewegt, weniger erreicht“ – Doch damit wollte sich dann doch nicht jeder zufriedengeben. „Viel bewegt, weniger erreicht.“ lautete die Überschrift über einem Kommentar zum Abschneiden der Nationalmannschaft, den der ehemalige Trainer des FC St. Pauli, Fabian Hürzeler, in der FAZ vom 8.7.2024 geschrieben hat. Bei Hürzeler gibt es also noch den Wert realer Resultate. Und prompt klingt das „viel bewegt“ ziemlich peinlich.

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Und das deutsche „Sommermärchen“ von 2006? – Bei so viel deutscher Beschwörung einer „Sommermärchens“ ist vielleicht eine kleine Anmerkung zur realen Wirksamkeit dieses Märchens angebracht. Man sollte ja meinen, in Deutschland sei nach dem Sommer 2006 eine riesige Aufbruchstimmung ausgebrochen. Es wären alle möglichen Hindernisse und opportunistische Kleinmütigkeiten beiseite gefegt worden. Weit gefehlt! Es begannen die Merkel-Jahre, in denen nichts Großes mehr bewegt werden konnte. Die Schuldenkrise in Europa? Durch faule Kompromisse verschleppt. Ein fernes Erdbeben in Japan, führt zum Atomausstieg in Deutschland. Migrantenströme zurückweisen? Auf keinen Fall, denn das gibt nur böse Bilder. Aber wenigstens eine Olympia-Bewerbung, wo doch die Fußball-WM 2006 ein so großer Erfolg war? Oh nein, nicht mal das. Wurde per Bürgerbefragung abgelehnt. Und man stelle sich vor, die Deutschen würden jetzt so viele Deutschland-Fahnen zeigen wie 2006. Nicht auszudenken! Das würde sofort als „Rechtsruck“ niedergeschrieben und man müsste darum fürchten, dass Autos mit Schwarz-Rot-Gold-Wimpeln plattgemacht würden…

Mit anderen Worten: „Sommermärchen“ sind ungeeignet, etwas am Ernst der Lage des Sports in Deutschland zu ändern. Und erst recht ungeeignet, den Ernst der Lage des Landes insgesamt zu ändern.


Hier drei ältere Essais des Autors zu Sport-Dingen:

2009-8 Kleine Philosophie des Sports
2012-8 Sportsgeist in London
2015-12 Olympia-Aus für Hamburg

Der Ernst der Lage

In diesem Herbst geht es nicht nur um parteipolitische Positionen, sondern um das ganze Feld der politischen Auseinandersetzung: Sollen die Stimmungen den Ausschlag geben oder die Realitäten?

Der Ernst der Lage

10. August 2024

In Deutschland gibt es gegenwärtig einen Unterschied, der in vielfältiger Form in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Auseinandersetzungen immer mitschwingt. Die einen sagen „Die Stimmung ist schlechter als die Lage“. Die anderen sagen „Die Lage ist schlechter als die Stimmung“. Diejenigen, die von ersterem ausgehen, neigen dazu, die Stimmung zu bearbeiten und sich um „bessere Stimmung“ bemühen. Das gilt besonders für diejenigen, die davon ausgehen, dass unsere Wirklichkeit sehr stark von Stimmungen regiert wird und mit Stimmungen auch bewältigt wird. Sie empfehlen der Nation jetzt „Zuversicht“ – in der Politik, in der Wirtschaft, aber auch im Sport, wie die bemühte Suche nach einem neuen „Sommermärchen“ bei der Fußball-EM gezeigt hat. Hingegen möchten diejenigen, die davon ausgehen, dass die Stimmung besser ist als die Lage, an der Lage etwas ändern. Sie gehen davon aus, dass Stimmungen zwar durchaus ihren Einfluss haben und auch immer sehr schnell zur Stelle sind, dass sich aber auf längere Sicht die Realitäten (die „harten Fakten“) durchsetzen. Aber es ist nicht so leicht, die Lage zu „bearbeiten“, denn diese Lage kann sehr festgefahren sein.
So ist in dem Unterschied zwischen Stimmung und Lage ein eigenartiger Wettstreit angelegt: Das Lager der Stimmungen wird profitieren, wenn die Mittel der schnellen Einflussnahme dominieren. Das Lager der Realisten wird gestärkt, wenn die Realität in Strukturen wirkt, die resistent gegen schnelle Einflussname sind und für Veränderungen erstmal Anpassungsleistungen erfordern. Dann kann es dazu kommen, dass bei Entscheidungen der „Ernst der Lage“ die Oberhand gewinnt – und das ist in Deutschland schon lange nicht mehr geschehen.

Eine „Erholung“, die sich immer weiter nach hinten verschiebt

Im März dieses Jahres sah ein Konjunktur-Kommentar von Patrick Welter (FAZ vom 23.3.2024) in der Verbesserung des Ifo-Geschäftsklima-Indexes noch einen „echten Hoffnungswert“. Die „deutliche Aufhellung“ des Indexes würde zeigen, dass „etwas in Bewegung gekommen ist“. Das damals verabschiedete „Wachstums-Chancen-Gesetz“ mit einem Entlastungsvolumen von 3,2 Milliarden Euro hielt Welter zwar für unzureichend, aber doch für einen „Schritt in die richtige Richtung“.
Einen Monat später stellte die FAZ (25.4.2024) die erste Seite ihres Wirtschaftsteils unter die Überschrift „Die Stimmung hellt sich auf“. Die Bundesregierung hob die Wachstumsprognose leicht an (0,3 Prozent statt 0,2 Prozent). 2025 sollte es dann ein Plus von 1 Prozent geben. Wer den Artikel genauer las, musste feststellen, dass bei der „Stimmung“ wieder die Zukunft über die Mühen der Gegenwart hinweghelfen musste. Der Ifo-Präsident Clemens Fuest wurde mit der Aussage zitiert, „dass die Verbesserung des Geschäftsklimas stark von den Erwartungen getrieben werden, nicht aber von der Einschätzung der gegenwärtigen Geschäftslage.“ Fuest wies auch auf eine „ausgeprägte Investitionsschwäche in der Industrie“ hin. Der Kommentar von Patrick Welter auf der gleichen Seite stand nun unter der Überschrift „Bruchstellen in der Zuversicht“. Dabei wurde auch eine außenwirtschaftliche Schwäche Deutschlands als Faktor genannt: Der Autor sah Anzeichen für eine „geoökonomische Spaltung der Welt“, die für die deutsche Wirtschaft zunehmende Schwierigkeiten und Verluste bedeuten könnte.
Und nun machen wir einen Sprung in den Juli 2024. Die FAZ vom 6.7.2024 resümierte die Lage mit einem ernüchternden „Die wirtschaftliche Erholung ist im Frühjahr ausgeblieben.“ Tags zuvor waren in der Zeitung gravierende Zahlen zu lesen: „Der Abwärtstrend im verarbeitenden Gewerbe hält seit 2022 unverändert an. Am Donnerstag kam die Nachricht, dass der Auftragseingang im Mai den fünften Monat in Folge gefallen ist…Insgesamt liegen die neuen Bestellungen 8,6 Prozent niedriger als vor einem Jahr.“ Und das grüne Wirtschaftswunder? Am 3. Juli war in der FAZ ein Artikel unter der Überschrift „Grün ist nur noch die Hoffnung“ erschienen. Angesichts immer neuer Meldungen von Entlassungen, Kurzarbeit und Firmenschließungen in den Bereichen, in denen durch grüne Produkte ein starkes Wachstum erwartet wurde, schrieb Julia Löhr: „Das grüne Jobwunder bleibt aus. Wird es hierzulande jemals kommen?“ In dem Artikel wird Joachim Rangnitz vom Ifo-Institut in Dresden mit der Aussage zitiert: „Offenbar gab es bei vielen Herstellern eine Fehleinschätzung zur Nachfrage“. Und weiter: „Selbst wenn die Nachfrage nach grünen Produkten wieder anzieht: Es ist nicht gesagt, dass diese dann aus deutscher Produktion kommen. Die Standortkosten sind zu hoch, die Produktivität der Betriebe ist zu gering.“
So verschiebt sich die Erholung der Wirtschaft immer weiter nach hinten. Das Warten wird immer mehr zur Hängepartie. Um da herauszukommen, muss das Land sich zu Entscheidungen durchringen. Dazu gehört ganz wesentlich: Es muss sich zu einem Urteil über den Ernst der Lage durchringen. Es geht dabei nicht um eine Beurteilung der Konjunkturlage, sondern es geht um Tiefenstrukturen, die darüber entscheiden, was Deutschland erwarten kann – nicht in einer fernen Zukunft, sondern in seiner Gegenwart.

Die Lage der Nation ernstnehmen

Schon vor gut einem Jahr erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Beitrag des Wirtschafts- und Sozialhistorikers Werner Plumpe mit dem Titel „Warten auf ein Wunder“ (FAZ vom 19.8.2023). Plumpe wendet sich gegen die Annahme, dass der Gang der Konjunktur über kurz oder lang die Dinge in Deutschland wieder zum Besseren wenden wird – weil dieser Konjunktur-Glaube davon ausgeht, dass hierzulande die Grundlagen gesund und stark sind: „Die Hoffnung, es werde schon gut gehen, das Land sei reich und seine Wirtschaft habe sich in der Vergangenheit doch durchaus resilient gezeigt, wie das Modewort heißt, ist nicht gut begründet.“ Plumpe fordert, der ökonomischen Realität „nüchtern ins Auge zu sehen“. Und dazu gehöre es, „die Auf- und Abschwünge nicht als isoliertes Phänomen zu betrachten… ihre Rhythmik sagt ja noch nicht sehr viel über die Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung aus“. Das Schlüsselwort ist hier „Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung“. Diese Richtung ist nur in längeren, also geschichtlichen Zeitrhythmen zu erkennen. „Geschichte“ heißt hier nicht etwas Vergangenes, sondern etwas in der Gegenwart Fortbestehendes. Und diese geschichtlich angereicherten Phasen können unterschiedlich ausfallen. Jedes Land hat starke und schwache, expansive und restriktive Phasen.
„Die deutsche wirtschaftshistorische Erfahrung der letzten 150 Jahre ist insofern überaus lehrreich. Es gab mittelfristige Abschwungphasen, in denen die rhythmischen Schwankungen deutlich schmerzhafter ausfielen (1870er- bis 1890er Jahre, die Zwischenkriegszeit) als in den Jahren des Aufschwungs seit 1895 oder in der Zeit nach 1945. Seit dem Krieg bis in die 1990er-Jahre hinein gab es zudem eine bestimmende Tatsache, die im Alltagsbewusstsein heute kaum präsent ist: Während die Wirtschaft mal schneller, mal langsamer wuchs und seit den 1970er-Jahren gelegentlich auch stagnierte oder schrumpfte, nahm die Produktivität kontinuierlich und schneller als die wirtschaftliche Gesamtleistung zu…Dies Muster hat sich derart ins kollektive Denken eingebrannt, dass die öffentliche Meinung es fast schon für eine Art Naturgesetz hielt. Doch ist es das keineswegs.“

Die Produktivitätskrise

Im Folgenden weist Werner Plumpe auf eine fundamentale Veränderung der Lage in hin, die direkt oder indirekt die Wirtschaft, den Staat und auch die Kultur in Deutschland betreffen:
„Seit den 1990er Jahren hat sich die Lage zunächst schleichend, inzwischen dramatisch verändert. Seit jener Zeit gingen die jährlichen Produktivitätszuwächse deutlich auf ein Viertel der zuletzt erreichten Werte zurück, von etwa 2 Prozent jährlich auf 0,5 Prozent in der Zeit vor Corona.“
Die Ursachen eines solchen Langzeit-Trends sind vielfältig und reichen tief – bis hin zu technologisch „langsamen“ Phasen, in denen die Entwicklung nicht einfach beschleunigt werden kann, weil sie nicht vom Willen der Menschen abhängt. Hier stößt „gute Wirtschaftspolitik“ an Grenzen, „Wirtschaftswunder“ kann man nicht nach Belieben veranstalten. Deshalb ist die Beurteilung der konkreten Lage eine wichtige und anspruchsvolle Aufgabe. Es muss zu einem Urteil darüber kommen, was ein Land in einem bestimmten Zeitabschnitt seiner Entwicklung als gegeben hinnehmen muss, und was es durch eigenes Handeln verändern kann. Das freie Erfinden einer „ganz neuen Zukunft“ ist ausgeschlossen. Wenn man in diesem Sinn die Lage ernst nimmt, kann das Erreichbare in verschiedenen Situationen sehr unterschiedlich sein. Das Urteil muss ja nicht immer darauf hinauslaufen, dass die Lage „schwierig“ ist. Es gibt durchaus, wie der Artikel Plumpes zeigt, Phasen starker Produktivitätsentwicklung. Aber für die Gegenwart geht der Autor – aus guten Gründen – offenbar davon aus, dass Deutschland in einer Situation ist, in der es sich an eine Verengung seiner Möglichkeiten anpassen muss. Und dass dies auch für längere Zeit gelten wird.

Es geht nicht um ein fatalistisches Warten

Das bedeutet nicht, dass nun ein passiver Fatalismus regieren muss. Dass eine finstere Totengräber-Stimmung oder eine zynische Vorfreude auf einen „Zusammenbruch“ im Lande herrschen soll. Im Gegenteil ergibt sich aus der Krise des Produktivitätswachstums eine ganz andere logische Konsequenz: Eine Aufwertung aller noch erhaltenen produktiven Strukturen und eine neue Wertschätzung für jene Betriebe und Tätigkeiten mit niedriger Produktivität, die man im Zug der hochfliegenden Erwartungen aufgegeben oder ans Ausland abgegeben hat. Nichts darf mehr leichtfertig aufgegeben werden. Die sogenannten „einfachen“ Arbeiten und Betriebe in Industrie, Handwerk, Landwirtschaft und Dienstleistungen und Industrien müssen gehegt und gepflegt werden. Es gibt auch schon Manches, was aus gesundem Selbsterhaltungstrieb hier und da geschieht. Aber es geschieht nicht systematisch und ist auch nicht grundlegender Teil einer Agenda dieses Landes. Aber das muss es sein, wenn man feststellt, dass viele der Dinge, die vorher selbstverständlich verfügbar waren, nun fehlen. Die Logik ist einfach: Manche Dinge mögen „banal“ sein, aber sie sind immer noch viel besser als gar keine Dinge.

Die Ablehnung der „Großen Transformation“ erledigt noch nicht das Produktivitätsproblem

Noch ein Punkt ist wichtig: Die ausgerufene „Große Transformation“ ist eine verheerend falsche Antwort auf die Produktivitätskrise, weil sie Wirtschaft und Staat mit schweren Zusatzlasten belegt und funktionsfähige Betriebe und Infrastrukturen leichtfertig zum alten Eisen wirft. Insofern ist die Ablehnung der regierenden „Wendepolitik“ nach wie vor richtig und wichtig. Aber die Produktivitätskrise wäre auch da, wenn es dies große ökologisch-soziale Zukunfts-Theater gar nicht gäbe. Die wirklichen Krisen dieses Landes müssen als solche und ganz unabhängig von der Auseinandersetzung mit diesem Theater bewältigt werden. Keine parteipolitische Polemik gegen „grün“ oder „rot“ kann diese Aufgabe ersetzen.

Nur der Ernst der Lage kann die politische Landschaft verändern

Hier liegt die eigentliche Bewährungsprobe, um Deutschland durch die gegenwärtige Zeit zu führen. Hier ist der Platz, der in der politischen Landschaft insgesamt vakant ist und nicht von einer Partei allein besetzt werden kann. Hier muss sich die Mehrheit bilden, die die Klarheit und das Durchhaltevermögen hat, um Wirtschaft und Staat heil durch diese engen Zeiten zu führen. Es gibt ja einen verbreiteten Zweifel unter den Menschen, ob dies Land die Aufgaben der Gegenwart überhaupt bewältigen kann. Diese Zweifel beziehen sich nicht nur auf irgendwelche Personen an der Regierung, sondern auf viele gesellschaftliche Bereiche und Einrichtungen. Es sind letztlich Zweifel an der eigenen Kraft als Bürgerschaft. Und das Eingehen auf den wirklichen Ernst der Lage ist auch das beste Mittel gegen die Drohung, eine größere Kurskorrektur im Lande würde mit „mehr Extremismus“, „mehr Hass“ und „mehr Diktatur“ verbunden sein.
Es wird immer verschiedene Parteirichtungen geben. Und nur der Ernst der Lage kann so nachhaltig und breit wirken, dass er bei diesen verschiedenen Parteirichtungen jeweils eigene Positionsveränderungen anstößt und eine gute Umgruppierung im Gesamtbild der Parteienlandschaft bewirkt.

Wer die Gegenwart nicht bewältigt,wird keine Zukunft bekommen

Die Bilanzen von Wirtschaft und Staat in Deutschland sind verheerend. Aber man predigt eine „Zuversicht“, die völlig in der Luft hängt. So wird das ganze Land in einen hilflosen Wartestand versetzt.

Wer die Gegenwart nicht bewältigt, wird keine Zukunft bekommen

25. Juli 2024

Deutschland befindet sich in einem merkwürdigen Zwiespalt. Auf der einen Seite häufen sich die schlechten Nachrichten aus Kernbereichen der deutschen Industrie wie dem Automobilbau, der chemischen Industrie oder dem Maschinenbau. In vielen Bereichen sind die Kosten so hoch, dass nicht einmal mehr eine einfache Reproduktion der alternden Bestände gelingt, wie der Verfall des Streckennetzes der Bundesbahn oder die drastischen Rückgänge im Wohnungsbau zeigen. Elementare Berufstätigkeiten finden keinen Nachwuchs. Neben dieser Arbeitskrise gibt es inzwischen auch eine Kapitalkrise, weil die Wertschöpfung, aus der Investitionen finanziert werden müssten, nicht mehr gegeben ist. Mit anderen Worten: Deutschland bewältigt die ständigen Aufgaben, die für jedes moderne Land grundlegend sind, nicht mehr. Das Elementare gelingt nicht mehr. Die greifbaren Resultate und zählbaren Erträge bleiben aus. Die Gegenwartsaufgaben bleiben liegen.
Doch auf der anderen Seite gibt es eine Zukunftserzählung, die das Land in einen extremen Erwartungszustand versetzt hat. Ihm soll nicht nur die größtmögliche Katastrophe drohen, sondern zugleich die größtmögliche Erlösung winken. Auf der einen Seite gibt es eine bevorstehende Überhitzung des Planeten, eine weltweite Massenflucht-Bewegung und dazu Russland als neuer Weltkriegs-Treiber. Auf der anderen Seite stehen globale Heilsversprechungen: Eine Zukunft soll machbar sein, in der es eine „ganz neue“ wunderbare Welt aus erneuerbaren „natürlichen“ Energien, abgestellten Fluchtursachen und einem entmachteten Russland geben. Aus diesem Gesamtdrama aus finsterster Drohung und hellster Erlösung kann man sich nur schwer befreien. Es verwickelt das Land nicht nur in opferreiche Kämpfe und Kriege, sondern – schwerwiegender noch – es verhindert, dass das Land sich seinen naheliegenden Aufgaben und drängenden Problemen zuwendet. Obwohl die wunderbare Welt eines grünen Wirtschaftswunders in immer weitere Ferne rückt, wird die Klimarettung als „unser Klimaziel“ immer noch beschworen. Und die konkreten Stilllegungs-Beschlüsse wie das Verbot des Verbrennungsmotors ab 2035 werden nicht aufgehoben, obwohl kein gleichwertiger Ersatz vorhandeln ist. So wird die Gegenwart einer „ganz neuen“ Zukunft geopfert.
In Deutschland gelingt es angesichts einer unübersehbaren Krise nicht, dem Naheliegenden die erste Priorität zu verschaffen: dem Abwehrkampf gegen den Niedergang von Wirtschaft und Staat. Dieser Abwehrkampf kann nur geführt werden, wenn sich das Land von der Last und Verführung durch eine extrem dramatisierte Zukunft befreit, zumindest mehr Distanz zu dieser „großen Erzählung“ gewinnt. Denn diese Erzählung versetzt die Menschen in einen lähmenden Wartezustand. Sie werden zu einer bloßen Erwartungshaltung verurteilt. Sie sollen sich, wie man jetzt des Öfteren zu hören bekommt, in „Zuversicht“ üben. Um dem zu entgegen, muss dies Land viel stärker seiner Gegenwart ins Auge blicken. Dazu müssen die vorliegenden Bilanzen endlich ernst genommen werden, und nicht als bloße „Konjunkturdelle“ abgetan werden. Und es muss den elementaren, ständigen Aufgaben eines modernen Landes ins Auge blicken. Es ist ja nicht zu übersehen, dass dies Land häufig an den sogenannten „einfachen“ Dingen scheitert – weil es die täglichen Mühen scheut, die sie erfordern. Wenn Deutschland also eine Ordnungsidee braucht, die dem Niedergang entgegenwirkt, dann wäre es eine Ordnung, die der praktischen Auseinandersetzung mit der gegebenen realen Welt Priorität einräumt. Und die den Leistungen, die hier erbracht werden müssen, nachhaltigen Wert verleiht. Die also der Neigung entgegenwirkt, die Gegenwart eines Landes einer spekulativen Zukunft zu opfern.

Eine „vollkommen neue“ Zukunft?

Es ist ein guter parlamentarischer Brauch, dass eine Haushaltsdebatte mit einer Auseinandersetzung „Zur Lage der Nation“ verknüpft wird. Das bietet Regierung und Opposition die Gelegenheit, ihre Einschätzung zur Lage vorzutragen und vor diesem Hintergrund, den Umfang und die Prioritäten der Staatsausgaben zu begründen. Hier wird Zukunft also aus Gegenwart entwickelt. Doch ein Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5.7.2024 über die Bundestagsdebatte zum Bundes-Haushalt für das Jahr 2025 (Überschrift „Scholz irritiert als Chefoptimist“) deutet auf etwas Anderes hin. Dort heißt es:
„In der Bundestagsdebatte am Mittwoch platzierte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) seine neueste Wortkreation. Nach der Bazooka´ gegen Corona und dem „Doppel-Wumms´ gegen die hohen Energiepreise soll nun derWachstumsturbo´ kommen. Nicht weniger als `eine unglaubliche Belebung´ stellte Scholz in Aussicht.“ Und an anderer Stelle heißt es:
„Schon im vergangenen Jahr hatte Scholz für Erstaunen gesorgt, als er Deutschland wegen der Investitionen in den Klimaschutz ein Wirtschaftswachstum wie in den Nachkriegsjahren prophezeite.“
Der Kern dieses „Optimismus“ besteht darin, dass er sich gar nicht erst bei der deutschen Gegenwart aufhält, sondern den Blick gleich auf die Zukunft lenkt – auf eine Zukunft, die in gar keinem nachvollziehbaren Verhältnis zur Gegenwart steht. Der Gedanke, dass die Zukunft nur aus den heutigen Erträgen einer leistungsfähigen Wirtschaft zusammen mit effizienten Infrastrukturen entwickelt werden kann, ist der Regierung offenbar völlig fremd. Dass die Hindernisse, die diesen Erträgen jetzt entgegenstehen, auch jetzt beseitigt werden müssen, steht nicht im Mittelpunkt der Debatte. Stattdessen befasst man sich mit den Möglichkeiten zusätzlicher Schulden. Sie dienen als Ersatzlösung, um eine wirkliche Bewältigung der Gegenwartsprobleme zu vermeiden.

Das Verführerische der „Großen Transformation“

Wenn man freilich in der Auseinandersetzung um die Gegenwart und Zukunft des Landes nur „mehr Schulden!“ rufen würde, würde das niemand überzeugen. An dieser Stelle tritt nun die große Erzählung von einem Umbau der Welt, wie ihn die Geschichte nicht gesehen hat, in ihre Funktion. „Die große Transformation“ ist der Titel der Erzählung, wobei „Transformation“ ein schillerndes Wort ist: Es klingt ein bisschen nach Reform und ein bisschen nach Revolution. Eine magische Verwandlung klingt hier an. Aber wenn uns jemand von der Verwandlung von Wasser in Wein erzählt und das als „Innovation“ anpreist, sind wir doch ein bisschen skeptisch. Hier spielt nun der Zusatz „große“ eine wichtige Rolle: Im Großen sind wir eher zum Glauben geneigt als im Kleinen. Das macht das Verführerische an der versprochenen „Großen Transformation“ aus.

Metaphysik (I)

So wie „das Globale“ eine ganz eigene (räumliche) Metaebene ist, auf der die Ressourcen und Knappheiten eines gegebenen Landes nicht mehr zählen, ist „die Zukunft“ eine ganz eigene (zeitliche) Metaebene: Die Ressourcen und Knappheiten einer gegebenen Gegenwart zählen hier nicht mehr. Es ist, als wäre „die Zukunft“ ein eigener Planet, der ganz unabhängig von den Mühen der Gegenwart angesteuert werden könnte.

Metaphysik (II)

Eigentlich ist die „große Transformation“, über die heutzutage mit so großer Selbstverständlichkeit geredet wird, ein völlig absurdes Ansinnen. Die größtmögliche Bedrohung wird – wie mit einem riesigen planetarischen Zauberstab – in das größtmögliche Glück gewendet.

Urselchens Mondfahrt

Es gibt Versuche, der Zauberei einen Anstrich von historischer Plausibilität zu verleihen. Schon im Jahr 2019 hatte Ursula von der Leyen in Hinblick auf das „Green Deal“-Programm von „Europas Mann-auf-dem-Mond-Moment“ gesprochen. Es sollte ein „großer Moment“ entstehen, der mit dem Mond-Landungsprogramm der Amerikaner zu vergleichen wäre. Das ist ein Gedanke von verführerischer Leichtigkeit: Die „große Transformation“ soll nicht mehr sein als eine große Reise. Allerdings waren die Amerikaner in den 1960er Jahren nicht solche Narren, dass sie glaubten, mit einem Raumfahrt-Programm eine komplett neue industrielle Basis gewinnen zu können.

Die „Große Transformation“ als „Deal“?

Der „European Green Deal“ ist ein Maßnahmen-Paket, das von der EU-Kommission beschlossen und europaweit abgesegnet wurde. Der Titel des Pakets ist suggestiv: In Anlehnung an die Politik des „New Deal“ unter dem US-Präsidenten Roosevelt in den 1930er Jahren wird der Anspruch erhoben, einen großen Schub für das Wirtschaftswachstum auszulösen. Allerdings stand damals ein realer Produktivitäts-Zuwachs in der Industrie zur Verfügung, die eine Anschubfinanzierung wie beim „New Deal“ auf fruchtbaren Boden fallen ließ. Das galt auch für die Automobilindustrie auf Basis des Verbrennungsmotors. Diese realwirtschaftlichen Fortschritte führten zu einer Vergrößerung der Märkte. Automobile wurden auch für breite Gesellschaftsschichten erschwinglich. Doch nun, im „Green Deal“, ist eine solche realwirtschaftliche Grundlage nicht in Sicht. Im Gegenteil: Er bringt ökologische Auflagen, die viele Produkte erheblich verteuern und effiziente Technologien verbieten. Dazu gehört das Verbot der Verbrenner-Technologie in Automobilen ab 2035 – also das Verbot einer der Technologien, die dem alten „New Deal“ zum Erfolg verhalfen. Das Verbot wurde verhängt, ohne dass ein gleichwertiger, erschwinglicher Ersatz zur Verfügung stand. Man geht offenbar davon aus, dass „die Zukunft“ schon irgendwie liefern wird.

Ein ganzes Land im erzwungenen Wartestand

Angesichts des verheerenden Markteinbruchs bei Elektro-Automobilen und großer Ertragsprobleme in vielen Branchen, die von ökologisch motivierten „Wenden“ betroffen sind, könnte man erwarten, dass nun die verkündeten Ziele zurückgenommen werden. Aber das geschieht nicht: Es gibt keine große Korrekturbewegung im Land. Nicht einmal ein Innehalten, um nachzudenken. Mit seltsamer Eile wird immer wieder gleich vorneweg versichert, dass man treu zu „unseren Klimazielen“ stehe. Das gehört sozusagen zum guten Ton im Lande. Viele Unternehmen beklagen die gestiegenen Kosten und mangelnden Erträge, aber man scheut sich, die in der Politik getroffenen Richtungs-Entscheidungen und die eigenen Investitionsentscheidungen ausdrücklich als falsch zu bezeichnen. Im öffentlichen Leben beeindrucken zunächst die großen Weltdramen von Bedrohung und Rettung, und ein Rückzug aus solch großen Kulissen – auch wenn er noch so wohlbegründet wäre – hat es zunächst schwer, sich durchzusetzen. Er ist mit dem Makel der Kleinlichkeit und Feigheit behaftet. So ist ein nicht unbeträchtlicher Teil der Menschen bereit, an alle möglichen Wunderstoffe und Pilotprojekte zu glauben, die das große Weltretten doch noch zu einem guten Ende führen sollen. Das gilt besonders dann, wenn in der Öffentlichkeit die täglichen Leistungen der Realwirtschaft keine Aufmerksamkeit und keine Anerkennung mehr finden. Aber in einer Öffentlichkeit, in der die großen Weltdramen regieren, sind die Menschen mehr denn je zu bloßen Zuschauern degradiert.
Im Deutschland der Gegenwart stecken viele Menschen auf die eine oder andere Weise in einem Wartezustand. Dieser Zustand ist ein hilfloser Zustand: Man ist gezwungen auf etwas zu warten, das man gar nicht beeinflussen kann. Die Beschwörung einer „ganz neuen Zukunft“ hat das ganze Land in einen erzwungenen Wartezustand versetzt. Ein Ende ist nicht in Sicht.

Gute Aussichten – aber nicht für eine schnelle Wende 

Die Arbeitskrise zeigt, in welcher Richtung eine Überwindung der deutschen Krise insgesamt zu suchen ist. Zugleich werden hier schon die Kräfte und Hebel sichtbar, die eine Rehabilitierung des Landes tragen können. (Wie Deutschland ein anderes Land wurde, Teil IV)

Gute Aussichten – aber nicht für eine schnelle Wende 

April 2024

Die Arbeitskrise in Deutschland wird hier nicht angeführt, um sie als Übel zu beklagen und sie den Regierenden zum Vorwurf zu machen. Die Arbeitskrise ist eine Anklage gegen die im Lande herrschenden Verhältnisse. Genauer: Sie ist die richtige Antwort auf einen längeren Prozess der Entwertung von Arbeit und Leistung. Die Arbeitskrise besteht ja nicht darin, dass Arbeitsplätze fehlen, sondern dass Arbeitskräfte fehlen. Dies Fehlen ist nicht Folge einer generellen Arbeitsunlust, sondern Antwort auf eine Entwertung der Arbeit – und zwar insbesondere der sogenannten „einfachen“ Arbeit (Facharbeiter und angelernte Arbeiter in den verschiedensten Branchen und Sektoren). Einer Arbeit, die bei näherem Hinsehen gar nicht so „einfach“ ist, sondern die sich aktiv mit den Widrigkeiten und Knappheiten der materiellen Welt auseinandersetzen muss. Diese Arbeit wird heute in Deutschland – im Verhältnis zu den „gehobenen“ Tätigkeiten – geringgeschätzt. Sie wird als Beschäftigung für „Verlierer“ angesehen. Auf diese Geringschätzung wird nun seit einigen Jahren ganz praktisch geantwortet – mit einem massiven Rückzug aus dieser Beschäftigung. Und sofort stellt sich ein sehr positiver Effekt ein: Auf einmal macht sich ganz handfest bemerkbar, welch elementare Bedeutung die „einfachen“ Tätigkeiten haben. Wie unersetzlich sie sind, um das Land am Laufen halten. Wunderbar, wie die so selbstgewisse „Bildungsrepublik“ und „Zivilgesellschaft“ hier auf dem falschen Fuß erwischt wird! Gerade noch war man sich einig, dass eine Lehre in Industrie, Handwerk und Dienstleistungen eigentlich etwas für Verlierer sei. Jetzt fragt man auf einmal sorgenvoll „Wo bleiben sie nur?“ Plötzlich weht der raue Wind der Realität durch die Republik. Denn es fehlt an wichtigen Gütern und Dienstleistungen. Sie fehlen nicht in irgendwelchen Zukunftsprognosen, sondern im Hier und Jetzt. Eiligst wird versichert, dass man nun schnell Abhilfe schaffen werde. Mit viel „Wir schaffen das!“ und ein bisschen mehr Geld. Aber das wird in dieser Krise nicht funktionieren. Die neue Knappheit ist viel härter und dauerhafter als die Beschwörungskünste der Regierenden. Man kann die Arbeitskrise nicht lösen, ohne die gesellschaftliche Schieflage zu beheben, auf die sie reagiert. Diese Krise berührt den Kern des tiefgreifenden Wandels, der Deutschland zu einem anderen Land gemacht hat. Deshalb muss man für diese Krise dankbar sein. Denn aus ihr kann man ersehen, in welcher Richtung eine Rehabilitierung des Landes erfolgen muss. Und es zeichnen sich hier auch schon die Kräfte und Hebel ab, die diese Rehabilitierung tragen können – und sie gegen Widerstände durchsetzen können. 

Eine naheliegende Lösung, die tabu ist 

Nur eine Rehabilitierung des Gesellschaftsvertrages wird die Arbeitskrise in Deutschland überwinden können. Diese Rehabilitierung kann nicht zu den Bedingungen der gehobenen Mittelklasse gelingen – ein „gehobener Gesellschaftsvertrag“ würde sich noch weiter von den realen Möglichkeiten dieses Landes entfernen. Es muss also um einen Rückbau gehen. Es muss eine erhebliche Reduzierung jenes gehobenen gesellschaftlichen Sektors stattfinden – sowohl in der Größe als auch im Einkommensniveau. Man muss also kein ganz neues Deutschland erfinden, sondern eine – durchaus einschneidende – Anpassung an die Realitäten durchsetzen. Doch von dieser Lösung ist das Land noch weit entfernt. Das zeigen die Vorschläge, die jetzt zur Lösung der Arbeitskrise die Runde machen. Ganz oben steht der Vorschlag, noch mehr Migranten ins Land zu holen. Das bedeutet, dass die Probleme nicht im Land mit den Mitteln dieses Landes gelöst werden, sondern an importierte Mittel. Und diese Logik des Auslagerns steht auch beim zweiten Vorschlag Pate: Die älteren Arbeitnehmer sollen länger arbeiten. „Das größte Potential des deutschen Arbeitsmarktes liegt über 60“ schreibt ein namhafter Vertreter des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in einem Beitrag für die FAZ (19.8.2023). Wenn man an diese Arbeitsgeneration appelliert, will man auf eine „alte“ Arbeitsmoral zurückgreifen, die man für jüngere Arbeitsgenerationen schon aufgegeben hat. Das ist eine Auslagerung aus der Jetztzeit und im Grunde ein Offenbarungseid. 

Man sieht, wie hier um jeden Preis ein Bogen um die Lösung gemacht wird, die doch eigentlich naheliegt und die größte Wirkung hätte: Man muss den Irrsinn beenden, dass mehr als die Hälfte der deutschen Gesellschaft auf eine gehobene Laufbahn orientiert wird. Das ist das große Tabu im Lande – die heilige Kuh, die nicht angetastet werden darf. Diese Lösung soll nicht mal als mögliche Alternative erörtert werden. Natürlich wird das Problem im privaten Kreis und in Nebensätzen tausendfach angesprochen. Aber wenn zum Beispiel in einem Immobilien-Report der dramatische Fachkräftemangel im Bausektor beklagt wird, und es dort ausdrücklich heißt, ein Grund dafür sei „die zunehmende Akademisierung, die Handwerksbetriebe finden nicht genug Nachwuchs“ (zitiert in der FAZ vom 8.10.2021), dann führt das keineswegs zu näheren Untersuchungen und klaren Forderungen zum Akademisierungs-Problem. Die Aussage wird behandelt, als wäre sie gar nicht gemacht worden.     

Aber diese Krise lässt sich nicht verdrängen 

Noch also glaubt man, sich dies Tabu leisten zu können. Doch in diesem Punkt täuscht man sich. Und das ist die eigentliche Pointe der Arbeitskrise: Sie wird einfach nicht mehr aufhören. Der Rückzug aus der Arbeit wird weitergehen und immer weiter um sich greifen. So wird sichtbar, was es wirklich bedeutet, wenn die in einem Land die elementare Arbeit entwertet wird: Die tätige Auseinandersetzung mit den Knappheiten und Widrigkeiten dieser Welt wird entwertet. 

Man nehme einmal die Schlangen von Wohnungssuchenden, die sich gegenwärtig in Großstädten bilden, wenn irgendwo ein Besichtigungstermin für eine freie Wohnung angesetzt ist. Solche Warteschlangen muss man sich für viele Dinge vorstellen, die bald knapp werden: Plätze in Pflegeheimen, Notaufnahmen der Krankenhäuser, bei Behörden für die Verlängerung von Ausweisen, Hochzeitstermine, Anmeldung von Autos, überfüllte Wartezimmer beim Arzt, überfüllte Bahnsteige. Warteschlangen beim Bäcker, beim Restaurant, beim Postamt, an der Kasse beim Supermarkt, nicht zu vergessen die Warteschlangen bei irgendeiner Auskunfts- oder Beratungs-Hotline. Und überall wird es immer häufiger heißen: „Gibt´s nicht“, „“Keine Termine frei“, „Kommen Sie in einem halben Jahr wieder“. 

So wird sich immer deutlicher zeigen, dass die Tätigkeiten, die man jetzt mit Geringschätzung behandelt, nicht in irgendeinem Nebengebäude dieses Landes wohnen, sondern zum Haupthaus gehören. Ohne sie gibt es keine lebendigen Städte und keine aktiven ländlichen Räume. Ohne sie finden Dienstleistungen, Wissenschaften und Künste weder Stoff noch Inspiration. Ja, diesem Land stehen bedrückende Jahre bevor. Gewiss hätten sich diejenigen, die sich jetzt ihren Arbeits-Einsatz herunterfahren, eine Lösung ohne diese bedrückenden Jahre gewünscht. Aber die gesellschaftliche Schieflage hat sich zu sehr verfestigt, um einfach durch gute Argumente korrigiert werden zu können. Es wird ja alles dafür getan, dass Krisen wie die Arbeitskrise gar nicht ruhig erörtert werden können. Diese Krisen werden gewissermaßen „überschrien“ – indem man extreme Katastrophen- und Feind-Kampagnen inszeniert. Diese Kampagnen sind im Grunde Alibi-Veranstaltungen, um nicht die näherliegenden, mühevolleren Aufgaben im Land anpacken zu müssen. Demgegenüber ist der Rückzug aus der Arbeit eine sehr passende und wirkungsvolle Antwort. Er macht ganz handfest spürbar, dass die Entwertung der elementaren Arbeit drastische und weitreichende Folgen hat. Und dieser Rückzug aus der Arbeit wirkt auch befreiend: Man spürt die eigene Kraft und ist nicht mehr der brave Depp im täglichen Besserwisser-Theater. 

Die historische Dimension dieser Auseinandersetzung 

Wenn die Bedeutung der einfachen, elementaren Arbeit, die sich direkt mit den Knappheiten und Widrigkeiten dieser Welt auseinandersetzt, verteidigt wird, berührt das einen Sachverhalt von historischer Bedeutung. Die moderne Zivilisation unterscheidet sich von anderen Zivilisationen in einem Punkt: Sie räumt den praktischen Tätigkeiten und dem Erwerbsleben eine viel größere Aufmerksamkeit und Rolle ein als andere Zivilisationen, die solche Tätigkeiten als zweitrangig und sogar als unwürdig ansahen. Dies führte zu einem anderen Bau der Institutionen für Staat und Wirtschaft, auch zu anderen Orientierungen von Wissenschaften und Künsten. Das wird von Historikern als ein wesentlicher Grund dafür angesehen, dass der Anbruch der Ära der Moderne in Europa (und nicht etwa im durchaus hochentwickelten China) stattfand. Die in diesem Text so stark betonte Unterscheidung zwischen „einfacher“ Arbeit und einem „abgehobenen“ Sektor knüpft an dies Grundverständnis der modernen Welt an, und sieht die Entwicklungskrise Deutschlands (und anderer Länder des Westens) in letzter Instanz als eine Auseinandersetzung um Abbruch oder Fortsetzung der Moderne. Darauf wird bei anderer Gelegenheit zurückzukommen sein. 

Neben der Entwertung der Arbeit gibt es auch eine Entwertung des Kapitals 

Die Betonung der „Arbeit“ in diesem Text könnte zu dem Schluss verleiten, die Krise unseres Landes beträfe nur die Arbeit. Daraus könnte eventuell sogar der Schluss gezogen werden, es müsse ein Klassenkampf „Lohnarbeit gegen Kapital“ geführt werden. Das wäre ein törichter Kurzschluss, denn wir haben ganz offensichtlich auch eine fundamentale Kapitalkrise. Wir erleben, wie die Produktivität der Unternehmen schwer beschädigt wird, indem grundlegende Technologien belastet oder verboten werden (exemplarisch in der Automobilindustrie) und wie der Fortbestand von Unternehmen nicht mehr von der eigenen Wertschöpfung abhängt, sondern von schuldenfinanzierten Subventionstöpfen. Mit anderen Worten: Die Kapitalbildung ist ihrem Kern entwertet. Die treibende Kraft ist dabei wiederum jener Sektor der gehobenen Mittelklasse, der mit seinen ökologischen, sozialen und organisatorischen „höheren Zielen“ alle Gesetze der Unternehmensproduktivität beiseite wischen kann. Dieser Sektor gefällt sich ja auch in einem naiven Anti-Kapitalismus. Die „Kapitalisten“ aber sind hier nicht mehr Treiber, sondern Getriebene. Es wäre also eine ganz törichte Spaltung, wenn man die einfache Arbeit verteidigen wollte, indem man sie gegen das Kapital in Stellung bringt. Hier hilft es, sich an die erste Phase der Bundesrepublik zu erinnern, als Facharbeit und angelernte Arbeit hoch in Kurs stand und zugleich die Kapitalseite eine starke Rolle hatte. Beide Seiten einte ein gegenseitiger Respekt und diese Sozialpartnerschaft war für beiden Seiten fruchtbar. 

Ein Deppenspiel: Staat gegen Wirtschaft, Wirtschaft gegen Staat

Und es gibt noch eine zweite törichte Spaltung. Wir erleben inzwischen ein tägliches Deppenspiel, bei dem einmal ein guter Staat gegen eine böse Wirtschaft gesetzt wird, und im nächsten Moment eine tüchtige Wirtschaft gegen einen versagenden Staat. Dabei ist es doch eigentlich naheliegender, dass Wirtschaft und Staat sehr verschiedene Dinge mit je eigenen Vorzügen und Schwächen sind. Und heute ist auf beiden Seiten bei den jeweiligen Kernaufgaben eine Schwächung festzustellen ist, und ein Wuchern von Schein-Aktivitäten. Die Geringschätzung der Arbeiten, die sich mit den Widrigkeiten dieser Welt auseinandersetzen müssen, ist ja nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch beim Staat zu beobachten. Man denke nur an die Polizisten und Soldaten, an Feuerwehrleute und Rettungskräfte, auch an Eisenbahner, Müllentsorger, Post- und Paketzusteller; und an die Arbeit in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Schulen, die man vielerorts schon in unhaltbare Zustände getrieben hat. Und auf beiden Seiten werden auch die rosigsten Zukunftsprojekte unter den gemütlichsten Umständen gepflegt. Bei diesen Vorgängen fällt es schwer, irgendeine oberste lenkende Hand zu finden, irgendeine verschworene „Elite“, die das alles nach einem großen Plan lenkt. Es ist ein zerstörerisches Treiben-Lassen und Wuchern-Lassen in allen Dingen, und dies ist vielleicht noch gefährlicher als ein finsterer Plan. 

Auf der Suche nach Verhältnismäßigkeit 

Das strukturelle Grundproblem des heutigen Deutschlands ist die Ersetzung des Gesellschaftsvertrages durch die Alleinherrschaft eines einzigen sozialen Sektors. Eines lässt sich schon jetzt vorhersagen: Solange die Alleinherrschaft einer besserwissenden, bessermoralischen und besserverdienenden Mittelklasse besteht, wird das Land nicht wieder richtig in Gang kommen. Zu den Bedingungen dieses gehobenen Sektors ist ein realitätstüchtiges Deutschland nicht zu haben. Es wird von Engpass zu Engpass stolpern. Aber ebenso gilt: Eine andere Alleinherrschaft ist auch keine Lösung. Ein modernes Land kann nicht von einem einzigen gesellschaftlichen Sektor geführt werden, der für sich beansprucht, die ganze Zukunft zu repräsentieren. Ein realitätstüchtiges Land muss auf mehreren unabhängigen Trägern gebaut sein. Lösungen müssen daher immer „verhältnismäßig“ sein. Nur so ist ein richtiges Maß zu finden. Das gilt auch für die Arbeitskrise. Die krasse Schieflage zwischen den verschiedenen Arbeitswelten verlangt nach einer neuen, angemessenen Verhältnismäßigkeit – bei Größe, Einfluss und Einkommen. 

Produktivität, Wehrhaftigkeit und Bescheidenheit 

In Deutschland geht es insgesamt um eine Rehabilitierung – um die Rehabilitierung eines produktiven, wehrhaften und auch bescheidenen Deutschlands. Dafür ist der Begriff der „Wende“ untauglich. Er suggeriert einen abrupten Vorgang. Auch der Begriff der „geistig-moralischen“ Wende ist irreführend. Er suggeriert ein Nacheinander von einer Wende im Kopf und einer dann folgenden „Umsetzung“ in materielles Tun. Aber Zivilisationsveränderungen – und darum geht es hier – brauchen ihre Zeit. Sie sind tiefer gelagert. Sie leben von Erfahrungen. Es müssen Distanzen zur überwältigenden Macht der heutigen Wort- und Bilderfluten aufgebaut werden. Verschüttete und verachtete Dinge müssen wieder freigelegt werden; Verstreutes kann sich nur allmählich zusammenfügen. Deutschland braucht eine Zeit der Rehabilitierung, und eine solche „allmähliche“ Zeit fühlt sich ganz anders an als eine Gründerzeit mit ihren „Aufbrüchen“. Es wird weniger um große Auftritte und Sprünge gehen, sondern um ein Wiederanknüpfen und Weiterbauen auf bestehenden Entwicklungslinien. Aber angesichts der heutigen Dominanz von allen möglichen „Ausstiegen“ wäre das „Weiterbauen“ schon eine große Aufgabe. 

In diesem Text wurde die Entwicklung Deutschlands in Phasen von jeweils 30 Jahren geteilt. Das ist natürlich völlig schematisch. Die wirkliche Entwicklung wird sicher aus krummerem Holze sein. Und doch kann dieser 30-Jahr-Rhythmus eine Orientierung sein. Er kann allzu schnelle Erwartungen im Bösen wie im Guten mäßigen, aber er verliert sich auch nicht in einem allzu vagen Jahrhundert-Glauben. 30-Jahre dauern länger als eine Legislaturperiode, länger als ein Konjunkturzyklus. Sie sind aber weniger lang als große Trends bei der Bevölkerungsentwicklung, bei der Strukturentwicklung in Stadt und Land, bei den territorialen Grenzen und den Verfassungen von Nationalstaaten und natürlich auch bei Geologie, Klima, Flora und Fauna. Hingegen kann man im 30-Jahre-Rhythmus sehr wohl fundierte Bilanzen der Entwicklung eines Staatswesens und einer Volkswirtschaft ziehen. 

  • Die erste Phase der Bundesrepublik wurde von Ende der 1940er Jahre bis zum Ende der 1970er Jahre angesetzt. Es ist in Hinsicht auf Produktivität, Wehrhaftigkeit und Bescheidenheit eine erfolgreiche Phase.  
  • Die zweite Phase (Ende der 1970er Jahre bis Ende der 2000er Jahre) wurde als Herauslösung eines parallelen „gehobenen“ Sektors neben noch fortbestehen Errungenschaften der ersten Phase beschrieben.
  • In der dritten Phase, die in diesem Schema vom Ende der 2000er Jahre bis Ende der 2030er Jahre angesetzt werden müsste, kommt dieser Sektor zur Alleinherrschaft und wird gegenüber Produktivität, Wehrhaftigkeit und Bescheidenheit rein destruktiv. Wir befinden uns also erst in Mitte dieser Phase, und die Alleinherrschaft ist Grunde noch ungebrochen und selbstgewiss.      
  • Die vierte Phase würde dann erst Ende der 2030er Jahre anbrechen und bis zum Ende der 2060er Jahre dauern. Aber dann wäre es auch möglich, eine zusammenhängende Rehabilitierung von Produktivität, Wehrhaftigkeit und Bescheidenheit ins Werk zu setzen. Und zwar nicht nur als Wertesystem, sondern auch als materiellen „Wiederaufbau“ Deutschlands. Ja, dieser Begriff ist angemessen, weil diese vierte Phase in mancher Hinsicht an den Wiederaufbau in der ersten Phase der Bundesrepublik anknüpfen würde.  

Bei diesem Ausblick bis weit in zukünftige Jahrzehnte muss vieles offen bleiben. Und sicher kann man mit guten Gründen eine andere Ordnung des Wandels skizzieren. Wichtig ist die Einsicht, dass es diesmal mit einer politischen Reform-Agenda nicht getan sein wird. Es geht um eine Zivilisationsaufgabe.  

Übersicht und Beharrlichkeit

Es ist eine ziemlich lange Durststrecke, die hier ins Auge gefasst wird. Aber das ist etwas ganz anderes als eine Dekadenz-These. Das Raunen von einem Untergang des Landes ist eine unfruchtbare Übung. Aber der Begriff „Wiederaufbau“ ist durchaus angebracht, wenn man an die materiellen und moralischen Trümmer denkt, die jetzt schon sichtbar sind. Warum sollte es nicht gelingen, dies Land aus diesen Trümmern herauszuarbeiten? Dennoch sollte man nicht gleich auf eine „Wirtschaftswunder“ hoffen. Alles, was gegenwärtig an technologischen Sprüngen in Aussicht gestellt wird, ist nicht seriös. Insofern gehört der Baustein „Bescheidenheit“ wirklich zum Fundament einer Rehabilitierung Deutschlands in der hier skizzierten vierten Phase. 

Zur davor liegenden dritten Phase, in deren Mitte wir uns jetzt befinden, ist anzumerken, dass die Alleinherrschaft ihren Zenit schon erreicht haben könnte. Die Bemühungen, diese Herrschaft aufrechtzuhalten, werden schon deutlich krampfhafter. Vor allem wird diese Herrschaft in den kommenden Jahren von ihren Bilanzpflichten eingeholt werden: bei den Wirtschaftszahlen, bei den Staatsschulden, bei den Infrastrukturen von Verkehr und Energie, bei den Ergebnissen der schulischen Bildung, bei der Wirksamkeit ihrer „Klimarettung“. Da wird es spätestens im Laufe der 2030er Jahre zu manchem Offenbarungseid kommen. Auch kann man davon ausgehen, dass der Hype um die Digitalisierung und täglich neue weltstürzende „Innovationen“ sich allmählich totläuft. Ebenso kann man erwarten, dass die Werteordnung der gehobenen Mittelklasse und das Motiv des „sozialen Aufstiegs“ verblasst – und damit der Platz frei wird für eine neue Wertschätzung elementarerer Tätigkeiten und Fähigkeiten. 

Daraus aber folgt, dass man schon jetzt die Dinge, Fähigkeiten und Beziehungen hüten und pflegen sollte, die diesseits der Welt der Besserwisser und Besserverdiener liegen. Und noch etwas wird in dieser dritten Phase sehr wichtig sein: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die bröckelnde Alleinherrschaft das Land noch in einen großen Krieg schlittern lässt. Um das zu verhindern, sollte jede mäßigende Stimme willkommen sein.

Das Kräfteverhältnis ändert sich: Die Arbeitskrise

Die Beherrschung der Republik durch willkürlich herbeigeführte „Notstände“ scheint auf den ersten Blick übermächtig. Aber es gibt andere Krisen, die eine fundamentale Schwäche dieser Herrschaft offenbaren. (Wie Deutschland ein anderes Land wurde, Teil III)

Das Kräfteverhältnis ändert sich: Die Arbeitskrise

April 2024

In der bisherigen Darstellung wurde gezeigt, wie Deutschland mehr und mehr in den Bann eines hochdramatischen Krisenszenarios geraten ist. Und wie dies Szenario immer mehr auf eine negative, zerstörerische Lösung hinauslief: auf die Opferung fundamentaler Aufbauleistungen der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte. Dieser Wandel scheint übermächtig und ausweglos zu sein – nicht zuletzt deswegen, weil der größere Teil der Gesellschaft in diesem Drama nichts zu sagen hat, sondern nur die Opfer zu ertragen hat. Während ein anderer, durchaus beträchtlicher Sektor der Gesellschaft in diesem extremen Krisenszenario an Umfang, Macht und Einkommen gewinnt. Diese Konstellation kann zu einem Gefühl der Ohnmacht führen. Sie kann auch dazu verführen, alle Hoffnung auf einen Art Gesellschafts-Duell mit den Krisengewinnern zu setzen. Doch damit hat man noch keinen konstruktiven und tragfähigen Ausweg für das Land gewonnen. Man verkämpft sich in die Widerlegung des herrschenden Krisentheaters – und bleibt ihm doch noch verhaftet. 

Um einen konstruktiven Ausweg finden zu können, muss die Entwicklung Deutschlands noch etwas anders dargestellt werden. Die Darstellung in dieser Artikelfolge war noch unvollständig – sie muss um etwas Elementares ergänzt werden. Denn es gibt neben den lauthals ausgerufenen Krisendramen noch ganz andere Krisen – stillere, alltäglichere, zähere Krisen. Sie offenbaren eine fundamentale Schwäche. Aber es ist keine Schwäche des ganzen Landes, sondern eine Schwäche der Herrschaft durch Notstands-Mobilisierung. Diese Herrschaft erweist sich als unfähig, die elementaren Aufgaben einer modernen Zivilisation zu bewältigen. Zugleich werden in diesen Krisen die Kräfte sichtbar, die sich von den künstlich erzeugten Notständen nicht beeindrucken lassen, sondern sich mit den wirklichen Problemen dieses Landes befassen müssen und auch können. Mittelfristig werden sie die Träger eines deutschen Wiederaufbaus sein.        

„Wo sind sie geblieben?“ 

Dieser Alarmruf geht seit einiger Zeit in Deutschland um. Gemeint sind die Arbeitskräfte. Sie fehlen an allen Ecken und Enden. So erschien der „Spiegel“ vom 16.7.2022 mit einem Titelblatt, auf dem in großen Lettern stand: „Wo sind die nur alle hin?“ Und die Unterzeile lautete: „Wie der Mangel an Arbeitskräften das Land lahmlegt“. Dabei geht es vor allem um elementare Berufe, die keine höhere, akademische Bildung erfordern, sondern Fachkenntnisse und Erfahrungen aus der praktischen Berufsausübung – wie sie für Facharbeiter und angelernte Arbeiter typisch sind: Bauarbeiter, Feldarbeiter, Maschineneinrichter und Maschinenführer, Monteure, Schlosser, Klempner, LKW-Fahrer, Lagerarbeiter, Fachkräfte und Helfer im Einzelhandel, Brief- und Paketzusteller, Pflegekräfte, Fleischer, Bäcker, Klempner, Köche und Kellner, Busfahrer, Lokführer und Begleitpersonal bei der Bahn, Bühnenarbeiter, Texter, Zeichner und so weiter. Es geht um sogenannte „einfache“ Tätigkeiten – aber sie sind nicht einfach. Denn ihr gemeinsamer Nenner besteht darin, dass sie sich mit den Widrigkeiten der physischen Welt auseinandersetzen müssen, mit ihrer Muskelkraft, aber auch mit ihrer Aufmerksamkeit und Konzentration. Sie üben oft sehr kleinen Teilfunktionen aus, und tragen dabei doch eine hohe Verantwortung. Da sie „hart an der Realität“ gebaut sind, müssen sie oft unter schwierigen oder wechselhaften Bedingungen ausgeübt werden: Sie sind oft Wind und Wetter ausgesetzt, müssen Lärm, Schmutz, Staub, Rauch, Gestank aushalten. Sie müssen mit Menschen eng zusammenarbeiten oder sie als Kunden bedienen, und können sie sich nur in den seltensten Fällen aussuchen. Sie müssen früh aufstehen oder in Schichten rund um die Uhr arbeiten, und ihre Leistung immer auf einem bestimmten Niveau durchhalten. Und das über lange Jahre. 

Die neue Arbeitskrise 

Hier ist nun eine Krise da: Diese Krise hat die tonangebende „postindustrielle“ Gesellschafts-Vorstellung gewissermaßen auf dem falschen Fuß erwischt. Man hatte erwartet, dass sich die schweren Tätigkeiten und schwierigen Arbeitsplätze allmählich erledigen würden – entweder durch den technischen Fortschritt oder durch Auslagerungen aus den sogenannten „hochentwickelten“ Ländern in die „weniger entwickelten“ Länder. Für die Fälle, wo diese Rechnung nicht aufging, hatte man die Erwartung, dass es im Lande eine Unterschicht gäbe, die so dumm und brav wäre, dass sie die schlechten Arbeiten einfach weiter erledigen würde. Der andere Teil der Gesellschaft könnte als „Modernisierungsgewinner“ an ihnen vorbeiziehen und in ganz neuen, selbstbestimmten Arbeitsverhältnissen unterkommen, in denen man die Arbeit weitgehend für sich selbst definieren und als „wertvolle Leistung“ interpretieren kann. 

Doch nun gilt das alles offenbar nicht mehr. Jedenfalls nicht in einem Maße, dass es die Verhältnisse eines ganzen Landes bestimmen kann. Das gilt für das allmähliche Verschwinden der „einfachen“ Arbeitsplätze. Sie sind nicht verschwunden. Auch das Auslagern in andere Länder klappt nicht mehr zuverlässig, denn die internationale Arbeitsteilung läuft nicht mehr so, dass die einen sich mit den Widrigkeiten der physischen Welt auseinandersetzen müssen, und die anderen sich den freieren Tätigkeiten widmen können. Und nun fehlen „auf einmal“ auch in Deutschland massenweise Arbeitskräfte – und zwar gerade in den harten Realberufen, die man schon als erledigt abgehakt hatte. Diese neue Arbeitskrise liegt nicht an einer plötzlich ausgebrochenen allgemeinen Arbeitsscheu. Aber viele Menschen, die ihre Arbeit schätzen und über Jahre und Jahrzehnte das Land am Laufen gehalten haben, ziehen sich jetzt – ganz oder teilweise – zurück. 

Ein stiller, aber tiefgreifender Rückzug 

Es handelt sich nicht um einen bewussten, großen „Streik“, sondern um einen weitgehend stillen, aber tiefgreifenden Rückzug. Man verlässt Arbeitsplätze, geht vorzeitig in Rente, geht auf Teilzeit, nimmt häufiger einen Krankenschein oder verrichtet seine Arbeit ganz einfach mit weniger Einsatz. Und dieser Rückzug aus der Arbeit ist im Ergebnis so bedeutend, dass er „das Land lahmlegt“, wie der „Spiegel“ im Juli 2022 schrieb. Und diese Situation dauert an. Es handelt sich nicht um ein vorübergehendes, konjunkturelles Problem, das durch „mehr Geld“ (Lohnerhöhungen) zu beheben wäre. Es handelt sich um ein tieferes Problem. In Deutschland sind Verhältnisse eingetreten, bei denen es nicht mehr gelingt, Menschen zu motivieren, dauerhaft elementare Arbeiten zu verrichten. Dies Land hat etwas ganz Grundlegendes verloren, was es über lange Jahrzehnte besaß: Ihm ist der Wert der Arbeit abhandengekommen. Lange Zeit konnte dieser Wert, quer durch Branchen und soziale Schichten, einfach vorausgesetzt werden. Jetzt ist an dieser Stelle eine elementare Krise ausgebrochen. 

„Die demotivierte Gesellschaft“ 

Die Stimmungslage in Deutschland, die das Allensbacher Institut für Demoskopie monatlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht, trägt für Januar 2024 die Überschrift: „Die demotivierte Gesellschaft“ (FAZ 25.1.2024). Es geht um die Beobachtung, dass „die Einsatzbereitschaft im Beruf zurückgeht“. Auf die Frage „Ist in Deutschland der, der sich anstrengt und viel arbeitet, allmählich der Dumme?“ antworten von den Befragten mit niedrigem sozioökonomischen Status 67 Prozent mit „Ja“, mit mittlerem Status sind es 55 Prozent, während es mit hohem Status nur 38 Prozent sind. Eine Mehrheit der Befragten sagt, dass die Bereitschaft der Menschen, im Beruf großen Einsatz zu zeigen, in den letzten Jahren eher abgenommen als zugenommen hat. 

Nun bringen die Meinungsforscher das mit der Höhe der staatlichen Unterstützung bei Nicht-Arbeit („Bürgergeld“ etc.) in Verbindung, die kaum niedriger liegt als die Arbeits-Löhne in den unteren Lohngruppen. Man vermutet also eine Demotivierung „von unten“ und das ist seit längerer Zeit die vorherrschende Sichtweise. Sie hat durchaus ihre Berechtigung, aber sie verdeckt eine andere Demotivierung, die noch folgenreicher ist. Es gibt eine andere Form fehlender Leistungsbereitschaft, die gleichfalls durch einen riesigen und aufwendigen Apparat gefördert wird: die Schein-Arbeit durch eine aufgeblähte Akademisierung. Sie nimmt mittlerweile mehr als die Hälfte eines Bildungsjahrgangs in Anspruch. Hier geht es nicht um eine zu Untätigkeit verführte Unterschicht, sondern um die Verführung einer wuchernden „gehobenen“ Mittelschicht durch Schein-Beschäftigungen. Um eine „Demotivation von oben“, die alle anderen Arbeitsverhältnisse entwertet. Natürlich gibt es sehr anspruchsvolle wissenschaftliche Qualifikationen und akademische Berufe, ohne die ein modernes Land nicht denkbar ist – genauso, wie es in einem modernen Land unverzichtbare Sozial-Leistungen gibt. Aber all das muss in einem vernünftigen Verhältnis zur Produktivität eines Landes stehen. 

Die Inflation höherer Bildungsgänge 

In Deutschland ist viel von den Grenzen des Wachstums die Rede. Doch von einem völlig unverhältnismäßigen Wachstum ist erstaunlich wenig die Rede: vom Wachstum höherer Bildungsgänge. Die folgenden Zahlen zeigen, dass der Anteil der Studienanfänger pro Alters-Jahrgang von 1950 5,0 Prozent auf 2020 56,6 Prozent gestiegen ist. 

Die Entwicklung der Studienanfänger-Quote in Deutschland (1950 bis 2020):

JahrStudienanfänger pro Alters-Jahrgang
19505,0 Prozent
19606,0 Prozent
197012,0 Prozent
198019,5 Prozent
199030,4 Prozent
200033,5 Prozent
201046,0 Prozent
202056,6 Prozent

Die Bildungs-Ausgaben der öffentlichen Hand (Band, Länder, Gemeinden) sind von 1995 75,9 Milliarden Euro auf 2023 176,3 Milliarden Euro gestiegen. Man kann davon ausgehen, dass dies Wachstum ganz wesentlich auf das zunehmende Gewichte höherer Bildungsgänge zurückzuführen ist. Und dass dies Wachstum sich immer weiter von den Erfordernissen der Arbeitswelt gelöst hat. Ein Beleg dafür ist die Zahl der Studiengänge. Im Jahr 2008 gab es in Deutschland 13.000 verschiedene Studiengänge – was schon eine erstaunliche Zahl war. Aber im Jahr 2023 ist diese Zahl auf 21.000 Studiengänge gewachsen! Es liegt auf der Hand, dass hier ein Systemproblem liegt: Man kann im akademischen Bereich ständig zusätzliche Themen finden, die irgendeine feinere Unterscheidung oder neue Akzentuierung versprechen. Doch bedeutet „Thema“ nicht, dass daraus irgendwelche Produktivitätsgewinne folgen, die die Kosten solcher „höheren Bildung“ und „höheren Arbeitsplätze“ tragen könnten. Wenn Jahr für Jahr mehr als die Hälfte eines Jahrgangs auf diese Bahn geschickt wird, gerät das Gesamtgebäude einer Gesellschaft in eine unhaltbare Schieflage. 

Wenn „Bildung“ an die Stelle von „Leistung“ tritt 

Man kann diese Schieflage präzisieren: Es bildet sich in der Mitte der Gesellschaft ein beträchtlicher, vielfältig zusammengesetzter Sektor heraus, der über sogenanntes „höheres Wissen“ verfügt und entsprechend höhere Einkommen beansprucht. Aber die Arbeitswelt dieses Sektors unterliegt nicht den harten Zwängen und Maßstäben, denen die Arbeitswelt der „Realberufe“ unterliegt, der jetzt die Arbeitskräfte ausgehen. Die Arbeitswelt der so stark angeschwollenen höheren Mittelklasse, ist ganz überwiegend eine weiche Welt. Naturnähe bedeutet hier nicht Knappheit, Gefahr, Mühe, Anpassungszwang. Hier muss einer gegebenen Welt nichts abgerungen werden, sondern hier herrscht eine wunderbare Leichtigkeit, Erneuerbarkeit, Gratis-Produktivität. Man muss sich die Hände nicht schmutzig machen, sondern braucht eine großzügige Natur nur „selber machen“ lassen. Alles das, was anstrengend, monoton, widrig ist, wird jener bemitleidenswerten, bildungsfernen, aus der Zeit gefallenen „alten Mitte“ überlassen, die gar nicht mehr als Mitte der Gesellschaft anerkannt ist.So sind höhere Bildungsabschlüsse zu einer Art Adelstitel geworden, der ein Anrecht auf eine leichte Welt und auf „Renten“ mit sich bringt – „Renten“ verstanden als Positions-Einkünfte, die in keiner Relation zu einer erbrachten Leistung stehen. Je mehr dieser „gehobene“ Sektor wächst und um sich greift, sinken alle anderen Bildungsgänge und Arbeitswelten herab zu „Verliererwelten“, die man kaum noch eines Blickes würdigt. Der dortige Alltag ist zu „langweilig“, um wirklich einmal genau angeschaut zu werden. Und diese herablassende Behandlung gilt auch ganz brutal materiell: Da gibt es eine ständige wachsende gehobene Mittelklasse mit Haushalts-Einkommen von 5000, 10000 oder 15000 Euro pro Monat, die dann Güter und Dienste von anderen Menschen erwarten, die nur 1000, 1500 oder 2000 Euro erhalten. Und dabei viel härteren und engeren Arbeitsbedingungen unterworfen sind. 

Der Gesellschaftsvertrag ist zerbrochen 

Damit wird das, was man den modernen Gesellschaftsvertrag nennen kann, zerbrochen. Dieser Vertrag, der nicht auf Positionen und Rängen beruhte, sondern auf messbaren Leistungen, gilt nicht mehr. „Leistung“ gilt nun als falscher, primitiver Maßstab. An die Stelle der Arbeit tritt ein neuer Maßstab. Die Legitimität der gesellschaftlichen Verhältnisse, wird daran gemessen, ob sie „sozialen Aufstieg“ ermöglichen. Damit sind Arbeit und Arbeitsleistung aus dem normativen Zentrum der Gesellschaft entfernt. Normativer Maßstab sind jetzt die höheren Bildungsgänge und Berufe. Die Realberufe sind nun zu „niederen Berufen“ degradiert, die von Menschen ausgeübt werden, die „es nicht geschafft haben“. Sie werden offen oder insgeheim als Verlierer-Berufe angesehen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum in Deutschland nun der große Rückzug aus der Arbeit begonnen hat. Man hört besorgte Fragen, als hier irgendeine rätselhafte psychische Krankheit ausgebrochen: „Wo sind sie nur geblieben?“. „Wie können sie das nur tun?“. Dabei ist dieser Rückzug völlig logisch. Er ist die Antwort auf den Bruch des Gesellschaftsvertrags. Auf die Gleichgültigkeit und Arroganz, mit der die Zufriedenheit und Anerkennung zerstört wurde, die man zuvor als Facharbeiter oder angelernter Arbeiter finden konnte. Jetzt kommt die Quittung. Der Rückzug aus der Arbeit ist keine geplante Aktion und kein symbolischer Aktivismus, sondern eine tieferliegende, gesellschaftliche Reaktion: ein nachhaltig und auf breiter Front sinkender Einsatzwille. Die Bereitschaft, einer besserwissenden, besserverdienenden „Zivilgesellschaft“ die Lasten dieser Welt abzunehmen, ist drastisch gesunken. Diese Bereitschaft ist durch etwas mehr Geld nicht wiederherzustellen. 

Die Parallelwelt wird zur zerstörerischen Alleinherrschaft 

Von der „Großen Transformation“ ist nur noch eine Negativ-Agenda übriggeblieben, die Katastrophenszenarien und Feindbilder beschwört, um dann tragende Säulen von Marktwirtschaft und Republik zu opfern. (Wie Deutschland ein anderes Land wurde, Teil II)

Die Parallelwelt wird zur zerstörerischen Alleinherrschaft 

März 2024

Zu Beginn dieses Artikels wurde dargestellt, wie sich die Bundesrepublik nach dem 2. Weltkrieg zunächst 30 Jahre industrieller Prosperität und krisenfester Demokratie erarbeitet hat (vom Ende der 1940er Jahre bis Ende zum 1970er Jahre). Deutschland wurde ein modernes Land, in dem Produktivität und freiheitliche Demokratie geachtet wurden. Gegenüber Heilsbotschaften herrschte eine gesunde Skepsis, und man war sich auch seiner begrenzten Möglichkeiten als mittelgroßes Land bewusst. Doch dann begann jener längere Prozess, an dessen Ende Deutschland ein fundamental anderes Land wurde. Die erste Phase dieses Prozesses wurde schon skizziert: In den dreißig Jahren vom Ende der 1970er Jahre bis zum Ende der 2000er Jahre bildete sich neben der bisherigen Bundesrepublik eine Parallelwelt aus. Noch kippte nicht das ganze Land, aber ein größerer Sektor der Gesellschaft – der sich vornehmlich aus den Bereichen der Dienstleistungen, der Wissenschaften und der Künste rekrutierte – verselbständigte sich. Er koppelte sich in seinem Wachstum von der industriellen Wertschöpfung ab, und er bildete auch eine eigene Öffentlichkeit aus, in der „weiche Faktoren“ („soft power“) die Hauptrolle spielten und die tätige Auseinandersetzung mit den harten Widrigkeiten dieser Welt immer weniger Wertschätzung fand. Doch damit war das Ende des Verwandlungsprozesses noch nicht erreicht. Deutschland trat in eine zweite Phase fundamentaler Veränderungen ein. Wenn man im Zeitrhythmus von 30 Jahren bleibt, hat diese Phase am Ende der 2000er Jahre begonnen und könnte bis zum Ende der 2030er Jahre dauern. Damit sind wir bei den heutigen deutschen Zuständen angelangt. 

Kapitel 3: Die Parallelwelt ergreift die Macht und wird zerstörerisch 

Im Vergleich zur vorhergehenden Phase treten zwei wesentliche Veränderungen hervor. Erstens wird das, was die moderne Zivilisation bisher ausmachte und was noch immer die Arbeit und das Leben der Mehrheit prägt, nun ausdrücklich als Fehlentwicklung und „ohne Zukunft“ dargestellt. Das, was bisher nur eine Parallelwelt war, drängt nun zur Alleinherrschaft. Zweitens hat diese „neue Welt“ gar kein positives Programm mehr zu bieten. Sie ist nun ganz und gar ein Negativprogramm. Das Eigene wird nicht mehr positiv entwickelt und der Beweis erbracht, dass es die Gesamtheit des Landes tragen kann. Nein, es geht nur noch darum, die modernen Grundlagen von Wirtschaft und Staat, die das Land sich nach dem 2. Weltkrieg erarbeitet hatte, zu entwerten und zu beseitigen. Man belastet die Betriebe und Infrastrukturen mit unbezahlbaren Abgaben oder unerfüllbaren Auflagen. Oder man setzt sie ganz direkt außer Betrieb. Die bisher noch verbliebene Kontinuität zu den ersten 30 Jahren der Bundesrepublik wird nun wirklich abgebrochen. So wird bewusst und aktiv eine Notlage hergestellt. Das soll die neue Normallage sein, an die die Bevölkerung gewöhnt werden soll. 

Die Politik der „Wenden“ 

Solange der oben beschriebene Sektor nur eine Parallelwelt darstellte, konnte man noch von einem Nebeneinander unterschiedlicher Daseinsformen und politischer Strömungen sprechen. Der Sektor dehnte sich aus, er eroberte Positionen in Staat und Wirtschaft, aber er konnte noch nicht andere politische, wirtschaftliche, technische, kulturelle Existenzen und Interessen verdrängen und vernichten. Doch in der Phase, die Ende 2000er Jahre anbricht, geht es um die politische und soziale Alleinherrschaft dieses Sektors. Dieser Anspruch auf Alleinherrschaft ist im Begriff der „Wende“ enthalten, der nun zum Oberbegriff für alle politischen, wirtschaftlichen und technischen Veränderungen wurde. Denn „Wende“ meint ja nicht eine graduelle Veränderung, die Kontinuitäten wahrt und durch neue Elemente ergänzt – dafür gibt es den Begriff „Reform“. Das Wort „Wende“ wird dort gebraucht, wo Kontinuitäten gebrochen werden sollen. Das muss man immer bedenken, wenn von „Agrarwende“, „Verkehrswende“, „Energiewende“, „Bildungswende“ oder gar „Zeitenwende“ die Rede ist.

Von der „Autowende“ ist nur eine Negativ-Agenda geblieben 

Das Beispiel der Autoindustrie zeigt, wie bei diesen Wenden dann mehr und mehr die Negativseite – das „Weg mit!“ – in den Vordergrund trat. Von dem Versprechen einer ganz neuen „elektrifizierten“ Automobilära ist nur das Ausstiegsprogramm geblieben: Das Ende des Automobils mit Verbrennungsmotor ist beschlossene Sache. Das große E-Mobil-Versprechen hat sich als unbezahlbar erwiesen. Und auch als umweltschädlich. Seit viele Subventionen, die die E-Mobilität versüßen sollten, gestrichen wurden, sind die Verkaufszahlen radikal rückläufig. Diese „Innovation“ ist also an technischen Realitäten gescheitert. Nun regiert das ersatzlose, kalte „Weg mit!“. Millionen von Menschen verlieren ihr Fahrzeug. Das Automobil als Massenverkehrsmittel wird abgeschafft. Und das schlägt auch auf die Siedlungsstruktur durch: Viele Wohn- und Arbeitsstandorte außerhalb der Städte sind nur noch mit extremem Aufwand erreichbar. Eine flächendeckende Voll-Versorgung mit öffentlichen Verkehrsmitteln wäre der blanke Wahnsinn – ein riesige Verschwendung von Material, Energie, Arbeit und Geld.   

Katastrophenszenarien und Feindbilder 

Eine Zeitlang sah es so aus, als würde der Wettstreit im Lande darum gehen, wie man das Gute durch etwas Besseres ersetzen kann. Aber in der Phase, die Ende der 2000er Jahre begann, bekam eine Negativ-Logik die Oberhand. Das zeigte sich nicht nur im Ausstieg aus bewährten Technologien, sondern auch in der Begründung dieses Abbruchs: Die sogenannte „CO2-Strategie“ wird nicht mehr damit begründet, dass die alternativen Energieträger so wunderbar funktionieren, sondern mit einer finsteren Drohung: Eine Überhitzung des Planeten wird unumkehrbar stattfinden, wenn nicht in kürzester Zeit die CO2-Emissionen ohne Rücksicht auf Verluste zurückgefahren werden. So ist auch die öffentliche Rede über die Energiewende immer mehr zur Drohrede geworden. Jedes ungewöhnliche Wetterereignis wird als Zeichen einer nahenden Klimakatastrophe gelesen. Und es gibt auch eine „ökonomische“ Rechnung ex negativo: Es lohnt sich, Sachwerte in Billionen-Höhe zu vernichten, weil ansonsten noch größere Opfer (durch Umwelt-Katastrophen) ins Haus stehen. Den positiven Beweis, dass die CO2-Strategie wirklich die Umwelt-Schäden in Deutschland senkt, hat allerdings noch niemand erbracht. Die positive Wirksamkeit dieser Strategie ist also hochspekulativ, während die Opfer dieses Programms sehr real sind. Sie schneiden tief in Arbeit und Leben von Millionen ein. Und diese Opfer müssen sofort erbracht werden. Man kann von einer aktiven Herbeiführung einer Notlage sprechen. Das ist im Laufe der Jahre 2022 und 2023 drastisch klargeworden. Seitdem gibt es eine spürbare Bedrückung und einen spürbaren Zorn im Land.  

Deutschland im Notstands-Modus? 

Am 24.3.2021 hat der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ein Urteil zum Klimaschutzgesetz gefällt. Dort wurde nicht nur ein bestimmtes Welt-Temperatur-Ziel für „verfassungsrechtlich maßgeblich“ erklärt, sondern auch die CO2-Stategie in den Rang eines Verfassungsgebots erhoben: der Ausstieg aus allen Produktionsverfahren, Kraftwerken, Heizungen, Verkehrsmitteln, bei denen es zur Verbrennung von fossilen Energieträgern kommt. Die Grundlogik des Urteils ist negativ: Der Zentralbegriff lautet „Freiheitsbeschränkungen“ – im Namen des „Klimaziels“ werden elementare Verfassungsrechte wie zum Beispiel die Gewerbe- und Berufsfreiheit eingeschränkt. Seltsame Verfassungsrichter: In ihrem Urteil geht es nur noch darum, wie Freiheitsbeschränkungen zeitlich zu verteilen sind. Die folgende Passage bringt das deutlich zum Ausdruck: „Die Freiheitsbeschränkungen fallen darum milder aus, je mehr Zeit für eine solche Umstellung auf CO2-freie Alternativen bleibt, je früher diese initiiert wird und je weiter das allgemeine CO2-Emissionsniveau bereits gesenkt ist. Muss sich eine von CO2-intensiver Lebensweise geprägte Gesellschaft hingegen in kürzester Zeit auf klimaneutrales Verhalten umstellen, dürften die Freiheitsbeschränkungen enorm sein.“ (zitiert aus der FAZ vom 5.5.2021) Das BVerfG erklärt also ein möglichst frühes Einsetzen der Freiheitsbeschränkungen zum Verfassungsgebot. Die Wortwahl ist beschönigend: Es ist von Beschränkungen die Rede, die „milder ausfallen“, wenn „die Initiierung der Umstellung“ möglichst früh erfolgt. Eine ernsthafte Überprüfung der Frage, ob der Stand der Technik so ist, dass eine Umstellung auf gleichwertigen Ersatz überhaupt möglich ist, gibt es nicht. Stattdessen ist von einer „CO2-intensiven Lebensweise“ der Gesellschaft die Rede, als handele es sich bloß um eine Lebensstil-Frage.  

Ein Ausnahmezustand auf unbestimmte Zeit

Das Karlsruher Klima-Urteil vom 24.3.2021 muss in sehr viel ernsteren Begriffen charakterisiert werden. Es legitimiert schwere Eingriffe in Verfassungsrechte, die man als Zwangsbewirtschaftung bezeichnen kann. Auch eine Zwangsverschuldung ist im Spiel, wenn man bedenkt, dass in Deutschland und EU-Europa dreistellige Milliarden-Beträge außerhalb der regulären staatlichen Haushaltsführung für die „Klimarettung“ eingesetzt werden. Zur Legitimierung dieses dem Lande auferlegten Zwanges wird im Grunde eine Art „Klima-Notstand“ behauptet. Und dieser Notstand ist eigentlich unbefristet, denn für die Wirksamkeit der Maßnahmen gibt es keinen eingrenzbaren Zeitrahmen. Die „Klimarettung“ läuft also auf einen endlosen Spannungszustand hinaus. Und für diesen neuen Dauerzustand stände Deutschland nur mit einem eingeschränkten Grundgesetz da. Es würde ständig im Ausnahmezustand regiert. Und dieser Notstand wurde nicht in einem ordentlichen rechtsstaatlichen Verfahren, unter maßgeblicher Beteiligung der Legislative (Bundestag und Bundesrat), festgestellt – sondern nur durch die Judikative, durch.ein Gerichtsurteil. 

Aus lösbaren Problemen sind endlose Krisen geworden 

Das Klimaurteil des BVerfG ist ein gefährlicher Präzedenzfall. Denn hier wird im Namen einer Einzel-Krise eine Negativlösung (CO2-Strategie) über die Gesamtheit von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verhängt. Und es gibt weitere, ähnlich absolute Notlagen, die absolute „Rettungsmaßnahmen“ erfordern, die nicht mehr mit anderen Rechtsgütern abzuwägen sind. Das ist das neue Charakteristikum der Entwicklungsphase, die seit dem Ende der 2000er Jahre begonnen hat und in deren Bann Deutschland immer mehr steht. Ein frühes Beispiel ist das Tsunami-Unglück im fernen Japan (Fukushima), dessen Bild-Gewalt hierzulande einen so starken Eindruck hinterließ, dass man sogleich den Ausstieg aus der Kernenergie beschloss. Heute erweist sich dieser Beschluss als törichter Kurzschluss. Ein zweites frühes Beispiel ist die Schuldenkrise, die in Deutschland als Aufgabe der „Eurorettung“ dargestellt wurde. Bis heute ist diese Schuldenkrise, die viele Länder erfasste, nicht durch eine realwirtschaftliche Verbesserung der Wertschöpfung gelöst, sondern nur durch eine Politik des billigen Geldes überdeckt. Diese Politik wurde vor allem durch die Europäische Zentralbank (EZB) mit der radikalen Devise „Whatever it takes“ (Mario Draghi 2012) betrieben. Nur vor dem Hintergrund dieser Politik des billigen Geldes sind dann die leichtinnigen Entscheidungen getroffen worden, die die Belastungen von Wirtschaft und Staat in Deutschland und anderen Ländern signifikant erhöhten.    

Massenmigration und „Weltschuld“ 

Die Migrationskrise fing mit einzelnen Grenzüberschreitungen an, die schon den Druck erahnen ließen, den Entwicklungskrisen erzeugen können, wenn sie sich in Migrationsbewegungen verwandeln. Die Entwicklungskrisen sind eigentlich innere Fehlentwicklungen von Ländern, in unserer Zeit besonders in Teilen Afrikas und des Nahen oder Mittleren Ostens. Sie können nur durch innere Veränderungen in diesen Ländern behoben werden. Die Entladung in Migrationsbewegungen, bedeutete eine Internationalisierung der Entwicklungskrisen – also keine Lösung, sondern nur eine Verschiebung. So geschah es 2015. Indem Europa und besonders Deutschland dem nachgab, trug es dazu bei, die eigentlichen Krisen unlösbar zu machen. Doch man schwor hoch und heilig, dass sich 2015 „nicht wiederholen“ würde. Und nun befindet sich Deutschland mitten in einer noch größeren Immigrationswelle – und schwimmt darin genauso hilflos wie 2015. Nichts ist geschehen, um die Entladung von Entwicklungskrisen in Migrationskrisen durch staatliche Souveränität und Wehrhaftigkeit zu verhindern. Es wurde eine entwurzelte Bevölkerung ins Land gelassen. Sie wurde den Bürgern in Städten und Landkreisen vor die Tür geschaufelt. Mehr noch: Auf diesem Boden ist inzwischen eine Schuld-Erzählung gewachsen. Diese Erzählung läuft darauf hinaus, dass Deutschland und andere weiter entwickelte Länder (bis hin zu Israel) an den Entwicklungskrisen in Afrika oder dem Nahen und Mittleren Osten „schuldig“ sein sollen. So versteht sich eine wachsende Zahl von Migranten nun als die gerechten Eintreiber dieser Schulden. Auch hier ist also eine Negativ-Agenda zur Herrschaft gekommen: Der in Deutschland aufgebaute Wohlstand wurde zur „Weltschuld“ umgewertet.   

Und nun ein großer Krieg? 

Die Entwicklung in der Ukraine mit ihren immensen Opfern und der ganz akuten Gefahr einer neuen Eskalation führt dazu, dass eine wachsende Zahl von Menschen sich fragt: Wie sollen wir aus diesem Kriegszustand je wieder herausfinden? Wie sind wir überhaupt in diese Situation hineingeraten? Als die Ukrainer Anfang der 1990er Jahre mit großer Mehrheit für die Unabhängigkeit ihres Landes stimmten, hatten sie keineswegs eine Ukraine zum Ziel, die das starke und wertvolle russische Element aus dem Land ausschloss und die gewachsenen Verbindungen mit Russland zerschnitt. Auch hätten viele der Menschen, die Anfang der 2010er Jahre auf dem Majdan demonstrierten, einer blutigen Unterwerfung der östlichen Landesteile damals wohl nicht zugestimmt. Man kann es auch prinzipieller sagen: Eigentlich ist doch klar, dass Kiew mit der Hypothek einer gewaltsamen Unterwerfung des Donbass nicht glücklich werden kann. Ebenso wenig kann Moskau mit der Hypothek einer Annektierung der Ukraine glücklich werden. Doch hat die Ukraine-Krise eine sehr merkwürdige und sehr gefährliche Eigendynamik bekommen. Sie wird inzwischen mit extremen Feindbildern und medialen Schreckens-Inszenierungen geführt. Und zugleich werden die luftigsten Illusionen über einen Krieg, der klinisch sauber mit Fernwaffen und künstlicher Intelligenz gewonnen werden könnte, in die Welt gesetzt. Auf dieser Basis scheint hier „der Westen“ noch einmal angetreten zu sein, um einen großen Krieg zu gewinnen. Eigentlich ist der Versuch, auf diese Weise die Führungsrolle in der Welt zurückzugewinnen, ein historischer Rückfall, ein Anachronismus. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich die Vorstellung, in der Ära der Moderne liefe alles immer wieder auf den Kampf um ein Monopol der Weltführung hinaus, stark relativiert. Die heutige Welt hat sich Schritt für Schritt in Richtung auf eine multipolare Weltordnung bewegt. Allerdings gibt es neben dieser Entwicklung auch verschiedene „große Erzählungen“, die globale Machtansprüche begründen sollen. Dazu gehört auch die Erzählung, dass mit den Ereignissen von 1989 „der Westen“ einen Sieg mit globaler Wirkung errungen habe. Mit dieser Deutung war es nur ein kleiner Schritt, um aus „1989“ die Ermächtigung abzuleiten, nun von außen in den verschiedensten Krisenländern zu intervenieren und einen „Regime change“ und ein „nation building“ ins Werk zu setzen. Die Ergebnisse dieser Politik sind ernüchternd. Für die betroffenen Länder waren sie oft verheerend. Mit dem (ersatzlosen) Sturz etablierter Mächte wurden Länder in ein unregierbares Chaos gestürzt. So ist die Außenpolitik westlicher Länder in einer schlechten Unentschiedenheit befangen: Man sagt einerseits, dass die Zeiten des ferngesteuerten „Regime change“ vorbei sind (nach dem Scheitern in Afghanistan). Und gleichzeitig scheint der Westen in der Ukraine noch einmal zu einem großen „Roll Back“ antreten zu wollen.   

Die zerstörerische Macht der „Erzählungen“ (1) 

Zur Eigenart der Ukraine-Krise gehört, dass hier eine sehr große Negativ-Erzählung im Spiel ist. In dieser Erzählung wird „Putins Russland“ nicht nur unterstellt, dass er die ganze Ukraine annektieren will, sondern auch, dass Russlands Soldaten nach der erfolgten Einverleibung der Ukraine gleich weiter nach Westen marschieren würden. „Russland führt einen Krieg in Europa“ lautet eine hierzulande häufig gebrauchte Formel. Diese Entgrenzung des Krieges hat mit dem tatsächlichen Frontverlauf nichts zu tun, aber Erzählungen bewegen sich in der sehr dehnbaren Sphäre der Zeichen und Bedeutungen. In dieser Sphäre kann „Putin“ zu dämonischer Größe wachsen. Und eine zweite Dämonisierung ist viel fundamentaler und gefährlicher: die Dämonisierung Russlands. In Deutschland ist es gängige Münze, Russland als „imperialistische Macht“ zu charakterisieren. Das aber würde bedeuten: Es gehört zum inneren Wesen Russlands, nach gewaltsamer Eroberung zu streben. Es kann gar nicht anders als sein Heil in einer gewaltsamen Expansion zu suchen. Ein so fundamentales Feindbild hat eine fatale Konsequenz: Europa kann nur Frieden finden, wenn es Russland zerstört. Wenn es sein Staat und seine Wirtschaft nachhaltig ruiniert. Dieses „nachhaltig zerstören“ geistert tatsächlich durch zahlreiche Statements, darunter des Wirtschaftsministers und des Finanzministers aus Deutschland. Solange diese Russland-Erzählung herrscht, wird der Westen aus diesem Krieg nicht herausfinden. 

Die zerstörerische Macht der „Erzählungen“ (2) 

Die Kiewer Regierung ist militärisch in eine schwierige Lage geraten. In der Bevölkerung wachsen die Zweifel. Das ist ein wichtiger Moment: Es gibt eine Chance, den Kriegseinsatz zurückzufahren und zu einem Waffenstillstand zu kommen. Dazu ist wichtig, dass jetzt von den Mächten, die Kiew unterstützen, Signale der Mäßigung kommen und eindeutige Grenzen der Unterstützung sichtbar gemacht werden. In den USA, in Frankreich und in Deutschland ist die Bevölkerung mehrheitlich für eine solche Begrenzung. Aber es gibt auch prominente Stimmen, die für das glatte Gegenteil eintreten und „weittragende“ Waffen in Aussicht stellen, mit denen ein „Sieg über Russland“ doch noch möglich sein soll. So hat Roderich Kiesewetter, ein führender CDU-Politiker in einem Interview mit der „Deutschen Welle“ folgendes gesagt: „Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere müssen zerstört werden. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern Ministerien, Kommandoposten, Gefechtsstände.“ Hier werden militärische Ziele in Russland benannt und gefordert, dass Deutschland die dafür notwendigen Waffen liefert. Es gibt eine beträchtliche Zahl ähnlicher Stimmen, die eine Eskalation ins „Weittragende“ befürworten – sowohl in der Regierung als auch in der Opposition. Es muss befürchtet werden, dass ein Eskalations-Antrag im Deutschen Bundestag eine Mehrheit finden würde. Man könnte einwenden, dass das alles nicht so ernst gemeint sei. Den Krieg würden ja bloß die Ukrainer führen. Und wir wollen den Ukrainer eigentlich nur „Mut machen“.  Aber die Politik ist nicht nur für die guten Worte verantwortlich, in die sie ihre Entscheidungen kleidet, sondern auch für die realen Folgen dieser Entscheidungen. Und diese Folgen sind: Kriegserweiterung und Kriegsverlängerung. 

Die zerstörerische Macht der „Erzählungen“ (3) 

Man vergleiche einmal die Stellungnahmen führender deutscher Politiker zur jetzigen Konfrontation mit Russland mit den Stellungnahmen in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Was für ein Unterschied und was für ein Widersinn! Damals, in Zeiten der kommunistischen Herrschaft in Russland und Osteuropa, konnte man mit einigem Recht von einer Bedrohung sprechen. Es fehlte nicht an ernsten Konfrontationen wie der Berlin-Blockade, dem Bau der Berliner Mauer, der Militärintervention gegen den Prager Frühling. Aber welcher Kanzler oder Außenminister, ob von CDU/CSU, SPD oder FDP hätte sich zur Forderung nach „weittragenden Waffen“ verstiegen? Sie haben Vorsicht und Zurückhaltung walten lassen. Und man hat ihnen damals auch nicht vorgeworfen, deswegen „Moskaus Freunde“ zu sein. Die Eskalation der deutschen Tonlage kann nicht damit erklärt werden, dass Russland eine gefährlichere Macht als früher geworden ist. Nein, die Mischung von Zerstörungswillen und Leichtsinn zeugt von der Veränderung, die mit Deutschland geschehen ist. In diesem Land findet sich inzwischen eine gefährliche Bereitschaft, die eigenen Errungenschaften aufs Spiel zu setzen und reale Güter für spekulative Ideen zu opfern. Diese Bereitschaft hat keineswegs von der ganzen Gesellschaft Besitz ergriffen, und vieles ist sicher auch bloßes Schwadronieren. Aber so kann man in einen Krieg hineinschlittern. Einen Krieg, den man eigentlich „gar nicht gewollt hat“.  

Das Menetekel 1914 

In mancher Hinsicht erinnert die Situation an 1914 oder überhaupt an das Jahrzehnt, das in die „europäische Urkatastrophe“ von 1914 führte. Natürlich muss es so nicht ausgehen. Geschichte wiederholt sich nicht. Was für einen Rückblick auf die Konstellation zu Beginn des 20. Jahrhunderts spricht, ist die Tatsache, dass es damals nicht nur eine Verharmlosung des drohenden Krieges gab, sondern auch eine gewisse Zivilisationsmüdigkeit und die Sehnsucht nach einer „reinigenden“ Gewaltkur. Beim Lernen aus der Geschichte steht heute meistens „1933“ und überhaupt die totalitäre Gefahr von rechts und links im Vordergrund. Aber ein Blick auf „1914“ wäre heute mindestens ebenso wichtig.  

Eine Zwischenbilanz 

Eine Zwischenbilanz für das Deutschland unserer Gegenwart muss tatsächlich einen fundamentalen Wandel feststellen: Was als abgehobene und selbstbezogene Parallelgesellschaft (der „Sektor“) entstand, ist inzwischen zu einer tonangebenden Macht geworden. Und diese Macht ist immer stärker zu einer zerstörerischen Negativ-Macht geworden. Erst in der Gesamtschau der Jahrzehnte und der verschiedenen Handlungsfelder zeigt sich der gemeinsame Grundcharakter und die Grundrichtung der Entwicklung. So wird verständlich, warum die Bilanzen für Wirtschaft und Staat so schlecht ausfallen, und warum sich in der Gesellschaft ein Gefühl der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit ausbreitet. 

Aber ist das wirklich alles? Ist die heutige Negativspirale wirklich so mächtig, dass sie das ganze Land und die ganze Zukunft in Beschlag nehmen kann? Das hieße ja, dass der „Sektor“ alle anderen Fähigkeiten, Ressourcen, Erfahrungen und Interessen im Land völlig in Beschlag nehmen kann. Dass er sie sich einverleiben kann. Dass aus einer Parallelgesellschaft auf einmal „die Gesellschaft“ schlechthin wird. Und „die Wirtschaft“, „der Staat“, „die Arbeit“ und „die Demokratie“. Ja, so treten sie auf. Sie sind große Erzähler. Und starke Schauspieler. Doch es lohnt sich, einmal durch das so aufdringliche Krisentheater hindurchzuschauen. Und zu prüfen, ob es in diesem Land nicht etwas anderes gibt. Nein, ein bequemes Vor-Sich-Hin-Leben ist dann nicht in Sicht, sondern sehr elementare, hartnäckige Knappheiten und Widrigkeiten, aber mit greifbaren, im Rahmen unserer modernen Zivilisation schon bewährten Lösungen. Und eine Gesellschaft im Schatten, die sich darin bewährt hat. So könnte, diesseits der heute so aufdringlich herrschenden und sich allmählich erschöpfenden großen Erzählungen, eine Vorstellung von neuen Jahrzehnten entstehen, in denen Deutschland allmählich wieder auf einen anderen Kurs findet. 

Wie Deutschland ein anderes Land wurde 

Die gegenwärtigen Krisen sind keine vorübergehende Schwächeperiode, sondern Teil einer großen Zivilisationskrise, die sich über mehrere Stufen aufgebaut hat. (Ein Essay in vier Teilen)

Wie Deutschland ein anderes Land wurde 

März 2024

Die Bundesregierung hat ihre Wachstumsprognose für das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2024 von 1,3% auf 0,2% gesenkt. Das ist eine krasse Senkung. Für eine Regierungskoalition, die behauptet, dass sie – und nur sie – die Zukunft Deutschlands repräsentiert, ist es eine Bankrott-Erklärung. Ihre Politik der großen Transformation bringt dem Land alles andere als einen „New Deal“. Und vor dem Hintergrund des stagnierenden Bruttoinlandsproduktes bekommen die rasant steigenden Schulden nun ein viel größeres Gewicht: Zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik ist ihre finanzielle Solidität wirklich erschüttert.   

Doch die vorherrschende politische Rhetorik tut so, als wäre eine neue Prosperität mit noch mehr Geld auf Pump zu kaufen. Zur Beschreibung der Situation werden nur Konjunktur-Worte angeboten. Alles soll im gewohnten Rahmen von „Rezession“ oder „Aufschwung“ bleiben. sein. Eine Besserung ist greifbar nah, man muss nur ein bisschen nachhelfen. Die Möglichkeit, dass Deutschland sich in eine historische Sackgasse manövriert hat, kann so gar nicht die Worte finden, um überhaupt zur Sprache zu kommen. Das gilt auch für die ständig wiederholte Redewendung, das Land habe ein Problem mit „zu viel Bürokratie“. Ist das Ziel der der „Klima-Neutralität“ etwa ein Bürokratie-Problem? Oh nein, für dies Ziel werden Entscheidungen getroffen, die tief in die Produktionsabläufe eingreifen und die Wertschöpfung soweit senken, dass viele Betriebe und Arbeitsplätze vor dem Aus stehen. Es geht um Stilllegung von Kraftwerken, Verbot von Motoren, von Heizungen, von Herstellungsverfahren, bei denen fossile Energieträger genutzt werden. Ganze Industriezweige, für die es keine praktikablen technischen Alternativen gibt, werden mit unbezahlbaren Steuern belegt oder gleich zum Abschalten gezwungen. Die offizielle Rhetorik spricht bei dieser gezielten Herstellung einer Notlage, die in Deutschland inzwischen unübersehbar ist, immer noch von „Anreizen“, die zum Erfinden von etwas „ganz Neuen“ führen würde. Aber viele im Land wissen nicht, wie sie das nächste Jahr überstehen sollen. Oder auch nur über den nächsten Monat kommen sollen. 

Eine Zivilisationskrise 

Deutschland ist zu einem Land geworden, indem eine – durchaus beträchtliche – Minderheit einer – erheblich größeren – Mehrheit verkündet: Eure Verkehrsmittel sind falsch und Eure Heizungen sind falsch. Ihr arbeitet falsch. Ihr esst falsch und Ihr kleidet euch falsch. Ihr habt die falschen Reiseziele, hört die falsche Musik und richtig lieben könnt Ihr auch nicht. Kurzum: Ihr führt das falsche Leben. Ist es da erstaunlich, wenn in den verschiedensten Bereichen Krisen ausbrechen? Wenn es im Land an allen Ecken und Ecken fehlt? Es ist viel von einer Regierungskrise die Rede und manche setzen darauf, dass ein rascher Regierungswechsel die Dinge zum Guten wenden könnte. Aber das Problem liegt tiefer: Dies Land ist auf einen Konfrontationskurs mit der modernen Zivilisation geraten. Dieser Kurswechsel geht nicht auf einen einsamen Entschluss von ein paar Super-Reichen und Super-Mächtigen. Es gab keine plötzliche „Machtergreifung“, sondern einen breiteren und längeren sozialen Prozess. Aber dieser Prozess wird nicht von „der Gesellschaft“ als Ganzer getragen, sondern von einem bestimmten Sektor der Gesellschaft, der sich aus mehreren Schichten und Milieus zusammensetzt. Dieser durchaus beträchtliche und einflussreiche Sektor hat sich von der modernen Zivilisation entfremdet. Von den Knappheiten der realen Welt hat er gar keine Vorstellung mehr. Mit wirklicher Arbeit, die wirkliche Knappheiten mildert, hat er keine Erfahrung – weder mit ihren Mühen, noch mit der Befriedigung und Würde, die in dieser Arbeitswelt zu finden sind. Gegenüber dieser arbeitenden Moderne fühlt sich der „postmoderne“ Sektor zu Höherem berufen. Deshalb nimmt er die Zerstörungen und Opfer, die jetzt im Lande stattfinden, gar nicht als solche wahr. Die rasant steigende Verschuldung des Landes ist für ihn kein Problem. In diesem Sektor wird einfach von einer „schlechten Vergangenheit“ und einer „ganz neuen Zukunft“ fabuliert. So werden die schlechten Zahlen einfach zum Erlöschen gebracht. In der Welt dieses Sektors hängt ist alles eine Frage der richtigen „Erzählungen“. Auf dieser Basis wurden in Deutschland Machtpositionen in Staat und Wirtschaft besetzt und Positionen zerstört, von denen die Realitätstüchtigkeit dieses Landes abhängt. Deutschland ist ein anderes Land geworden.      

Eine kurze Geschichte der Bundesrepublik  

Die Aufgabe ist also, den allmählichen Prozess zu beschreiben, der Deutschland an diesen Punkt gebracht hat. Das sollte nicht in dem Sinn verstanden werden, dass es sich nur um ein „deutsches Problem“ handelt. In etlichen anderen Ländern der westlichen Welt gibt es vergleichbare Prozesse. Es geht also nicht um einen deutschen „Sonderweg“. Es geht aber auch nicht darum, gleich die ganze Moderne zu Grabe zu tragen. Es genügt, von einem bestimmten Zeitabschnitt in der Gesamtgeschichte der Moderne zu sprechen. Dieser Zeitabschnitt lässt sich in verschiedene Phasen unterteilen: Zunächst entsteht eine zivilisationsferne Parallelwelt, dann wird diese Parallelwelt dominant und schlägt in ein Negativprogramm um – in eine Zerstörung tragender Säulen der modernen Zivilisation. Das aber bedeutet nicht das Ende der Geschichte, denn auf dem negativen Höhepunkt dieser Zivilisationsabkehr, zeigt sich eine fundamentale Schwäche des „postmodernen“, „postindustriellen“ und „postkolonialen“ Sektors. Ihm fehlt es an Zugriff auf die Realität. Das Verdrängte erweist sich als unersetzlich und kehrt zurück. Doch der Reihe nach: Vor der eigentlichen Krisengeschichte muss eine gelungene Phase der deutschen Geschichte nach dem zweiten Weltkrieg beschrieben werden, die immerhin drei Jahrzehnte dauerte.

Das 1. Kapitel: Ein industrielles Land und eine ziemlich krisenfeste Demokratie 

Die 30 Jahre vom Ende der 1940er Jahre bis zum Ende der 1970er waren durch eine Prosperität geprägt, die sowohl Wohlstandsgewinne als auch eine Senkung der Schuldenquote ermöglichte. Dabei handelte es sich nicht nur um eine Phase des „Wiederaufbaus“ nach dem 2.Weltkrieg und auch nicht nur um das Ergebnis eines „Förderprogramms“ mit Dollar-Milliarden (Marshall-Plan“). Die eigentliche Grundlage war ein industrieller Produktivitätssprung, wie er in der Geschichte nur selten auftritt. Große, langlebige Konsumgüter wurden erstmals in großer Serie kostengünstig herstellbar (Haushaltselektronik, Automobile, Medien, Ton- und Bildträger, Eigenheime). Hohe Unternehmens-Investitionen ins Betriebskapital, die Zunahme und Verbesserung der Arbeitsplätze, staatliche Investitionen zur Erweiterung der technischen Infrastruktur (der Energie- und Verkehrsträger) und des Standort-Angebots in Stadt und Land gingen sichtlich Hand in Hand. Das begünstigte sozialpartnerschaftliche Lösungen. Das war auch die Grundlage, auf der die SPD mit dem Godesberger Programm (1959) ihren Frieden mit dem Kapital schließen konnte.      

In dieser Phase erreichte die Zahl der Industriebeschäftigten ihren historischen Höhepunkt. Sofern man von einer Mitte der Gesellschaft sprechen konnte, wurde sie von den Facharbeitern geprägt. Dazu gehörte auch das hohe Ansehen der dualen Berufsausbildung im Bildungssystem. Der Anteil der höheren Bildungsabschlüsse stieg zwar ab Mitte der 1960er Jahre an, aber er war noch nicht sozial maßgebend. In der deutschen Gesellschaft dieser Jahre war nicht der „Aufstieg“ in höhere Bildungs- und Berufskarrieren das Maß aller Dinge, sondern eine Lebensleistung als Facharbeiter oder Fachangestellter galt schon als wertvoll und würdig. An den Hochschulen spielten die wissenschaftlich-praktischen Fächer eine starke Rolle. In dieser Zeit wuchs auch eine Nachfolgegeneration heran, die noch bis in die 1990er und 2000er Jahre hinein die Exporterfolge des Automobilbaus, des Maschinenbaus oder der Chemieindustrie sicherte.  

Man könnte einwenden, dass in diese Phase doch schon die „68er“ auftauchen und in Politik und Kultur mancherlei „Revolutionen“ ausgerufen wurden. Aber ihr Einfluss in Wirtschaft und Staat war gering. Auch die Massenmedien spielten noch nicht die Rolle einer 4. Gewalt von eigenen Gnaden. Angesichts von Bedrohungen erwies sich die Republik als wehrhaft und klug. Kernenergie und Wehrdienst wurden von starken Mehrheiten gestützt. Dem Druck des RAF-Terrors wurde nicht nachgegeben. Auch der NATO-Nachrüstungsbeschluss wurde von einer standhaften Bevölkerungsmehrheit getragen. Es ist also nicht die völlige Abwesenheit von Krisen, die diese ersten 30 Jahre der Bundesrepublik auszeichnet, sondern die Fähigkeit zur wehrhaften Reaktion und auch zur Anpassung an Veränderungen.  

Das 2. Kapitel: Eine postindustrielle und postmoderne Parallelwelt bildet sich

Wenn man eine zweite Phase der Entwicklung Deutschlands wiederum mit 30 Jahren ansetzt, würde diese vom Ende der 1970er Jahre bis zum Ende der 2000er Jahre reichen. In dieser Zeit fand tatsächlich ein erheblicher Wandel statt. Neben der Welt, die noch fortbestand und sich – nun langsamer – weiterentwickelte, bildete sich ein Sektor heraus, der durch seine Größe und Stellung eine eigene Welt mit eigener Legitimation bilden konnte. Dabei spielten drei Bereiche, die zunehmend miteinander verknüpft waren, eine Schlüsselrolle: Erstens die Dienstleistungen, die stark wuchsen, wobei die gehobenen, mit der Beratung und Leitung von Menschen befassten Tätigkeiten eine Schlüsselrolle spielten. Zweitens die Wissenschaft und, damit verbunden, die höheren Bildungsgänge. Deren Anteil an einem Bildungsjahrgang überschritt In Deutschland die 50 Prozent-Marke und nähert sich heute den 60 Prozent. Bei diesem Wissenschafts-Wachstum dominierten nicht die anwendungsbezogenen, technisch-harten Fächer, sondern die theoretischen, kommunikativ-weichen Fächer. Drittens die Kultur, womit ein sehr weitläufiger und diffus schillernder Bereich besetzt wurde. Die neue Konjunktur des Kulturellen beruhte nicht auf einer ganz neuen Kunstepoche, sondern auf einer stärkeren Betonung von Stil und Lebensstil. 

Neben die Aufmerksamkeit für die Effizienz der Herstellung und den Gebrauchswert von Gütern trat nun stärker die Aufmerksamkeit für die Schönheit, Erhabenheit oder Frivolität eines Gegenstandes, eines Ortes, einer Situation. Das wurde nicht nur in der Zunahme von Theatern, Konzerthäusern und Museen sichtbar, sondern auch im Straßenbild in Schaufenstern, in Fassaden, in Märkten und Cafes. Das war durchaus ein Gewinn. Manche vorschnelle, platte „Modernisierung“ wurde revidiert und aufgebrochen. Man denke nur an die Rehabilitierung des baulichen Erbes in Stadt und Land. Und diese Rehabilitierung war Teil einer Verfeinerung und Differenzierung unterschiedlicher Lebensformen. Das war eine Bereicherung der modernen Zivilisation, und daran hatten auch die wachsenden Bereiche der Dienstleistungen und der Wissenschaft ihren Anteil. So wehte in dieser zweiten Phase der Geschichte durchaus ein gewisser Zauber und eine Leichtigkeit durchs Land, zumindest in den 1980er Jahren und dem Beginn der 1990er Jahre.   

Selbstabschließung in einer eigenen Welt 

Allerdings gab es von Anfang an einen Konstruktionsfehler dieser Leichtigkeit. Sie wurde von einem bestimmten sozialen Sektor, der in dieser Zeit rasch wuchs, besetzt und als Gegenwelt zur industriellen Welt verstanden. Sie wurde deshalb auch mit einer Abwertung der ersten Phase der Bundesrepublik verbunden. Das war keineswegs gerecht und notwendig, denn die industrielle Welt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war nicht eine totalitäre Gleichschritt-Welt (siehe Orwells „1984“), sondern hatte längst ihre Spielräume, ihre Lockerungen, ihren „Swing“ hervorgebracht. Diese Entwicklungslinie der modernen Zivilisation hätte man also fortsetzen können. Auch in Deutschland.

Aber ein zunehmender Teil der Bevölkerung kannte die Industrie nur noch vom Hörensagen und brachte auch kein größeres Interesse für diese Welt auf. Das Wachstum des industriefernen Sektors hatte jene kritische Schwelle überschritten, jenseits der es möglich wird, sich in einer Binnenwelt weitgehend abzuschließen. Dazu trug auch die zunehmende Digitalisierung bei. Gewiss kann die Digitalisierung hilfreich sein, wenn sie in bestehende Arbeitsprozesse eingefügt wird. Aber wenn es eine Tendenz zur Selbstabschließung gibt, kann die Digitalisierung auch eine geschlossene Binnenwelt suggerieren. Genau das geschah, als im Namen der Digitalisierung eine ganz neue Industriewelt (Industrie 2.0, 3.0, 4.0…) oder eine ganz eigene „erweiterte Realität“ („augmented Reality“) ausgerufen wurde. 

Die Tendenz zur Selbstabschließung ist nicht von der Digitalisierung erfunden worden, sondern schon in den 1980er Jahren. Hier, am Beginn der zweiten Entwicklungsphase der Bundesrepublik wurde der Beginn einer neuen „postindustriellen“ und „postmodernen“ Ära verkündet. In der Politik wurde von einer „Neuen Mitte“ gesprochen, von „New Labour“ oder auch von einer „Neuen Urbanität“. Nicht mehr der Facharbeiter sollte die Mitte sein, sondern eine gehobene Mittelklasse, besserwissend, besserverdienend und in den großen Städten bestens ausgestattet mit Sozial-, Bildungs- und Kultur-Einrichtungen. Sie verstand sich immer mehr als tonangebend für das ganze Land – oder sie wähnte sich als „Weltbürger“ in ganz anderen Sphären. Man blickte wie gebannt auf die „Weltstädte“ und glaubte, dass sie bald die territorial verfassten Nationalstaaten zweitrangig machen würden. 

Die Parallelwelt treibt ganze Länder in eine Schieflage 

Dass die Bereiche der Dienstleistungen, der Wissenschaft und der Kultur in vielen modernen Ländern schneller wuchsen als die Industrie, war schon in den 1960er und 1970er Jahren sichtbar geworden. Aber zunächst gingen Beobachter ganz unterschiedlicher Couleur (wie Jean Fourastie, Daniel Bell oder Helmut Schelsky) noch davon aus, dass dies Wachstum nur vorstellbar war, wenn es eine hohe industrielle Produktivität gab. Diese Proportionalität war das Band, das die Ausdehnung von Dienstleistungen, Wissenschaft und Kultur noch mit der Entwicklung der Industrie verkoppelte. Doch dies Band wurde im Laufe der zweiten Phase immer schwächer und zerriss schließlich in immer mehr Ländern. Eine Entkopplung fand statt. Die Wortbildung mit „post“ zeugt davon. Und diese Entkopplung wurde zu einer folgenreichen Realität. 

In vielen Ländern wies die volkswirtschaftliche Gesamtbilanz immer kleinere Produktivitäts-Fortschritte auf. Hier zeigte sich, dass der Sektor für sich genommen auf schwachen Füßen stand und die industriellen Überschüsse nicht mehr für eine Querfinanzierung reichten. So wurde die Schuldenlast wieder größer. Die Schuldenquote (das Verhältnis von Schuldenwachstum und Produktivitätswachstum), die in der ersten Phase kontinuierlich gesenkt worden war, stieg in der zweiten Phase wieder an. Zu Beginn der 2000er kam es zu einer heftigen Krise der Digital-Ökonomie, weil sie ihr hochfliegendes Produktivitäts-Versprechen nicht halten konnte. 2009 kam dann in verschiedenen Ländern eine große Schuldenkrise. Spätestens an diesem Punkt war nicht mehr zu übersehen, dass „der Westen“ – mit den USA als Führungsmacht – etwas Wesentliches verloren hatten. Er war nicht mehr der der Ort, der früher durch die Kraft seiner Industrie und die Ausstrahlung seiner Zivilisation ein so faszinierendes Vorbild gewesen war.   

In Deutschland waren Politik und Öffentlichkeit zu Beginn der 2000er Jahre noch in der Lage, die Bedrohung des Industriestandortes Deutschland ernst zu nehmen und sich auf die „Agenda 2010“ zu einigen. Das zeigte, dass hierzulande die industrielle Moderne noch eine recht starke Position hatte. Auch in den USA wäre denkbar gewesen, dass es an diesem Punkt zu einer Rückbesinnung auf alte Stärken gekommen wäre.  

Aber so ist es nicht gekommen. Die Zivilisationskrise entwickelte sich weiter. Bestand sie in der Phase zwischen Ende der 1970er Jahre und Ende der 2000er Jahre in der Abkopplung und Ausdehnung einer Parallelwelt, so wurde diese Parallelwelt in der folgenden Phase dominant und schlug in vielen Ländern in zerstörerische Angriffe auf elementare Errungenschaften der Moderne um. Die Deindustrialisierung des Westens radikalisierte sich. So auch in Deutschland, mit Verspätung, aber dann mit besonderer Heftigkeit. Damit sind wir bei den Zuständen, die in diesem Beitrag eingangs kurz beschrieben wurden. Und wir sind bei der Frage, wie eine Phase beschaffen sein könnte, in der dies Land aus seiner so tief eingefressenen Krise herausfindet.   

Der unersetzliche Maßstab des Geldes

Die Staatsschulden erreichen Weltkriegs-Dimensionen und eine Wende ist nicht in Sicht. Es regiert der Glaube, das Land könne außerhalb jeder Bilanzpflicht einfach weiterleben und überall hehre Ziele verkünden.  

Der unersetzliche Maßstab des Geldes

15. Februar 2024

Die kritische Schuldendiskussion, die in Deutschland im Anschluss an das BVerfG-Urteil vom 15.11.2023 kurz aufflammte, ist schon wieder zu Ende. Eine reelle Auseinandersetzung mit der rasanten Schuldenentwicklung wäre ja bald an den Punkt gekommen, wo die teuren und selbstzerstörerischen „großen Rettungen“ – Klima, Migration, Ukraine – in Frage gestellt worden wären. Es ist diese Rettungspolitik, die die Geldausgaben des Staates immer weiter steigert und die auch die Wertschöpfung des Landes schwer belastet. Doch die Frage, ob das Ziel einer „große Transformation“ dieses Landes noch haltbar ist, ist weiterhin tabu. Die Generaldebatte zum Bundeshaushalt 2024 am 30. Januar zeigte, dass die Regierung die noch bestehenden Verschuldungsgrenzen (die sogenannte „Schuldenbremse“) durchlöchern will. Und die Kritik der CDU/CSU-Opposition stand insofern auf tönernen Füßen, als sie das ruinöse Transformations-Ziel gar nicht in Frage stellte. 

So hatte die Debatte in großen Teilen etwas Gespenstisches. Als Haushaltsdebatte hätte sie sich ja um Bilanzen drehen müssen. Aber das geschah nicht. Man nimmt das immer größere Missverhältnis zwischen den Staatsausgaben und der Wertschöpfung im Lande gar nicht ernst, sondern dreht nur an der Interpretation der Tatsachen. Man fasst das Missverhältnis in neue Worte, und – oh Wunder – die roten Zahlen verwandeln sich in eine Brücke in die Zukunft. So erklärte der Finanzminister Lindner (FDP): „Diese Koalition hat einen Gestaltungsehrgeiz. Ich spreche daher nicht von einem Sparhaushalt, sondern von einem Gestaltungshaushalt.“. Der Finanzminister erklärt also nicht, aus welcher zusätzlichen Wertschöpfung die zusätzlichen Schulden bedient und abgetragen werden sollen, sondern er bietet stattdessen ein Wort an: „Gestaltung“. Ein Wort! Es klingt bedeutsam, ist aber völlig leer: Auf die Knappheiten dieser Welt ist „Gestaltung“ gar keine Antwort. Sie ist nur ein gewichtig tönendes Gerede – so wie es die Rede von den „Zukunftsinvestitionen“ ist.

Hier werden nicht nur wichtige Grundsätze einer guten Finanzverwaltung verletzt, sondern hier findet eine fundamentale Veränderung der Sphäre der Politik statt: Geld-Verhältnisse werden durch Wort-Konstrukte ersetzt. So verliert die Sphäre der Politik ihre Bindungen an die Realität. Ihre Entscheidungen sind so einer Messung an belegbaren und berechenbaren Wirkungen entzogen. Die Politik bewegt sich im spekulativen Bereich von Ängsten und Hoffnungen. Die politischen Akteure entledigen sich so jeglicher Erfolgskontrolle und Verantwortlichkeit. 

Das muss man sich vor Augen führen, wenn in diesen Tagen unaufhörlich „der Schutz der Demokratie“ beschworen wird – beschworen von Leuten, die den Maßstab demokratischer Legitimation einfach umdefiniert haben. Zur Erinnerung: Das BVerfG-Urteil hatte Parlament und Regierung in die Pflicht genommen, auch in Notlagen die „Geeignetheit“ von zusätzlichen Schulden nachzuweisen. Doch nun wird so getan, als gehöre diese Nachweis-Pflicht nicht zur Rechtslage im Lande. Als wäre sie nur irgendein Redebeitrag.  

Über das Geldwesen (I) 

Umso wichtiger ist es, positiv die Bedeutung des Geldwesens als unersetzlicher Maßstab für die Lage und die Möglichkeit eines gegebenen Landes herauszuarbeiten. Das Geldwesen ist eigentlich ein recht präziser Indikator, ob die Verhältnismäßigkeit im Einsatz der Mittel von Staat und Wirtschaft gewahrt ist. So kann auch kritisch geprüft werden, ob ein Land nicht schon längere Zeit über seine Verhältnisse lebt. Diese Prüfung ist in unserer Zeit dringlicher denn je. In der Politik ist es inzwischen gängige Münze geworden, bei allen möglichen Problemen zwei- oder dreistellige Milliarden-Beträge in Aussicht zu stellen. Zur Erinnerung: Eine Milliarde sind 1000 Millionen, zweihundert Milliarden sind 200.000 Millionen. Welche Anstrengungen, Mühen, Entbehrungen sind nötig, um solche Summen zu erwirtschaften! Wie lange dauert es, bis solche Kapitale gebildet sind – eine Generation reicht dazu nicht. Doch in unserer Zeit genügen schon einzelne Ereignisse – Wetterextreme, Kriege, Migrationsbewegungen – um Ausgaben zu veranlassen, die eine Volkswirtschaft und ein ganzes Land in eine Überschuldung und damit in eine Schuld-Knechtschaft drücken. 

Dabei ist eine Präzisierung wichtig: Es geht hier nicht allein um die absolute Höhe der Schulden. Erst wenn diese Höhe ins Verhältnis zu der Produktivität eines Landes gesetzt wird, ist wirklich feststellbar, ob eine Überschuldung vorliegt oder nicht. Eine hohe Verschuldung kann beherrschbar sein, wenn es eine entsprechend starke Entwicklung der Produktivität gibt. Aber die Produktivität muss real sein, also beobachtbar und messbar an der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Es kommt also auf die Schuldenquote an: auf das Verhältnis zwischen Verschuldung und Bruttoinlandsprodukt. Und auf die Entwicklung dieses Verhältnisses.   

Über das Geldwesen (II) 

Ein vielzitierter Satz des österreichischen Ökonomen Joseph A. Schumpeter lautet:  

„Im Geldwesen eines Volkes spiegelt sich alles, was dieses Volk will, tut, erleidet, ist; und zugleich geht vom Geldwesen eines Volkes ein wesentlicher Einfluss auf sein Wirken und auf sein Schicksal überhaupt aus.“

Aus diesem Zitat spricht ein guter Ernst in Bezug auf das Geldwesen. Schumpeter geht davon aus, dass das Geldwesen die Knappheiten dieser Welt und auch die Anstrengungen der Menschen abbilden kann.  Es ist vom „Wirken“ der Menschen und auch von den objektiven Schwierigkeiten dieses Wirkens die Rede, also von einer Ebene, in der rein sprachliche Geltungsansprüche – pessimistische oder optimistische „Erzählungen“ – wenig ausrichten können. Sie können allenfalls (vorübergehend) beeindrucken.

Schumpeters Betonung des Einflusses, den das Geldwesen hat, könnte man eventuell als Einladung zu einer Ankurbelung der Wirtschaft durch „deficit spending“ verstehen, wie sie John Maynard Keynes vertrat. Aber das ist keineswegs der Fall. Das zeigt Schumpeters Sicht der Weltwirtschaftskrise 1929. Als Erklärung für diese Krise sah er übertriebene Gewinnerwartungen während der zweiten industriellen Revolution in den 1920er Jahren. Diese Gewinnerwartungen hätten die allgemeine Risikobereitschaft so gesteigert, dass viele Investments auf großen Schulden basierten. Schumpeter weist also auf die Bedeutung einer realistischen Einschätzung von technologischen Entwicklungen hin. Im Geldwesen spiegelt sich mehr als nur eine „Geldpolitik“, wie ein verbreiteter Management-Glaube vermutet. Um zu beurteilen, ob eine Verschuldung tragbar ist oder in eine Schuldknechtschaft führt, muss man die Entwicklung der Produktivität der Betriebe und der Tragfähigkeit der Infrastrukturen berücksichtigen. Diese ist nicht geldpolitisch „machbar“, sondern hat ihre eigenen geschichtlichen Rhythmen. Ein Land braucht daher eine realistische Einschätzung der in einer Zeitperiode möglichen Entwicklung. Man muss dem Geldwesen, das gerade in seinen nüchtern-knappen Zahlenverhältnissen mehr ist als eine Sprache, einen eigenen hohen Rang mit starken institutionellen Sicherungen einräumen. Und man kann grundlegende technische, kulturelle, soziale Entwicklungen entdecken, wenn man sie im Licht der Schuldengeschichte eines Landes betrachtet.      

Die USA im Lichte ihrer Schuldengeschichte 

Die folgende Graphik stellt die Entwicklung der Schuldenquote (Staatsschulden in Relation zum Bruttoinlandsprodukt) in den USA seit dem 2. Weltkrieg dar:

Die Graphik zeigt zunächst (auf der linken Seite) eine steil ansteigende Schuldenquote, die gegen Ende der 1940er Jahre ihren Höhepunkt erreicht – also am Ende des 2. Weltkriegs (einschließlich des pazifischen Kriegsschauplatzes). Diese hohe Verschuldungsquote wird dann relativ rasch wieder abgebaut und beträgt Ende der 1960erJahre nur ein Drittel des Spitzenwerts. Das ist ein bemerkenswertes historisches Beispiel von Schuldenabbau durch Produktivitätswachstum. Doch gegen Ende der 1970er Jahre beginnt ein neuer Anstieg der Schuldenquote, der Mitte der 1990er Jahre ein beträchtliches Niveau erreicht und auf dieser Stufe bis Ende der 2000er Jahre verharrt. Und dann kommt es nicht wieder zu einem Rückgang, sondern zu einem zweiten Anstieg, der Anfang der 2020er einen Höhepunkt erreicht, der sogar über der Schuldenquote der USA am Ende des 2. Weltkriegs liegt. Und das ist nicht nur ein kurzer Höhepunkt, sondern der Beginn einer neuen Stufe. Zunächst deutet sich zwar ein gewisses Sinken der Schuldenquote an (ganz rechts auf der Graphik), aber inzwischen steigt sie wieder. Eine Prognose sieht für das Jahr 2028 einen Anstieg auf 137,50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts voraus. Das bedeutet, dass die Schuldenquote der USA jetzt dauerhaft über der Schuldenquote nach dem 2. Weltkrieg liegt.  

Eine historisch neue, dramatische Situation 

Wir haben also im Führungsland des globalen Westens eine Schuldenquote von historischen Ausmaßen. Aber es gibt keinen großen Krieg. Auch die Rüstungsausgaben der USA sind nicht der Haupttreiber der zunehmenden Verschuldung. Und die Verschuldungsquote kann offenbar nicht mehr durch Produktivitätsgewinne zurückgeführt werden, wie es in den 30 Jahren nach dem 2. Weltkrieg geschah. Vielmehr gibt es einen stufenweisen Anstieg der Verschuldung, bei dem kein Ende oder gar Rückbau abzusehen ist. Das ist zwar Anlass für mahnende Worte, aber in der nationalen und internationalen Wahrnehmung erscheint er offenbar nicht als so bedrohlich, dass er zu einer Zahlungskrise oder einem drastischen Politikwechsel führt. Was ist da geschehen? Welcher Wandel spiegelt sich nun im Geldwesen? Oder hat das Geldwesen vielleicht überhaupt an Bedeutung verloren? Ist das Geldwesen durch ein ganz anderes Medium der Stabilisierung ersetzt worden? Aber hat dieser Ersatz nicht eventuell fundamentale eigene Schwächen und ist nur ein Scheinersatz, der nicht hält, was er verspricht?  

Die Schuldengeschichte bildet tiefgreifende Veränderungen ab 

Die hier gestellten Fragen gehen weiter als die Frage nach der „richtigen Geldpolitik“. Sie lassen sich auch nicht damit beantworten, dass ein paar „Reiche und Mächtige“ die Finanzen dieser Welt zu ihrem Vorteil manipulieren. Es ist wahr, dass das heutige Geldwesen sich stark von dem Geldwesen, wie es Schumpeter sah, unterscheidet. Aber wer mag im Ernst glauben, dass der harte Maßstab des Geldes ersetzt wird durch eine personale Herrschaft über die ganze Welt? Wann und wo hätte diese kolossale Machtergreifung stattgefunden? Viel plausibler ist, dass die historisch neue Schuldenquote und der dabei herrschende Leichtsinn mit tiefergehenden, strukturellen Verschiebungen in Verbindung steht – mit gesellschaftlichen Verschiebungen, mit materiell-technischen Verschiebungen, mit kulturellen Verschiebungen.     

Nur so wird auch die hier abgebildete Schuldengeschichte der USA verständlich. Sie zeigt einen längeren Prozess mit verschiedenen Stufen und Perioden. Jede Stufe und Periode ist mit einer bestimmten gesellschaftlichen, materiell-technischen und kulturellen Realität verbunden. Und das gilt auch für viele andere Länder der westlichen Welt. Es gibt überall ein ähnliches Grundmuster, aber es gibt auch erhebliche Unterschiede bei der Höhe der Verschuldungs-Stufen und bei der Dauer der Perioden. So wies Deutschland lange Zeit eine relativ niedrige Schuldenquote auf, die aber im Laufe der vergangenen 10 Jahre in einen immer schnelleren Schuldenzuwachs umgeschlagen ist. Parteipolitisch ist dieser Zuwachs nicht zuzurechnen, denn sowohl CDU/CSU noch SPD haben daran mitgewirkt. Und sie haben sich – im Verhältnis zu dem, was sie in den ersten dreißig Jahren Bundesrepublik waren – fundamental gewandelt. 

Ein stabiles Geldwesen ist ein Schlüssel der Veränderung 

Es ist wichtig, diese Verschiebungen zu begreifen. Das bedeutet nicht irgendein leeres und letztlich hilfloses Wissen. Ganz im Gegenteil: Wenn wir die heutige Überschuldung tiefer verstehen, können wir Möglichkeiten und Hebel einer Änderung entdecken. Gegenwärtig erleben wir, wie diejenigen, die die rasante Verschlechterung der Schuldenquote zu verantworten haben, jetzt behaupten, sie allein ständen für „die Zukunft“ dieses Landes. Oder gar für „die Demokratie“. Umso wichtiger ist es, nicht nur das Zerstörerische und Bösartige dieses Alleinvertretungs-Anspruchs zu zeigen, sondern auch seine strukturelle Schwäche. Denn was haben diese Leute als Ersatz für ein unstabil gewordenes Geldwesen zu bieten? Erzählungen, Zeichen-Setzen, Kommunikation. Damit ist ein beträchtlicher Sektor im Lande beschäftigt, aber es ist letztlich doch nur ein Wortwesen. 

(Erschienen am 26.2.204 im Rahmen meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“)

Herr Kafsack und die Wahrheit der Traktoren  

Zu Beginn des neuen Jahres versuchen die Regierenden eine fundamentale Tatsachen-Verdrehung durchzusetzen. Der Existenzkampf der Bauern wird als Kampf für Privilegien diffamiert.    

Herr Kafsack und die Wahrheit der Traktoren  

14. Januar 2024

Was haben die Regierenden angesichts wachsender Unzufriedenheit im Lande zu bieten? Nichts Handfestes. Nur eine dreiste Umdeutung der Dinge. Sie tun so, als seien sie ganz neuen Ansprüchen aus der Gesellschaft ausgesetzt und müssten diese im Namen einer verantwortungsvollen „Sparsamkeit“ ablehnen. In der Auseinandersetzung mit den Bauern tun sie so, als würden die Bauern auf einmal zusätzliche Subventionen fordern. Der wirkliche Vorgang ist genau umgekehrt: Es sind die Regierenden, die beschlossen haben, die Verbilligung des Agrardiesels, die schon lange besteht, wegfallen zu lassen. Und das geschieht vor dem Hintergrund erhöhter Energiepreise, die wiederum durch Regierungsentscheidungen herbeigeführt wurden. So hat man gerade wieder die CO2-Emissions-Abgaben erhöht und damit den Diesel noch teurer gemacht. Und die Bauern brauchen den Agrardiesel als Arbeitsmittel und nicht, weil sie aus Jux und Tollerei herumfahren. Sie sind schon extrem sparsam, und müssen sich von keiner Regierung dazu anhalten lassen. Sie können auch nicht auf Elektro-Traktoren umsteigen – es gibt sie nicht. 

Und die Verdrehung von Angriff und Abwehr geht noch weiter: Als die Regierenden daran gingen, den Menschen ihre bisherigen Automobile und Heizungen zu nehmen, sprach man davon, diese Eingriffe durch Hilfsgelder abzufedern. Man gab also zu, dass es ein Einschnitt durch die Regierung war. Aber das Hilfsgelder-Versprechen beruhte auf einem Betrug: Man hatte die Gelder gar nicht in einem ordnungsgemäßen Staatshaushalt zur Verfügung gestellt. Der Betrug ist aufgeflogen. Entschließt man sich jetzt, das Naheliegende zu tun, und die Einschnitte zurücknehmen und damit die Hilfsgelder überflüssig zu machen? Oh nein, man schickt sich an, die Einschnitte ohne jede Hilfe eiskalt durchzudrücken.  

Dagegen haben sich die Bauern erhoben. Sie führen keinen Angriffskampf, sondern einen Abwehrkampf um ihre Arbeits- und Lebensbedingungen. Sie vertreten damit ein Anliegen, das auch in anderen Wirtschaftszweigen von anderen Teilen der Bevölkerung aufgegriffen werden kann. Ob das Jahr 2024 einen Sturz der Regierung sehen wird, ist ungewiss. Wahrscheinlicher und wichtiger ist, dass ein Teil der deutschen Gesellschaft wehrhafter wird. Und dass neben der Welt, wie sie die Regierung und die selbsternannten „Leitmedien“ darstellen, eine andere, handfestere Welt sichtbar wird.   

Herr Kafsack und die „verwöhnten Bauern“

Am 9.Januar 2024 erschien im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Kommentar unter der Überschrift „Verwöhnte Bauern“. Der Autor, Hendrik Kafsack, schrieb dort von „satten Einkommenssteigerungen“ im Jahr 2023. Und auch folgender Satz war zu lesen: „Zwei Drittel des Einkommens der Bauern entfallen auf Brüsseler Direkthilfen, die sie faktisch ohne Gegenleistungen enthalten.“ Offenbar geht der Autor davon aus, dass die von den Bauern am Markt erzielten Preise die Wahrheit über ihre Leistungen aussagen. Die Arbeit der Bauern wäre also nicht mehr wert als die Erzeugerpreise. Der Rest, so unterstellt der Artikel, wären demnach Geschenke des Staates an die Bauern. Aber von den Erzeugerpreisen können die Bauern und die in der Landwirtschaft beschäftigten Menschen nicht leben. Auch das Kapital der Betriebe kann nicht erhalten werden. Und es gibt eine zweite Seite des Problems: Würde man die Erzeugerpreise so weit erhöhen, wie es ein gerechter Ausgleich erfordern würde, würde eine gigantische Teuerungswelle durchs Land rollen. Die Preise für viele nachgelagerte Produkte und die allgemeinen Kosten des Lebens in Deutschland würde drastisch ansteigen. Die Lage der Landwirtschaft steckt in einem grundlegenden Dilemma. An diesem Punkt kommen nun die staatlichen Hilfszahlungen ins Spiel. Sie sind ein Lastenausgleich. Wenn der FAZ-Autor sich in die Situation der Landwirtschaft einmal richtig hineindenken würde, müsste er sagen, welche Antwort auf das Dilemma er stattdessen zu bieten hat. Wie soll ein elementarer Sektor der Volkswirtschaft, dessen Wertschöpfung durch Naturbedingungen eingeschränkt ist, in eine Volkswirtschaft eingegliedert werden, ohne einen Lastenausgleich vorzunehmen? Denn es geht hier um einen Ausgleich für besondere, nicht entlohnte Lasten. Und nicht um Zusatz-Geschenke und Privilegien.  

Aber Herr Kafsack will von solchen ungleichen Grundbedingungen des Wirtschaftens nichts hören. Das Land seiner Ökonomie ist eine gleichförmig große Fläche, die für alle Sektoren der Wirtschaft gleich einladend ist – sodass jeder einfach nur loslegen muss und seines Glückes Schmied ist. Und weil der Journalist, der als Korrespondent in Brüssel sitzt, sich die Welt so schön eingerichtet hat, darf er jetzt ganz, ganz böse auf die Bauern sein: „Aber wenn die Bauern dann auf ein einziges ihrer Privilegien verzichten sollen, um ihren kleinen Beitrag zu einem verfassungsmäßigen Haushalt zu leisten, rollen die Trecker auf die Autobahnen. Das ist kein nachvollziehbarer Protest. Das ist eine Frechheit.“

Damit endete dieser Kommentar.

Herr Kafsack und die harte Arbeit

Am 11.Januar meldete sich derselbe Autor mit einem weiteren Kommentar zu Wort. Im ersten Teil fanden sich die Sätze: „Wer sonst arbeitet 60 Stunden in der Woche, vom frühen Morgen an? Viele würden von nachtschlafender Zeit sprechen. Und das für einen Stundenlohn, der trotz aller Hilfen kaum über dem Mindestlohnniveau liegt.“ Nanu? Derselbe Autor hatte doch gerade noch einen Kommentar unter der Überschrift „verwöhnte Bauern“ geschrieben und darin den Protest der Bauern als „Frechheit“ bezeichnet. Nun zeigte er sich flexibel und schrieb zur Lage der Bauern das glatte Gegenteil – ohne freilich seinen ersten Kommentar ausdrücklich zurückzunehmen. Immerhin kann man aus dieser Wende ersehen, dass die These von den „verwöhnten Bauern“ in der öffentlichen Auseinandersetzung schwer angeschlagen ist. Herr Kafsack, der ein besonders vorlauter Vertreter dieser These war, musste nun zugeben, dass der Stundenlohn im Agrarsektor selbst mit den staatlichen Hilfen „kaum über dem Mindestlohnniveau liegt“. Das nehmen wir hier einmal zu Protokoll. 

Aber wer glaubt, dass sich der Autor nun auf die Seite der hart arbeitenden Menschen stellte, sieht sich getäuscht. Er stellte sich auf den Standpunkt „des Steuerzahlers“ – und dieser Steuerzahler fragt angeblich nicht nach der Schwere der Arbeit und der Bedeutung des Agrarsektors, sondern nach der „Größe“ der Subventionssumme: „Aus der Sicht der Steuerzahler müssen die Bauern sich aber auch die Frage gefallen lassen, warum Europäische Union und Bundesregierung ihnen eigentlich – seit Jahrzehnten – mit großen Summen helfen.“ An anderer Stelle hieß es im Kommentar: „Harte Arbeit allein ist noch kein Grund für die große Staatshilfe an die Bauern.“ Herr Kafsack fand für diese Staatshilfe die Formulierung, dass „der Staat die Hälfte der Einkommen der Bauern zahlt“. Dadurch erweckte unser Sprachkünstler den Eindruck, die Hilfszahlungen wären personenbezogen – und nicht arbeits- und betriebsbezogen. Sie seien eine Art Sozialhilfe zum Einkommen.  

Herr Kafsack und das Höfesterben 

Solange die Unterstützung als persönliche Einkommenszuwendung angesehen wird, kann die Möglichkeit, dass für einen ganzen Wirtschaftssektor eine Elementarzuwendung gezahlt werden muss, um die schwierigen Grundbedingungen dieses Sektors auszugleichen, gar nicht ernsthaft erwogen werden. Aber Herr Kafsack will eine Ausnahme gelten lassen: Wenn und soweit durch die Landwirtschaft „öffentliche Güter“ bereitgestellt werden, wäre eine staatliche Hilfe legitim. Der Autor – ich komme darauf noch zurück – denkt dabei an „die Natur“: Sofern Bauern Beiträge zu Umweltschutz, Klimaschutz und Tierwohl erbringen, sollen sie Ausgleichszahlungen erhalten. Die „Lebensmittelsicherheit“ zählt nur im extremen Notfall einer akuten Hungersnot zu den öffentlichen Gütern. Deshalb ist für Herrn Kafsack selbst ein größeres Höfesterben noch kein Grund für staatliche Ausgleichszahlungen. In seinem Kommentar heißt es: 

„Wenn wegen einer Kürzung der Subventionen Höfe, zumal meist kleine, `sterben´, wird dies eine sichere Versorgung nicht gefährden. Die folgende Knappheit dürfte sogar dazu führen, dass die Lebensmittelpreise auf das von den Landwirten lange geforderte `angemessene Niveau´ steigen. Zudem gibt es den Weltmarkt.“

Demnach kann und soll der Hauptteil der Agrarhilfen des Staates ersatzlos gestrichen werden. Auf dem Weg in die Landwirtschaft der Zukunft ist ein größeres Höfesterben ausdrücklich vorgesehen. Dabei setzt der Autor „sterben“ in Anführungszeichen. Das Sterben ist also nicht so schlimm, denn die folgende Knappheit „dürfte dazu führen“, dass die Preise für Lebensmittel steigen. Ist das nicht im Sinne der Bauern? Aber deren Höfe sind dann längst tot, und eine Auferstehung ist nach aller agrargeschichtlichen, wirtschaftsgeschichtlichen und regionalgeschichtlichen Kenntnis sehr unwahrscheinlich. Wenn bäuerliche Existenzen vernichtet werden, gehen lange gewachsene Strukturen – Sachkapital, Kulturlandschaften, menschliches Wissen und Arbeitsvermögen – verloren. Kein Drücken auf die „Neustart“-Taste kann sie zurückholen. Es ist so wie der Boden in bergigen Regionen, der auf Nimmer-Wiedersehen weggeschwemmt wird, wenn er nicht durch Vegetation und ständige Bewirtschaftung festgehalten wird. 

Herr Kafsack und seine „Agraragenda“

Der hier zitierte Kommentar trägt die Überschrift „Zeit für eine positive Agraragenda“. Herr Kafsack will also „positiv“ sein. Aber die Agenda ist eigentlich eine Auslese-Agenda, die nur noch wenige Sachverhalte mit Hilfsgeldern unterstützen will und die Betriebe bei allen anderen Seiten der Produktion sich selbst überlässt. Als unterstützenswerter Sachverhalt bleibt, so der Autor, „der Beitrag, den Landwirte zum Umweltschutz, Klimaschutz und Tierwohl leisten“. Also geht es um ein reines Natur-Erhaltungs-Programm. Die wertschöpfende Leistung der Lebensmittelproduktion gehört nicht dazu. Die Natur-Erhaltung bedeutet zusätzliche Kosten, die die Erträge pro Arbeitsstunde, pro Bodenfläche und pro Anlagevermögen nicht erhöhen, sondern senken. Sie führen nicht zu einer Entlastung der Landwirtschaft und zu einer hohen Zahl und Diversität an Betrieben, Arbeitsplätzen, Arbeitsformen, Produkten und Qualitätsniveaus. Mit anderen Worten: Die Agenda ist sehr selektiv. Nur wenige Bessergestellte können sie sich leisten. Eine solche „Modernisierung“ ist in Wirklichkeit eine „Bereinigung“ – eine Kahlschlag-Sanierung. 

Es ist in diesen Tagen viel von einer großen Debatte über „grundlegende, zukunftsfähige Lösungen“ für die Landwirtschaft die Rede. Man gaukelt den Bauern und der deutschen Öffentlichkeit vor, es gäbe da ein Agrarmodell, das die bisherigen und die zusätzlichen Kosten ohne größere staatliche Hilfen bezahlen kann. In Wirklichkeit kann das nur in Einzelfällen an bevorzugten Orten gelingen. An solchen Orten setzt man oft darauf, eine Landschaft touristisch zu vermarkten. Die Landwirtschaft wird dann in einen Themenpark verwandelt. Ihre Produktionsfunktion ist nur noch Beiwerk zum „Naturerlebnis“. 

Herr Kafsack treibt die Selektivität aber noch weiter. Er will die gesamte staatliche Unterstützung der Landwirtschaft auf eine Projekt-Unterstützung umstellen. Das bedeutet, dass jegliche dauerhafte Förderung aufgelöst wird. Die Höfe müssen sich von Projekt zu Projekt hangeln. Wie aus diesem Tanz um alle möglichen einzelnen und wechselnden Fördertöpfe eine nachhaltige Landwirtschaft hervorgehen soll, ist das Geheimnis des Autors. Das hindert ihn nicht an einer Grundsatz-Kritik der bestehenden Agrarpolitik: 

„Leider ist die letzte EU-Agrarreform hinter den Notwendigkeiten zurückgeblieben. Ein Großteil der EU-Hilfen ist weiter an die Größe des Hofs gekoppelt. Die Empfänger müssen gewisse Gegenleistungen erbringen, mit umfassenden Umwelt- und Tierwohlauflagen aber hat das nichts zu tun. Stattdessen hätte die EU die kompletten Hilfen für konkrete Projekte im öffentlichen Sinn reservieren sollen. Der Zusammenhang zwischen Hilfe- und Gegenleistung wäre dann klar, weitere Berliner Auflagen unnötig. Solche Vorschläge lagen vor. Die Bauernvertreter haben sie, begleitet von Protesten auf Brüsseler Straßen, verhindert.“

Das ist durchaus ein Lehrstück: Es gibt eine Kritik an der EU-Agrarpolitik, die alles noch radikaler und schlimmer machen will, und die in Wahrheit eine Kritik an den widerspenstigen Bauern ist.   

Im Schlussabschnitt des Kafsack-Kommentars darf der geneigte FAZ-Leser Anteil nehmen an einer wahrhaft verlockenden Zukunftsvision. „Statt zu klagen, wäre Zeit, mitzuarbeiten an einer positiven Agenda einer modernen Landwirtschaft, die gute Gründe für staatliche Hilfe liefert. Einige junge Bauern leben es vor. Dann rollen die Städter mit ihren (E-)Autos vielleicht wieder mit gutem Gefühl aufs Land statt die Trecker in die andere Richtung.“  Der Bauer soll also nicht mehr mit dem Traktor in die Stadt fahren, sondern still auf dem Acker schuften. Oder er soll ganz verschwinden und der reinen Natur das Feld überlassen. Der eigentliche Adressat solcher Visionen ist nicht der Bauer, sondern der Städter – genauer: jene besserwissenden und besserverdienende Milieus, die gerne glauben wollen, dass die Bauern „verwöhnt“ sind, während das eigene wohlausgestattete Dasein in der Stadt „verdient“ ist. Ihnen stellt Herr Kafsack in Aussicht, dass sie bald ganz unbeschwert mit ihren E-Mobilen und einem dichten Netz von hochsubventionierten E-Tankstellen übers Land rollen können.     

Die Wahrheit der Traktoren (I) 

An dieser Stelle wird deutlich, welches Manöver hier stattfindet. Man stellt eine „große Debatte“ in Aussicht, und will sie über angebliche „grundlegende Zukunftsfragen“ der Landwirtschaft führen. Aber damit ist schon vorprogrammiert, dass man sich auf die Suche nach etwas vollkommen Neuem machen soll, und die Gegenwart nicht mehr zählt. Aus der „großen Debatte“ guckt vorne und hinten die schon sattsam bekannte grüne „Agrarwende“ heraus. Demgegenüber hat die Bauernbewegung ein ganz anderes Anliegen, das in manchen Ohren geradezu unanständig klingen muss: Sie wollen der Landwirtschaft, so wie sie jetzt besteht und liefert, Respekt verschaffen. Sie wollen diese Landwirtschaft in Wert setzen. Mit anderen Worten: Sie wollen das Bestehende erhalten und darauf aufbauen. Sie wollen die reale Gegenwart nicht für eine Zukunft hergeben, die nur aus „Projekten“ mit ungewissem Ausgang und ungeprüften Nebenfolgen besteht. Deshalb ist das Ziel „Erhaltung des Agrardiesels“ für die Bauern so wichtig. Das Angebot der Regierung „Wir ziehen die Abschaffung des Agrardiesels durch, und ihr bekommt dafür eine große Debatte“ ist deshalb völlig unannehmbar. Es ist ein schändlicher Betrugsversuch. Eine Unverschämtheit. 

Die Wahrheit der Traktoren (II)

In diesem Text spielt „Herr Kafsack“ eine prominente Rolle. Da ist eine Klarstellung nötig. Es geht nicht darum, hier eine einzelne Person an den Pranger zu stellen. Hendrik Kafsack ist kein Extremist, kein Chef-Ideologe, kein geheimer Strippenzieher. Er ist repräsentativ für einen Teil der Gesellschaft, dem die Lage der Bauern gleichgültig ist und der ihrer Bewegung ablehnend gegenübersteht. Auch in den Medien gibt es vielerlei Bemühungen, die Bauernbewegung in der Öffentlichkeit mit dem Stempel „rückwärtsgewandt“ zu versehen und ihr vorzuwerfen, sich dem zu verweigern, was hierzulande als „die Zukunft“ gilt. Hier sind offenbar soziale Milieus am Werk, die sich einbilden, für das ganze Land und seine Entwicklung sprechen zu können. 

In Deutschland und vielen anderen Ländern findet gegenwärtig nicht nur eine politische Auseinandersetzung statt, sondern auch eine soziale Auseinandersetzung. Menschen machen aufgrund ihrer Stellung in Gesellschaft und Welt unterschiedliche Erfahrungen und beurteilen die Dinge unterschiedlich. Diese Unterschiede werden in unserer Gegenwart schärfer. Es bilden sich nicht nur konträre politische Lager, sondern auch konträre soziale Lager. Der Ton wird rauer. Das muss nicht unbedingt etwas Schlechtes oder Gefährliches bedeuten. Es kann auch zeigen, dass sich nun Dinge heftig bemerkbar machen, die seit langer Zeit keine Berücksichtigung im Lande finden. 

Mit der Bauernbewegung sind nicht nur bestimmte Forderungen laut geworden, sondern auch die Arbeits- und Lebensformen, die mit der Herstellung von materiellen Gütern verbunden sind, und die aus der städtischen Welt weitgehend verdrängt wurden. Nun sind sie wieder zurück in den Städten – und werden im Bewusstsein präsent bleiben. Die Bauern stehen in einem Weltbezug, in dem das gegenständliche Tun eine viel größere Rolle spielt als das bloße Kommunizieren zwischen Menschen. Ihre Aktionswoche hat wirklich diesen Namen verdient: Sie haben eine materielle Leistung mitgebracht und in die Waagschale geworfen. Mit ihren Traktoren haben sie eine ganz ungewohnte Wucht auf die Straße gebracht. Schlagartig wurde erfahrbar, dass es ein Deutschland gibt, das mehr bewegt als Worte und Bilder. 

Die Bauernbewegung hat also die Hegemonie der medialen Welt angetastet. Diese Auseinandersetzung wird weitergehen. Zunächst mag es so scheinen, als wäre die mediale Macht bedeutender als die Traktoren-Macht. Aber es wird sich noch zeigen, wer letztlich am längeren Hebel sitzt.

(Erschienen am 19.1.2024 im Rahmen meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“)