Politik, die sich auf den christlichen Glauben stützt, hat in Deutschland viel bewegt. Doch gegenwärtig scheint sie sich für die Leistungsträger nicht mehr zu interessieren
Christliches Politikversagen
Die Religion kann ein starkes Motiv im politischen und wirtschaftlichen Leben bilden. Denn die Fähigkeit, an etwas Höheres zu glauben, muss nicht weltfremd sein und zur Flucht in ein „Jenseits“ führen. Was Max Weber am Beispiel des frühen protestantischen Glaubens gezeigt hat, gilt auch für die jüngere deutsche Geschichte. Nach 1945 bildete das (katholische und evangelische) Christentum eine wichtige Referenz, um eine neue politische Ordnung zu finden, die gegen totalitäre Versuchungen gewappnet ist. Das christlich-demokratische Element stand für ordnungspolitische Kraft. Es war fähig, über Partikularinteressen hinaus die Frage zu stellen, was gut für das Land ist. So wurde die Christdemokratie zu einem Grundbaustein der deutschen und europäischen Nachkriegsordnung. Auch in der Wende von 1989 spielte die Verbindung von Politik und christlichem Glauben eine wichtige Rolle. Im Augenblick jedoch kann man von einer solchen Rolle kaum noch sprechen. In verschiedenen europäischen Ländern haben christlich-demokratische Parteien ihre einstige Bedeutung verloren. Und dort, wo sie an der Regierung sind und höchste Staatsämter bekleiden wie in Deutschland, bleibt unklar, worin der christliche Beitrag eigentlich besteht. Die Verbindung von Politik und Christentum ist ein schillerndes Gebilde geworden. Dabei besteht das Problem nicht darin, dass Kirchen im politischen Leben mitreden und Parteien für ihr Tun religiöse Motive anführen. Vielmehr hat die regulative Grundidee von „christlicher Politik“ eine merkwürdige Verkürzung erfahren.
In einer Sondernummer der Zeitschrift „chrismon“ zum Reformationstag 2013 hat der Bundespräsident Joachim Gauck einen bemerkenswerte Satz geschrieben: „Was macht uns stark? Es sind nicht die Attribute der sogenannten Leistungsträger, die mir dazu als Erstes einfallen.“ Stattdessen führt der Autor als Beispiel die Behinderten an und schlägt vor, das Kriterium der „Selbstwirksamkeit“ an die Stelle von Leistung zu setzen. Dass Leistungsträger gegenwärtig nicht sehr geschätzt werden, ist bekannt, aber in dieser Deutlichkeit hat man es von so hoher Stelle selten gehört. Es ist im Grunde eine Absage an die Mitte der Gesellschaft. Diese Absage trifft den Autobauer ebenso wie den Lehrer oder den Verwaltungsangestellten – überhaupt jeden, der stolz darauf ist, etwas zu produzieren, zu bauen, zu bilden, zu heilen, zu steuern. Also jeden, der etwas in der äußeren Welt bewirkt und das als moralische Aufgabe ansieht. Wird hingegen der Mensch auf „Selbstwirksamkeit“ verkürzt, entzieht man ihm die Möglichkeit, sich in der Realität zu bewähren. Damit tut man auch den Menschen, die auf Grund ihrer Begabungen weniger schaffen können, keinen Gefallen.
Ist das Gauck-Wort ein Skandal? Eher ist es ein Symptom für eine Veränderung christlich motivierter Politik, die schon länger im Gang ist: Diese Politik scheint sich nicht mehr als Partner des Normalbetriebs von Unternehmen, staatlichen Einrichtungen und Familien zu verstehen, sondern nur auf die Ränder der Gesellschaft zu schauen. Gewiss ist es gut, wenn der arme, heimatlose oder behinderte Mensch Aufmerksamkeit findet, aber wenn man das Gute nur noch hier zu sehen vermag, wird alles falsch. Wenn die Aufgaben, die die gut funktionierenden Normalfamilien täglich bewältigen, nur noch am Rande erwähnt werden oder wenn ertragsstarke Wirtschaftsunternehmen mit Misstrauen gesehen werden oder wenn vor lauter „Inklusion“ der Schulunterricht aus dem Lot gerät, verliert christliche Politik mehr als sie gewinnt. Sie kennt nur noch Sondergruppen und verlernt, aus dem christlichen Motiv heraus die Gesamtordnung des Landes zu gestalten. Die Tatsache, dass CDU und CSU sich nicht veranlasst sehen, eine eigene Reformagenda für das Deutschland vorzulegen, passt in dies Bild.
Hier hat ein Substanzverlust stattgefunden und die Kritik, dass die Union nur auf Machterhalt fixiert sei, greift zu kurz. Vielmehr geht es um das christliche Motiv selber und um eine Verkürzung, die es in der gegenwärtigen Politik erfährt. Wenn nämlich vom „christlichen Menschenbild“ die Rede ist und dies dann in die politische Formel übersetzt wird, dass „es den Menschen besser gehen soll“, ist man schnell bei der aktuellen großen Koalition der sozialen Zuwendungen angelangt – Zuwendungen, die ohne Prüfung der zukünftigen Möglichkeiten des Landes, beschlossen wurden. Es wäre verfehlt, diesen Kurzschluss einer „Sozialdemokratisierung“ in die Schuhe zu schieben. Es geht um eine originär christlich-demokratische Fehlentwicklung: Das christliche Motiv wird darauf verkürzt, ein bestimmtes Menschenbild zu liefern. Und es handelt sich wirklich um eine Verkürzung des religiösen Elements. Denn die großen Erzählungen des Christentums gehen weit über ein Menschenbild hinaus. Die Schöpfungsgeschichte, die Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies oder die Geschichte vom Gottessohn, der auf die Erde kommt, ver-weisen den Menschen auf die Welt und geben ihm auf, sich hier zu bewähren. Keine andere Religion enthält diese Blickrichtung so deutlich. Keine bildet ein so starkes Motiv für die Menschen, den Ort, an den sie gestellt sind, zu lieben, und die Gaben, die sie erhalten haben, weiterzuentwickeln. Das ist das Markenzeichen des Christentums, das sich über Jahrhunderte erst allmählich herauskristallisiert hat. Es droht, unkenntlich zu werden.
Freilich ist die Übersetzung dieses Motivs in die Politik nicht leicht. Denn Wirtschaft, Staat und Familie sind in modernen Zeiten paradoxe Gebilde, die den Menschen Anpassungen abverlangen: Man muss das Kapital des Unternehmens achten, um die eigene Arbeit gut tun zu können. Man muss die Waffen des Staates hüten, um den Frieden zu erhalten. Man muss sich in einer Ehe binden, um das eigene Leben weiter zu öffnen. Die Übersetzung von Christentum in Politik erfordert also einen Sprung von den Höhen des Glaubens zu den säkularen Höhen der modernen Welt. Das christliche Motiv kann nur wirken, wenn die Menschen sich auf die Restriktionen politischer, wirtschaftlicher und kultureller Institutionen einlassen. Wer Christentum in Politik übersetzen will, muss darauf achten, dass er nicht zu kurz springt. Die Gefahr eines christlichen Populismus, der allzu simple, sofort fühlbare Lösungen „für den Menschen“ in Aussicht stellt, ist nicht von der Hand zu weisen.
(erschienen als Leitartikel in der Tageszeitung „Die Welt“ am 3.1.2014 unter der Überschrift „Rückzug aus der Mitte“)