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Die Teuerungswelle bei den Nahrungsmitteln weckt uns aus den grünen Blütenträumen der „Agrarwende“. Was nützt eine Nachhaltigkeit, bei der es gar keine ausreichende Produktivität mehr gibt? 

Der Fluch der „postindustriellen Gesellschaft“ 

30. Juni 2022

Es gibt einen Bereich der Teuerungswelle, der die Menschen zu Recht besonders beunruhigt: die Preise der Nahrungsmittel. Wenn die alltäglichsten Dinge auf einmal einen Preissprung machen, gerät der sicher geglaubte Boden unter unseren Füßen ins Wanken. Und es sind nicht einige besondere Produkte, die sich verteuert haben, sondern die Preissteigerung geschieht auf breiter Front. Sie hat inzwischen auch ein historisches Ausmaß erreicht: Der Lebensmittel-Index der Welternährungsorganisation FAO hat den höchsten Stand seit 1961 erreicht (Bericht im Wirtschaftsteil der FAZ am 19.3.2022). Diese Entwicklung ist nicht allein auf die Ukraine-Krise zurückzuführen, sondern setzte schon früher ein. Nahrungsmittel umfassen sehr verschiedene Produkte. Die Landwirtschaft ist daran beteiligt, aber auch eine umfangreiche weiterverarbeitende Industrie. Man findet sehr unterschiedliche Betriebsformen und Arbeitsformen. Dabei kommt es nicht nur auf den Menschen an, und auch nicht allein auf die Natur. Vielmehr müssen beide Seiten zusammenkommen, und das heißt nicht nur Zusammenwirken, sondern auch Auseinandersetzung. Wenn ein globaler Preisindex über Jahre eine ansteigende Tendenz hat, kann das nicht an einem einzelnen Ereignis wie dem Krieg in der Ukraine liegen. Und wenn ein schon länger in Europa laufendes Programm wie die „Agrarwende“ den Preissteigerungen nichts entgegensetzen kann, sondern eher teurere Produkte auf den Markt bringt, spricht das nicht dafür, dass von dieser Seite ein Beitrag gegen die Verteuerung des Lebens zu erwarten ist. Und auch das Allheilmittel „Digitalisierung“ scheint auf diesem Feld zu versagen, denn an der realwirtschaftlichen Front, an der grundlegende Lebensmittel der Natur physisch abgerungen werden müssen, hat die Digitalisierung wenig beizutragen. Es hapert oft an sogenannten „einfachen“ Dingen, die aber physisch getan werden müssen, und die durch mehr Information und Kommunikation noch nicht erledigt sind. Es geht um die berühmten „Mühen der Ebene“, und da steht die „postindustrielle Gesellschaft“ jetzt ziemlich hilflos da. Sie beschäftigt sich offenbar mit den falschen Dingen. 

Eine „tiefe“ Teuerung 

Auf der weltweiten Teuerungsliste der Welternährungsorganisation FAO stehen die Speiseöle ganz oben (Steigerung seit April 2016 135 Prozent), gefolgt von Getreide (92 Prozent) und Milchprodukten (91 Prozent). Fleisch mit 39 Prozent und Zucker mit 30 Prozent sind geringer gestiegen, aber auch noch überdurchschnittlich. Es ist ein Merkmal dieser Teuerungsentwicklung, dass sie bei den Erzeugerpreisen beginnt und erst nach und nach in die Verbraucherpreise eingeht. Nimmt man erhöhten Düngemittel-Preise und die stark verteuerten Transporte vom Erzeuger zum Verbraucher hinzu, verstärkt sich dies Bild: Es ist eine „tiefe“ Teuerung, die in die ersten Stufen der Nahrungsmittel-Gewinnung zurückreicht. Sie ist kein vordergründiges Hin und Her zwischen Einzelhandel und Verbrauchern. 

Der Lebensmittel-Preisindex der FAO lag im April 2022 bei 154 Punkten. Im Jahr 2020 lag er noch bei 99,2 Punkten. Vorher hatte er schon einmal (im Jahr 2011) die Höhe von 118,8 erreicht (siehe FAZ-Wirtschaftsteil vom 23.5.2022: „Wie Nahrungsmittelkrisen entstehen“). Man muss davon ausgehen, dass dieser Preisindex weiter steigen wird. Das liegt zum einen daran, dass die Bevölkerungsdynamik in einigen Weltregionen zu einem großen Importbedarf. Die Verteuerung der Getreideimporte und die Erhöhung des Brotpreises Anfang der 2010er Jahre spielte bei den Unruhen in der arabischen Welt eine wichtige Rolle. Auf der anderen Seite gibt es auf der Erzeugerseite eine merkwürdige Schwäche des Westens: Er nimmt seine Rolle als Überschuss-Prozent und Exporteur von Nahrungsmitteln weniger wahr als früher.

Wo ist die Produktivität des Westens? 

Die Ukraine-Krise hat verheerende Folgen auf den Weltmärkten für Getreide. In dem erwähnten FAZ-Artikel vom 23.5.2022 findet sich folgende Passage:

„Russland und die Ukraine haben in den vergangenen 30 Jahren ihre Getreideproduktion um zwei Drittel und ihre Produktivität um drei Viertel erhöht. Waren zur Jahrtausendwende noch die USA bei den Getreideausfuhren unangefochten, so war zuletzt Russland mit einem Anteil von 20 Prozent der größte Weizenexporteur der Welt, die Ukraine folgte mit 9 Prozent auf Platz fünf. Bei Getreide nahmen beide Staaten hinter den USA Platz zwei und drei ein.“

Das bedeutet, dass sowohl Russland als auch die Ukraine eine Fortschrittsgeschichte in der Landwirtschaft geschrieben haben, und dabei offenbar längere Zeit gut koexistieren konnten. Wie passt dazu die Mär von „Putins Russland“, dass wirtschaftlich marode ist, und sich deshalb das Nachbarland einverleiben will? Das Getreide wird auf jeden Fall gebraucht. Die Liste der afrikanischen und arabischen Staaten, die bisher Lieferungen aus Russland und aus der Ukraine erhielten, ist lang. Dabei ist das Mengenverhältnis zwischen Russland und der Ukraine ungefähr 3:1. Ist es wirklich zu verantworten, Russland durch einen Wirtschaftskrieg vom Getreide-Weltmarkt auszuschließen und dadurch eine Hungerkrise auszulösen?  Und es gibt noch weitergehende Fragen: Was ist aus der produktiven Weltrolle der USA geworden? Und was ist eigentlich mit Europa und Deutschland los? Hat unser Land, das auf einem recht fruchtbaren Stück Erde sitzt, keinen Überschuss-Ehrgeiz für den Außenhandel?

Deutschlands Produktivitäts-Aufgabe 

In einem Kommentar von Julia Löhr im Wirtschaftsteil der FAZ vom 11.4.2022 war die Aufgabe der Überschuss-Produktion noch präsent. Die Autorin schrieb von der „komfortablen Situation“ Deutschlands und folgerte dann: Eigentlich darf man sich nicht in dieser Komfortzone einrichten, sondern muss die Getreideproduktion hochfahren. Löhr wörtlich:

„Deutschland befindet sich in einer komfortablen Situation. Anders als wenn es um Gas und Öl geht, sind wir in der Getreideversorgung nicht auf Importe aus dem Ausland angewiesen. In den Ländern des Nahen Osten und Nordafrikas sieht das anders aus. Dorthin ging bislang ein Großteil der Lieferungen aus Russland und der Ukraine…Eigentlich ist klar was jetzt in Ländern mit guten Anbaubedingungen geschehen müsste: produzieren, was das Zeug hält. Doch in Deutschland tut sich diesbezüglich bislang wenig. Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, auch jene landwirtschaftlichen Flächen vorübergehend zu bewirtschaften, die in normalen Zeiten für den Naturschutz brachliegen. Auf diese Weise könnten die Erntemengen gesteigert werden…Doch Özdemir (der Bundes-Landwirtschaftsminister, GH) bremst. Hierzulande dürfen Landwirte nur den sogenannten Aufwuchs auf den ökologischen Flächen als Tierfutter nutzen…Özdemir hat offenbar große Sorgen, dass die Landwirte eine vorübergehende Lockerung der Regeln so interpretieren könnten, dass der Naturschutz auch langfristig in den Hintergrund treten soll.“

Das sind klare Worte. Und es geht nicht nur um eine „vorübergehende Lockerung“. Es geht um eine Richtungsentscheidung. Denn die Argumente, die Löhr anführt, gehen über die Ukraine-Krise hinaus: Für das ganze 21. Jahrhundert ist die Ernährungslage in bestimmten Regionen dieser Erde sehr kritisch. Getreideüberschüsse werden also für einen sehr langen Zeitraum gebraucht. Man könnte sogar noch weitgehender argumentieren: Es gibt auf der Erde sehr unterschiedliche Flächen mit unterschiedlicher Eignung für Landwirtschaft. Das spricht für eine großräumige Arbeitsteilung – zum Beispiel bei Getreide. Aus der Geschichte ist eine solche Arbeitsteilung durchaus bekannt. Im Mittelmeerraum konnten sich die meisten großen Städte – in der Antike, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit – nicht hinreichend aus ihrem unmittelbaren Hinterland versorgen. Sie waren auf ständige Getreideimporte per Schiff angewiesen. Weiter nördlich in Europa lagen die „Kornkammern“ des Westens großenteils im Osten. Heute haben Russland und die Ukraine hier eine sinnvolle, großflächige agrarindustrielle Überschussproduktion aufgebaut. Ja, beide Länder haben hier Stärken, und beide werden im Rahmen einer internationalen Arbeitsteilung auf der Welt gebraucht. Aber es wird auch ein produktiver Beitrag des Westens dringend gebraucht.    

Ackerland und Weideland 

In einem Beitrag für das FAZ-Feulleton („Unser täglich Korn“, 31.5.2022) schreibt der Pflanzen-Ökologe und Landschafts-Historiker Hansjörg Küster über die Reserven für den Getreibeanbau in der Welt: „Allgemein sind es nicht Entwicklungs- und Schwellenländer, in denen man die Getreideproduktion noch wesentlich ausweiten kann, sondern die Industriestaaten im Westen Eurasiens und im Osten Nordamerikas mit ihren besonders guten Böden und besonders geeigneten klimatischen Bedingungen.“  Auch Küster argumentiert also im Sinn einer großräumigen Arbeitsteilung.    

Küsters Argumentation stützt sich dabei auf eine wichtige zivilisationshistorische Errungenschaft – die Unterscheidung zwischen Ackerland und Weideland („Grünland“), die wiederum auf unterschiedliche Bodengüten hinsichtlich Fruchbarkeit, Stabilität und Bearbeitungs-Eignung beruht. „Man könnte die alte Einteilung in Ackerland und Grünland als Richtschnur verwenden“, heißt es bei Küster, und er fordert eine Konzentration des Getreideanbaus auf die besseren Böden, weil Arbeit und Investitionen dort die höchste Wertschöpfung bewirken und die naturgegebenen Bodenvorteile am besten zur Geltung gebracht würden. Die weniger guten Böden könnten als Weideland genutzt werden. Auch eine Umwandlung von Wiesen in Ackerland sei denkbar, zumal „viele dieser Grünlandflächen erst vor wenigen Jahrzehnten aus stillgelegtem Ackerland hervorgingen“. Es geht also um eine produktive Differenzierung, die sowohl ökonomisch als auch ökologisch ist. Dieser Ansatz folgt eigentlich genau dem Gesetz des komparativen Vorteils des britischen Ökonomen David Ricardo, der nachwies, dass eine solche Differenzierung den höchsten Gesamtertrag erzielt. Sie sorgt auch dafür, dass schlechtere Gegebenheiten genutzt werden. In diesem Sinn ist es auch vernünftig, wenn auf den besten Böden dezidiert mit agrarindustriellen Mitteln gearbeitet wird. Eine weniger starke Nutzung wäre denkbar, aber sie würde wertvolle Gelegenheiten nur halb nutzen und damit verschenken. Dann wären auch Möglichkeiten, den Preissteigerungen entegenzuwirken, verschenkt. 

Man sieht hier, wie allein schon durch eine Boden-Differenzierung die Dinge viel konstruktiver behandelt werden können. Die Feindbilder der Agrarwende – „gutes Getreide“ kontra „böses Fleisch“ oder „gute Bauern“ kontra „böse Industrie“ – sind demgegenüber zerstörerisch, weil sie nur eine einzige „richtige“ Lösung für alles kennen. 

Landarbeit? Oh, nein! 

Der bereits zitierte FAZ-Artikel „Wie Nahrungsmittelkrisen entstehen“ zeigt am Ende eine Graphik, die den Selbstversorgungsgrad Deutschlands bei verschiedenen Agrarprodukten zeigt. Dort gibt es zwei Produktgruppen, bei denen der deutsche Selbstversorgungsgrad sehr gering ist: bei „Gemüse“ beträgt er 36 Prozent, bei „Obst“ 20 Prozent. Das überliest man leicht, und der FAZ-Autor widmet dem Phänomen auch keine besondere Aufmerksamkeit. Aber eigentlich verraten diese Niedrigzahlen eine krasse Fehlentwicklung.  Denn Gemüse und Obst können bei sehr unterschiedlichen Gegebenheiten von Bodengüte, Klima, Wasservorkommen und Betriebsgrößen gedeihen. Deutschland hätte für viele Gemüse- und Obstarten viele Standorte zu bieten. Aber es gibt ein großes Hindernis: Die Arbeit ist viel und hart. Oft gibt es auch extreme Spitzen in der Erntezeit. Dafür muss man Arbeitskräfte finden. Offenbar schafft es Deutschland nicht, einen hinreichend großen Bevölkerungsteil für diese Arbeit zu motivieren. Andere Länder, auch in Europa, schaffen das. Sie haben daher eine höhere Selbstversorgungsquote. Und in Deutschland wird selbst die geringe Quote nur erreicht, indem man Saisonarbeiter aus dem Ausland holt. Dass ist wahrlich bizarr, weil hierzulande Gemüse und Obst „aus der Region“ moralisch besonders hoch im Kurs stehen. Aber mit der Arbeit, die das bedeutet, will man nichts zu tun haben – insbesondere nicht in den Großstädten, wo man diejenigen sitzen, die die „Agrarwende“ besonders lautstark fordern.   

Die „tiefe“ Teuerung (II) 

An dieser Stelle, wo es um die Erarbeitung der Nahrungsmittel geht, reicht die Ursache der Teuerungswelle sehr tief in die gesellschaftliche Realität unseres Landes hinein: Es gibt eine Arbeitskrise dort, wo die Nahrungsmittel wirklich der Natur abgerungen werden müssen. Wo man sich sehr weitgehend und dauerhaft den Natur-Bedingungen anpassen muss, fühlt man sich „überfordert“. Auf Tätigkeiten, die nur in anstrengender Haltung ausgeübt werden können und die sich oft auch monoton wiederholen, lässt man sich ungern ein. Insbesondere auf der ersten Stufe der Lebensmittel-Erzeugung, die auf dem Land stattfindet, müssen schwere Dinge bewegt werden; man hat mit Staub und Schlamm zu tun, mit Gestank und Lärm, mit Mist und Blut. Und sehr oft auch mit Einsamkeit. Man nehme die Liste der Berufe, die in diesem Bereich tätig sind, und man wird überall Nachwuchsprobleme finden – ganz gleich, ob im Klein- oder Großbetrieb, ob bei pflanzlichen oder tierischen Produkten. 

Ja, es gibt sehr wohl diejenigen, die diese Arbeit gut und mit Stolz machen. Aber sie werden mit nachsichtigem Lächeln betrachtet. Sie gelten als „Modernisierungsverlierer“ – wenn sie nicht gerade ein besonderes Bio-Produkt oder irgendein Kulturevent nach dem Geschmack des gehobenen, großstädtischen Mittelstandes anbieten. Mit anderen Worten: Die Normalarbeit in diesem Bereich gehört nicht mehr zur normgebenden Mitte der Gesellschaft. Denn diese nennt sich inzwischen „postindustrielle Gesellschaft“ und betrachtet jeden, der nicht ist wie sie, als Auslaufmodell.  

Der Fluch der „postindustriellen Gesellschaft“ 

Doch nun kommt die Teuerungswelle, und auf einmal wird eine andere Realität sichtbar, die man für längst überholt hielt. Die Preissteigerungen drücken nicht nur eine „Geldentwertung“ aus, sondern echten Mehraufwand bei der Güterherstellung, und auch eine Rückkehr zu Güterknappheiten, die man überwunden glaubte. Und man hat jetzt wenig zu bieten: Alles, was die postindustrielle Gesellschaft für „die Zukunft“ hält, hilft gegen die Verteuerung des Lebens nicht weiter. Ja, es verstärkt die Teuerung sogar noch: Würde der „Green Deal“ der EU – mit 4 Prozent Flächenstilllegung von 2023 an, mit weiteren Einschränkungen des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln und mit einer forcierten Umstellung auf Ökolandbau – umgesetzt werden, könnte das zu einer Halbierung der Erträge in der Landwirtschaft führen (sagt der FDP-Agrarexperte Gero Hocker, zitiert in der FAZ vom 8.3.2022). Beim Ökolandbau rechnet man, dass im Schnitt ein Drittel mehr Bodenfläche für den gleichen Ertrag eingesetzt werden müssen. Und auch die eingesetzte Arbeitszeit wird mindestens so stark wachsen müssen. Das bedeutet, dass das Leben sich auf einer elementaren Ebene verteuert, und dass diese Preis-Revolution sich immer weiter frisst, wenn der Verfall der Produktivität so weitergeht wie in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Dieser Verfall ist ein Merkmal der postindustriellen Gesellschaft. 

Die Industriegesellschaft hatte die Produktivität auf ein historisch hohes Niveau gehoben. Mit ihrer Verabschiedung kehrt die Plage der Knappheit wieder. Das Leben wird teuer, oft unbezahlbar. Ganz prosaisch, ohne große Erzählung, ohne Rettung. Das ist der Fluch der „postindustriellen Gesellschaft“.

(erschienen am 2.Juli 2022 bei „Die Achse des Guten“ und ebenfalls am 2.Juli in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick Online“)