Ein kurzer Versuch über Weihnachten

Der ferne Gott

Da sind die Kerzen auf dem Kranz. Es ist Adventszeit. Auf dem Bild, das mich seit der Kindheit begleitet, sind sie immer rot. Der Kranz ist nicht weiter geschmückt, sondern nur aus Tannenzweigen gebunden. Etwas wird vorgelesen. Es wird gesungen. Aber vor allem ist da das Licht der Kerze. Das Licht, das da so einsam in der Dunkelheit steht. Die langsam herabbrennende Kerze steht verloren und vergänglich in der Unendlichkeit der Schöpfung. Wie eine Träne im Ozean. Und doch ist das Licht da. Damit es in diesem Jahr 2015 in unserem Wohnzimmer wieder zur Stelle ist, musste viel zusammenkommen. Nichts daran ist selbstverständlich.

Der Glaube an Gott bemisst sich nicht an der Größe der Häuser, die man ihm errichtet. Oder an den siegreichen Feldzügen, die man in seinem Namen auf Erden führt. Auch nicht an dem sozialen Zusammenhalt und der seelischen Fürsorge, die die Gemeinde den Gläubigen bietet. Überhaupt scheint mir der ständige Versuch, Gott den Menschen nahezubringen und ihn in unsere Alltagsprobleme einzuspinnen, ein Irrweg. Indem man das tut, verstellt man sich Gott mit allzu menschlichen Bedürftigkeiten und Begehrlichkeiten.

Müssen wir nicht lernen, an einen fernen Gott zu glauben? Müssen nicht gerade wir Modernen das lernen, weil wir viel weiter in die Unendlichkeit der Schöpfung vorgedrungen sind als alle Zeitalter zuvor. Uns ist offenbar geworden, mehr als es der frühchristlichen Zeit  und auch der Zeit des mittelalterlichen Glaubens offenbar werden konnte, dass man die Unendlichkeit nicht ausloten kann. Deshalb wissen wir besser als andere Zeitalter, wie hoffnungslos der Versuch ist, uns Gottes Größe in irdischen Unternehmungen annähern zu wollen. Gott und die Menschen sind in einem tiefen Sinn unvergleichbar. Inkommensurabel.

Ist es da nicht geradezu zwingend logisch, dass ein Gott, der zu uns aus solcher ungeheuerlichen Ferne kommt, dies in kleinen und kleinsten Dingen tut? Ist das einsame Licht der Adventskerze nicht gerade so ein Ding? Ist nicht die Nacht, aus der es hervorleuchtet, ein Ausdruck der Ferne? Und ist diese Ferne nicht die tiefste Art, wie wir als Menschen Größe wahrnehmen können?

Stille Nacht, heilige Nacht.

Wir müssen akzeptieren, dass Weihnachten eigentlich nur ein Moment ist. Eine recht schweigsame Nacht, eher ein Fragment als eine ganze Geschichte. Ein kleiner Zipfel Unendlichkeit, der uns berührt. Der Rest liegt nicht in unserer Hand. Das Endliche aber, was in unsere Hand gelegt ist, müssen wir nach unseren Maßstäben selber verantworten. Der ferne Gott ist auch ein fordernder Gott.

 

 

(unveröffentlicht, 21.12.2015)