Die Bundesregierung hat in Afghanistan alle Gebote eines geordneten Rückzugs verletzt, weil sie von Anfang an keine Vorstellung von der Tiefe der Krise des Landes hatte.
Der Afghanistan-Schock
21. August 2021
Tagelang, ja wochenlang, als der Rückzug der westlichen Allianz aus Afghanistan längst beschlossen war, hat es die deutsche Bundesregierung unterlassen, diesen Rückzug mit militärischen Mitteln zu organisieren. Man muss kein Militär-Experte sein, um zu erkennen, dass ein solcher Rückzug eine der gefährlichsten Operationen ist, weil man hier besonders schwach und anfällig ist. Der Feind im Vormarsch kann hier leicht alle Initiative an sich reißen, wenn er schnell Schlüsselposition besetzt und rücksichtslos von seinen Waffen Gebrauch macht, und wenn sich im eigenen Lager eine Haltung des Abwartens oder gar der Schicksalsergebenheit durchsetzt. Deshalb ist es besonders wichtig, Rückzugskorridore mit sicheren Sammelplätzen festzulegen und die Tore für das Verlassen des Landes (Grenzorte, Flugplätze, Seehäfen) mit starken militärischen Kräften zu sichern (und weiträumig zu sichern, wenn man im Fall Afghanistan am Flughafen von Kabul sieht). So ist die militärische Stärke der ausschlaggebende Faktor für einen gelingenden Abzug, die kritische Mindestvoraussetzung. Es ist genauso, wie zu Beginn einer Auslandsmission, wo auch das Militär die ersten Schritte angesichts der meistens unklaren Machtverhältnisse dort machen muss. Diese gefährliche Unklarheit gilt auch beim Rückzug gegenüber einer vorrückenden Macht, auf deren Zurückhaltung man nicht bauen kann, und die oft zur Willkür neigt. Um diese Macht noch für ein gewisse Zeit in Schach halten zu können, ist eine erhöhte militärische Präsenz nötig. Wer das in Denken und Tun ignoriert, will in Wirklichkeit vom Militär und seinen Schutzaufgaben prinzipiell nichts wissen. Die deutsche Bundesregierung hat gezeigt, wie fremd sie der Bundeswehr gegenübersteht. Und wie sehr hier ein Grundmisstrauen gegen jede Schlüsselrolle militärischer Stärke besteht.
Ein Wort wird in Umlauf gesetzt
Was in diesen Wochen und Tagen geschehen und nicht geschehen ist, ist noch nicht aufgeklärt, aber schon jetzt sind eklatante Unterlassungen unübersehbar: Es gibt keine Rückzugskorridore im Land, obwohl die systematische Eroberung der Provinzen und Provinzhauptstädte durch die Taliban schon vor Wochen begonnen hat. Kabul ist gefallen und der Flughafen, der das Haupttor nach draußen ist, ist von den Taliban vollständig und eng eingekesselt, sodass sie es in der Hand haben, wer dorthin gelangt und wer nicht. So sind Tausende deutsche Staatsbürger und afghanische Mitarbeiter schutzlos zurückgelassen worden, und man kennt größtenteils nicht mal ihren jetzigen Aufenthaltsort. Sie wurden praktisch zu Geiseln in den Händen der neuen Machthaber.
In dieser Lage eilt nun die Bundesregierung an die Mikrophone, um die Öffentlichkeit von ihrem Mitgefühl zu unterrichten und dann, vor allem, um einen bestimmten Satz in Umlauf zu bringen: „Wir haben uns verschätzt“. So langsam sie im Handeln vor Ort war, so schnell ist sie dabei, eine bestimmte Sprachregelung durchzusetzen: Damit versucht sie, vor jeder Aufklärung, schon die Deutungsmacht über die Vorgänge zu gewinnen. Indem sie alles zu einer Frage der „Einschätzung“ macht, verkleinert sie das Monströse ihrer Fehlentscheidungen. Sie will die Notwendigkeit eines militärischen Schutzes im Grundsatz sehr wohl gewusst haben, und sie will auch den Willen, diesen Schutz herzustellen, im Grundsatz gehabt haben – aber dann hat sie sich bloß irgendwie „verschätzt“. Sie gibt einen „Fehler“ in ihrem Handeln zu, aber nicht die falsche Grundhaltung, die die ganze Linie ihres Handelns bestimmt hat. Das schmähliche Versagen beim Rückzug soll auf keinen Fall als Konsequenz einer politischen Grundposition dieser Regierung sichtbar werden.
Der Vorbehalt gegen alles Militärische
Dabei liegt der Zusammenhang eigentlich auf der Hand. Die Bundesregierung versagt in einem Moment, wo das militärische Handeln für die Rettung von Menschenleben entscheidend ist – weil sie die militärische Seite ihrer Afghanistan-Mission von Anfang an kleingeredet und verdrängt hat. Weil sie diejenigen, die auf diese Seite hingewiesen haben und gefordert haben, dieser Wahrheit ins Auge zu sehen, sogar in die Nähe des Rechtsextremismus gerückt hat. In Afghanistan von Krieg zu sprechen, war ein Tabu. Deutschland sollte in der Rolle des Entwicklungshelfers auftreten. Und die Entwicklungshilfe sollte vor allem eine „Bildungsoffensive“ sein. Es ist ja in diesen Tagen oft davon die Rede, dass in Afghanistan die Idee eines „nation building“ durch Intervention von außen gescheitert ist. Das ist sehr wahr. Aber diese Wahrheit gilt nicht nur für militärische Interventionen, sondern auch für Bildungs-Interventionen. Im Grunde greift diese Form des Nationenbauens von außen ja noch umfassender und intimer in die Zivilisation eines Landes ein. Und diese Form ist in Afghanistan auch gescheitert, wenn man bedenkt, wie leicht dem islamistischen Fundamentalismus die Rückeroberung gefallen ist.
Berthold Kohler hat diese Erkenntnis in einem Leitartikel in der FAZ (17.8.2021) in zwei Sätzen resümiert: „Nicht allein Amerika scheiterte in Afghanistan. Auch am deutschen Wesen ist es nicht genesen.“
Eine „deutsche Idee“ (I)
Es ist ja wahr, dass auch andere Länder den Rückzug verschleppt haben und nicht frühzeitig alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel dafür mobilisiert haben. Aber die Idee, es gehe in Afghanistan um einen pädagogischen Einsatz, diese überhöhte „Bildungsidee“ ist eine spezifisch „deutsche“ Idee. Und sie wurde auch so ins Schaufenster gestellt – in Abgrenzung zur Haltung anderer Länder, insbesondere gegenüber den USA.
Es gehört zur Grunderfahrung der heutigen Weltpolitik, dass die Repräsentanten Deutschlands sich in der Rolle einer zivilen Weltmacht gefallen und mit dieser „weichen Macht“ zu punkten versuchen. Sie wollen um jeden Preis harte Zusammenstöße und Blut an den Händen vermeiden. Sie wollen – siehe Militäreinsätze im Nahen Osten – allenfalls Beobachtungsaufgaben und Ausbildungsaufgaben übernehmen, bei denen es keine bösen Bilder gibt. Sie wollen die Guten sein. Und zugleich die Besser-Wissenden: Denn die deutsche Bildungsidee als weltpolitischer Grundsatz wird tritt mit der Behauptung auf, auf diese Weise würden die „tieferen Ursachen“ aller aktuellen Krisen „bekämpft“. So war und ist es auch in der Migrationskrise seit 2015.
Eine „deutsche Idee“ (II)
Wenn hier auf eine „deutsche Besonderheit“ hingewiesen wird, ist gleichwohl eine Präzisierung wichtig. Zum einen sind es natürlich nicht alle Deutschen, die so ticken. Es gibt hierzulande Gott sei Dank viele vernünftige und praktische Leute. Es ist ein bestimmter Sektor der Gesellschaft, der sich in dieser Rolle einer Welt-Bildungs-Macht gefällt und von dieser höheren Warte auch auf andere Menschen und Länder herabsieht. Dieser Sektor scheint in Deutschland aber einflussreicher zu sein als in anderen Ländern. Aber es gibt ihn in anderen Ländern auch, und die Idee, dass die heutige Welt durch „soft power“ regiert werden könnte, und dass das Militär eine im Grunde veraltete und „zu harte“ Einrichtung ist, ist in diesen Ländern auch verbreitet.
Der Realitätsschock
Das Wort von der „Fehleinschätzung“ verführt zu dem Glauben, dass es in Afghanistan um eher kurzfristige politische Stimmungen und Bewegungen geht. Doch hier hat sich eine trügerische Grundstabilität in Nichts aufgelöst. Es gibt einen Realitätschock. Plötzlich sind wir gezwungen, die afghanische Nation in einem ganz anderen Licht zu sehen. Sie ist heute durch Zersplitterung, durch frei flottierende Gewalt und durch Apathie gekennzeichnet – ihr Zustand ist vielleicht sogar kritischer als vor 40 Jahren. Die Intervention stellte eine völlig künstliche Situation, eine Blase her, die es erlaubte, alle Verantwortung – für das eigene Leben, für die Familie oder für die Nation – auf die fremden Kräfte abzuwälzen. Und den kritischen Zustand zu übersehen. Wieso eigentlich hat die deutsche Politik bei all dem tiefschürfenden „Ausbilden“ nicht gemerkt, dass die Bereitschaft der Ausgebildeten, für ihr Land zu kämpfen, gleich Null war? Gibt so etwas wie Bildungs-Blindheit? Gewiss wird unter den militärischen und zivilen Kräften der Afghanistan-Mission der Zweifel am eigenen Tun gewachsen sein. Aber die Lage hat sich noch schneller zugespitzt.
Aber das heißt nicht, dass diese Interventionen „Schuld“ sind an Zersplitterung, Gewalt und Apathie. Die Interventionen haben den Ernst der Lage nur verdeckt. Die jetzigen Schuldzuweisungen an den Westen verdecken auch nur den Ernst der Lage. Die Ursachen reichen viel tiefer in den Alltag mit seiner elementaren Knappheit in einem von der Grundausstattung sehr armen Land. Und dann ist da eine Entwicklung, die in ihrer grundlegenden, die Gesellschaft umstürzenden Bedeutung noch gar nicht in unserer Wahrnehmung angekommen ist: Im Jahr 1980, zu Zeiten der russischen Besatzung betrug die Bevölkerungszahl 13,3 Millionen, 2020 waren es unfassbare 38,9 Millionen. Eine Verdreifachung, in diesem extrem kargen Land! Für das Jahr 2050 werden 64,7 Millionen prognostiziert. Man kann unter diesen Umständen eigentlich nicht mehr von einer afghanischen Nation sprechen. Das ist in unserer heutigen Welt nicht der Regelfall, aber kein Einzelfall. Solche Verhältnisse sind in großen Teilen Afrikas und in einigen Regionen Asiens oder Süd- und Mittelamerikas gegeben. Die Redlichkeit gebietet es, offen auszusprechen, dass es hier keine schnelle Lösung gibt.
Vor allem: Es gibt sie nicht von außen. Die völlige Maßlosigkeit von Bevölkerungsentwicklung, Gewalt und Apathie kann nur von innen gebrochen werden. Das Maß kann nur aus eigener Verbundenheit mit dem Schicksal des Landes gefunden werden. Erst dann kann man ernsthaft von einer Nation-Werdung sprechen. Dieser geschichtliche Haltlosigkeit Afghanistans wurde von der internationalen Intervention, ob zivil oder militärisch, gar nicht bearbeitet. Diese Realität wurde nicht mal berührt. Sie konnte gar nicht von der Intervention berührt werden. Aber nun ist die Haltlosigkeit schlagartig zum Durchbruch gekommen. Und die Machtergreifung der Taliban ändert daran nichts, sondern setzt sie nur fort.
Die verdecke Seite der „großen Herausforderungen“
Doch auch die internationalen Organisationen und die besonders von westlichen Ländern betriebene Globalpolitik ist strukturell unfähig, diese Realität zu ändern. Sie schwebt viel zu weit darüber, um sie überhaupt wahrzunehmen. Sie wurde ja von den aktuellen Ereignissen und der Stimmung im Lande völlig überrascht. Ihre Missionen und Projekte, die immer mit dem Gestus der „großen Herausforderung“ vorgetragen werden, und immer Teil einer weltweiten „großen Transformation“ sein sollen, bilden offenbar gar kein Motiv, nun die jeweils besondere Realität eines Landes wahrzunehmen. Das „nation building“ will Nationen als historisch gewachsene Größen gar nicht wahrhaben. Es ist mehr ein Polit-Werbeslogan. Die Afghanistan-Mission sollte etwas Umfassenderes und Höheres sein. So wurde sie vage und praktisch gar nicht zu handhaben. Das große Ziel stand in keinem Verhältnis zu den Mitteln. Es gab keine präzisen Kriterien für eine kritische Überprüfung der Resultate. Man hat die größten Ziele an die Wand gemalt und die schönsten Perspektiven eröffnet. Und gleichzeitig war man auch im Ausmalen der größten Katastrophen-Szenarien sehr erfinderisch. Auch dies globale Warnen verstand man als Ausdruck einer höheren Moral und eines umfassenderen Wissens. So hat die Politik unserer Gegenwart eine Scheingröße erreicht, wie es die Geschichte der Menschheit noch nicht gesehen hat.
Diese Politik der Scheingröße hat einen Nebeneffekt, den ihre Protagonisten nicht an die große Glocke hängen, aber den sie doch nicht ungerne sehen: Denn mit ihr entfernt man sich von den vielfältigen Widrigkeiten und Mühen, die in jeder konkreten Realität vorhanden sind. Man ist also jene nächstliegenden Aufgaben, die weniger vorzeigbar sind, sondern bisweilen schmerzhaft und mit „bösen Bildern“ verbunden. Meistens ist ihre Bearbeitung auch ziemlich zäh und langweilig. Dagegen kann man den großen und fernen Zielen von vornherein bescheinigen (ganz ohne vorliegende Leistungen), dass sie „sehr ehrgeizig“ seien. Und man kann auch ohne weiteres behaupten, dass alles „auf einem guten Weg“ sei. So werden die „großen Herausforderungen“ im Handumdrehen zu einem großen Alibi.
Der Alibi-Mechanismus
Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, dass große, weltumspannende Rettungsprojekte eine Hybris darstellen, also eine Grenzüberschreitung der Menschen beim eigenen Eingreifen. Ebenso ist auf die Hysterie hingewiesen worden, die bei manchen Beschwörungen einer Weltkatastrophe am Werk ist, also eine Grenzüberschreitung in der Reaktion auf Gefahren. Es sind sozusagen Verirrungen im Großen, und es ist richtig, dem heute entgegenzutreten. Aber die mögliche Alibi-Funktion dieser Verirrungen ist bisher kaum zur Sprache gekommen, obwohl da vielleicht die verheerendsten Auswirkungen zu finden sind. Denn sie lenken ab von anderen, näherliegenden Krisen, deren Lösung unter Umständen wichtiger, aber mühevoller ist. Das Projekt eines großen Weltumbaus könnte also einen ganz banalen, schäbigen Zweck erfüllen: Er gestattet es, sich vor den wirklichen Problemen zu drücken. Dieser Zweck muss den Beteiligten gar nicht immer bewusst sein. Er kann auch ganz blind zustande kommen, als willkommene Nebenwirkung sozusagen. Wo das Große und Zukünftige in den Vordergrund tritt, wird das Begrenzte und Gegenwärtige zweitrangig. So heißt es dann „Fridays for future“ statt „Bleibe im Lande und ernähre dich redlich“.
Das Alibi ist geplatzt
Die „große Afghanistan-Politik“ des Westens ist ein Musterbeispiel für diesen Alibi-Mechanismus. Hier war die Diskrepanz zwischen den großen Zielperspektiven und den kleinen Handlungsrealitäten vor Ort besonders eklatant. Trotzdem wurde es über viele Jahre hingenommen, dass sich Anspruch und Wirklichkeit immer weiter auseinanderentwickelten. Doch nun ist das Alibi geplatzt. Diese „große Afghanistan-Politik“ ist jetzt krachend und mit schlimmen Opfern zusammengebrochen. Der Realitätsschock ist da. Es ist höchst, auch anderswo die fiktive Größe der herumgeisternden „Global Governance“ zu entzaubern.
(erschienen in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“)