ie Abschaffung des Automobils als Massenverkehrsmittel zerstört die Spielräume des modernen Siedlungssystems und damit die allgemeine Freiheit. (Über die Automobilkrise, Teil II)
Die Autokrise führt zu einer Großstadtkrise
6. November 2018
Die sogenannte „Dieselkrise“ ist inzwischen zur Fahrverbotskrise geworden und wuchert ungehindert weiter. Im ersten Teil dieser Folge wurde gezeigt, dass durch die Verschärfung der Grenzwerte eine Kettenreaktion der Intoleranz erzeugt wurde, die letztlich das Automobil selbst in seiner Eigenschaft als Massenverkehrsmittel bedroht. Sie setzt damit auch ein Kernstück des Industrielandes Deutschland aufs Spiel, die Automobilindustrie.
Diese Intoleranz kann auf den ersten Blick als Privatsache der Autofahrer „in ihren Blechkisten“ erscheinen, aber sie trifft in Wirklichkeit die Allgemeinheit und bringt das gesamte Verkehrs- und Siedlungssystem aus dem Gleichgewicht. Wird der „motorisierte Individualverkehr“ (MIV), wie es in der Fachsprache heißt, zum Privileg von Wenigen, wird die gesamte räumliche Organisation der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens getroffen. Genauer: Die Komplexität und damit die „Freizügigkeit“ des modernen Siedlungssystems wird zerstört, wenn jenes Teilstück der Massenmobilität, das mit seiner Flexibilität für weniger verdichtete Siedlungsformen effizient ist, aus dem Gesamtsystem des Verkehrs herausgebrochen wird. Eine weitgehende Einschränkung des motorisierten Individualverkehrs würde vor allem die peripheren Siedlungsstandorte treffen, darunter auch das nähere und weitere Umland der Großstädte (besonders in den Metropolregionen). Mit anderen Worten: Die Intoleranz bei den Grenzwerten zerstört die Alternativen und Ausweichmöglichkeiten, die es bisher bei Standortentscheidungen für Wohnen, Gewerbe und Infrastrukturen gab. Das bedeutet eine Einschränkung unserer Freiheit, wie wir sie uns heute noch kaum vorstellen können.
Der Angriff auf das Automobil ist also ein Politikum. Es ist ein Angriff auf gemeinschaftliche Rechtsgüter, auf wichtige, über lange Zeiträume entwickelte Commons eines modernen Landes. Diese Seite der „Dieselkrise“ ist bisher ungenügend betrachtet und erörtert worden.
Die spezifische Leistung des Automobils
Sprechen wir also von der Verkehrsleistung des Automobils. Dabei geht es um eine Teilgröße. Das Auto ist nicht alles, sondern ein Verkehrsmittel neben anderen. Es ist aber mehr als eine private Marotte von „Egoisten in ihren Blechkisten“. Der Beitrag des Automobils zur allgemeinen Mobilität soll hier anhand der „Gesamtverkehrsprognose 2025 für die Länder Berlin und Brandenburg“ dargestellt werden. Dieser Bericht (Auftraggeber waren die Landesregierungen von Berlin und Brandenburg) vermittelt ein Bild der Größenverhältnisse des Verkehrs im Einzugsgebiet einer großen Metropole. Und er enthält eine langfristige Prognose, die nahe an den Zeitpunkt heranführt, der für das „Verbot des Verbrennungsmotors“ diskutiert wird. Der Bericht ist etwas älter (2009) und geht von einem sinkenden Verkehrsdruck aus – was man aus heutiger Sicht bezweifeln muss. angesichts einer gesteigerten Mobilität der Arbeits- und Lebensführung und angesichts des Siedlungsdrucks auf die Metropolräume. Aber gerade, weil der Bericht noch nichts vom „Berlin-Boom“ ahnte, sind die konstant hohen Verkehrsanteile des Automobils, die er errechnet, ein guter Orientierungspunkt. Sie sind das Mindeste, womit wir rechnen müssen. Der Bericht führt vor Augen, worüber wir eigentlich reden, wenn wir das Automobil in Frage stellen. Da er den Berlin-Brandenburger Verflechtungsraum in sehr Gesamtheit betrachtet, kann man aus ihm herauslesen, welch große Lücke sich ergeben würde, wenn es hier zu Fahrverboten oder unbezahlbaren Fahrzeugkosten käme. Der Bericht ist auch ein Gegenmittel gegen die Betriebsblindheit mancher Innenstädter, die allzu selbstgewiss davon ausgehen, „die Großstädter“ zu sein.
Die Verkehrsrealität in einer Metropolregion
Die folgenden beiden Tabellen, die ich vereinfachend aus einer Abbildung der „Gesamtverkehrsprognose“ (S. 65) errechnet habe, zeigen die Prozent-Anteile der Verkehrsmittel „Automobil“, „Bus und Bahn“, „Fuß und Fahrrad“ an der Verkehrsleistung im Personenverkehr – zum einen den Stand des Jahres 2006, zum anderen die Prognose für das Jahr 2025. Räumlich wurde unterschieden zwischen einem Kernbereich und einem Außenbereich in Berlin und einem Brandenburger Umland.
Die Tabellen zeigen: Das Automobil hat selbst im Kernbereich Berlins einen Anteil von über 40%. Dieser Anteil wächst, je weiter man an die Peripherie geht. Die Bedeutung des Automobils sinkt auch bis 2025 nur unwesentlich. Selbst wenn man von einem wachsenden Anteil von Bus und Bahn ausgeht, ist eine Ersetzung des motorisierten Individualverkehrs durch den Öffentlichen Personen-Nahverkehr nicht einmal annähernd in Sicht. Das gilt erst recht für eine Ersetzung durch das Fahrrad.
Dabei ist ein Punkt wichtig. Ich habe die Messgröße „Verkehrsleistung“ zugrunde gelegt und nicht die Messgröße „Verkehrsaufkommen“. Beim Verkehrsaufkommen wird nur die Wege-Zahl mit einem Verkehrsmittel gezählt, bei der Verkehrsleistung wird die bewältigte Distanz (in Kilometer) gezählt. Bei der Größe „Verkehrsaufkommen“ wird also das Entfernungsproblem, das ja für die Menschen ganz wesentlich für die Verkehrsmittelwahl ist, ausgeblendet. So kommt es, dass in dieser Messung der Anteil von Fuß und Fahrrad 39,7% beträgt (im Gesamtraum Berlin), während er im gleichen Raum bei der Messgröße „Verkehrsleistung“ nur 10,1% beträgt!
Die Distanzen der dispersen Siedlungsstruktur sind auch der Hauptgrund, warum der Automobilgebrauch mit wachsender Entfernung vom Zentrum steigt. Das Fahrrad stößt hier ebenso an seine Grenzen wie die öffentlichen Verkehrsmittel, die nicht flächendeckend ausgelegt werden können – insbesondere beim Schienenverkehr. Die Messgröße „Verkehrsleistung“ bildet also die Härten des Alltagslebens der Menschen besser ab und zeigt die Grenzen einer „Verkehrswende“. Noch realistischer wäre es, wenn man auch die Sachleistung des Transports (mitgeführte Dinge, z.B. bei Großeinkauf) einbeziehen würde. Spätestens, wenn man den Gewerbeverkehr (Industrie, Handwerk, Dienstleistungen) in die Betrachtung mit einbezieht, wird diese Sachdimension des Verkehrs deutlich.
Die dumme Gegenüberstellung von „Menschen“ und „Blechkisten“
Hinter den konstant hohen Zahlen des Automobilverkehrs steht also keine Lebensverachtung, sondern die räumliche Ausdehnung der heutigen Lebenswirklichkeit. Es geht nicht um Bequemlichkeit, sondern um existenzielle Fragen: Ist ein bestimmter Wohn-, Erwerbs- oder Dienstleistungsstandort haltbar? Ist eine Schule oder sonstige öffentliche Einrichtung haltbar? Die Behauptung, dass es den einen bloß um „Blechkisten“ ginge, während es den anderen um „die Menschen“ ginge, ist ebenso dumm wie polemisch. Wenn man also in einer Statistik sieht, wie viele tägliche Kilometer in einem Verflechtungsraum per Automobil zurückgelegt werden, sollte man daran denken, dass da elementare Bedürfnisse und Notwendigkeiten im Spiel sind. Wer einfach mal verordnet, dass Berlin nun „Fahrrad-Hauptstadt“ werden soll, geht arrogant über die Millionen täglichen Kilometer hinweg, die bewältigt werden müssen. Natürlich gibt es Zuwächse beim Fahrrad, aber ebenso deutlich zeichnen sich harte Grenzen ab, an denen der gute Wille für das Fahrrad (oder für die flächendeckende Einrichtung neuer Bahnlinien) heute schon scheitert.
Man sollte aber auch nicht den Umkehrschluss ziehen und dem Teil der Bevölkerung, der sich ausschließlich mit dem Öffentlichen Nahverkehr und dem Fahrrad bewegt, weil er dafür den passenden Wohn- und Arbeitsstandort oder die zusätzliche Zeit hat, herabsetzen. Eher sollte man von zwei Realitäten ausgehen, die heute in den Ballungsräumen nebeneinander bestehen. Es gibt die Auto-Fraktion und die Bahn-Bus-Fahrrad-Fraktion (und dazwischen viele Mischformen). Das Verkehrssystem einer Metropolen-Region muss auf beiden Beinen stehen. Es muss dual sein und sich dazu auch offen und positiv bekennen. Der Zusammenhalt unserer Ballungsräume hängt davon ab, dass diese beiden Fraktionen sich gegenseitig respektieren, und dass keine Fraktion zur Alleinherrschaft strebt. Die berühmte urbane Toleranz muss heute darin bestehen, dem jeweils anderen Arbeits- und Lebensmodell gute Gründe zuzubilligen. Und unter „guten Gründen“ sollte man nicht nur pragmatische Gründe („anders geht es nicht“) verstehen, sondern auch Leidenschafts-Gründe: Beide Mobilitätsmodelle haben ihre eigenen Freiheits-Leidenschaften, für die sie ihre jeweiligen Verkehrsmittel lieben.
Eine brisante Kombination: Wohnungsknappheit und Autoverbote
Es gibt aber auch eine ganz aktuelle Dringlichkeit, die für die Zukunft des Automobils in Ballungsräumen spricht. Es gibt gegenwärtig eine starke Siedlungsbewegung, der sich auf diese Räume richtet. Viele Menschen suchen dort einen Arbeitsplatz und eine Wohnung, viele Gewerbe suchen dort einen Standort. In der Mitte der Ballungsräume steigen die Preise exorbitant. Damit ist klar, dass die Zuzugsbewegung nicht in der Stadtmitte bewältigt werden kann. Oder anders gesagt: Sie kann nicht monozentrisch bewältigt werden. Bezahlbarer Wohn- und Gewerberaum kann nur multizentral gewonnen werden. Das hat eine Konsequenz für das Verkehrssystem. Seine Leistungsfähigkeit kann auch nur weiträumig und multizentral gesteigert werden. Damit aber werden genau dort Zuwächse erzeugt, wo das Automobil hohe Verkehrsanteile hat. Es ist also völlig unrealistisch, wenn man die gegenwärtige Zuzugswelle in die großen Städte, die nur durch eine Dehnung des urbanen Raums bearbeitet werden kann, durch ein Verkehrssystem bewältigen will, das diese Dehnung nicht bewältigen kann. Was auf den angespannten innerstädtischen Wohnungsmärkten geschieht, wenn die Ausweichmöglichkeiten an die Peripherie ausfallen, weil das Kettenglied „motorisierter Individualverkehr“ zerstört wird, mag man sich gar nicht vorstellen.
Die Autokrise ist eine Krise der großstädtischen Toleranz
Betrachtet man die Verkehrs- und Siedlungsrealität in einer großen Metropolregion auf diese Weise näher, erscheint die Autofeindlichkeit, die man bei bestimmten Bewohnern in den Kernstädten solcher Regionen antrifft, in einem neuen und weniger guten Licht. Diese Kritiker des Autoverkehrs behaupten von sich, „die großstädtische Lebensweise“ schlechthin zu verkörpern. Aber sie interessieren sich nicht für die Gründe, die andere Menschen, die auch Bewohner der Großstadtregion sind, dazu veranlassen, ein Automobil zu besitzen und zu nutzen. Soweit die Autokritiker in den Kernstädten leben, profitieren sie von einer räumlich privilegierten Zentralposition (eine Position, die nicht beliebig vermehrbar ist). Ihr Verzicht auf das Auto ist kein heroisches Opfer. So verweisen die Grünen stolz auf die hohen Stimmanteile, die sie in bestimmten Innenstadtwahlkreisen erzielen und leiten daraus ab, dass sie zur Regierung der Metropolregionen berufen seien. Dass die Mehrheitsverhältnisse sofort andere werden, wenn man nur ein paar Kilometer ins nähere und weitere Stadtumland geht, blenden sie aus. Mit anderen Worten: Sie repräsentieren nur ein bestimmtes Milieu und nur eine Teilgröße der großstädtischen Gesellschaft. Aber sie akzeptieren für sich diese begrenzte Rolle nicht, sondern erheben einen Alleinvertretungsanspruch. Sie interessieren sich nicht für die anderen urbanen Lebensformen. Sie stehen nicht für die berühmte großstädtische Toleranz, sondern für Intoleranz. Sie erheben einen Alleinvertretungsanspruch.
Die „Dieselkrise“ mit ihrer Verschärfung der Grenzwerte und ihren Fahrverboten zeugt von einem sozialräumlichen Abschließungs-Prozess, der in den heutigen Großstädten stattfindet: Ein bestimmtes soziales Milieu verkapselt sich in den Kernstädten und verweigert anderen sozialen Milieus und deren Lebensformen und Verkehrsmuster die Anerkennung. Es erschwert diesen Milieus sogar ganz handfest den Zugang zu zentralen städtischen Einrichtungen und zum innerstädtischen öffentlichen Leben. Man kann sich zu Recht über die Rücksichtslosigkeit und Arroganz, mit der unsere Großstädte nach „falschen“ und „richtigen“ Lebensweisen zensiert werden, erregen. Jedoch ist hier noch mehr im Spiel als böser Wille. Es ist in den Großstädten eine soziale Schicht herangewachsen, die so befangen ist in ihrer Selbstbespiegelung, dass sie andere Lebensformen gar nicht mehr wahrnehmen und akzeptieren kann. Die Autokrise ist eine Krise der großstädtischen Toleranz im Inneren der Großstadt. Ein Teil der großstädtischen Gesellschaft „kann nicht mehr Großstadt“.
Das „Groß-Berlin“ der 1920er Jahre als Vorbild
Das wird gerade in der deutschen Hauptstadt Berlin deutlich, wenn man die Entwicklung im historischen Maßstab betrachtet. Vor über 100 Jahren begann in Berlin die großräumige Vernetzung der Stadt mit seinem Umland, die im Verkehrswesen zunächst mit U-Bahn und S-Bahn begann und dann in der zwei Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Automobil wirklich flächendeckend wurde. Damals wurde der Begriff „Groß-Berlin“ geprägt, der keineswegs die monströsen „Germania“-Visionen des NS-Regimes meinte, sondern ganz wesentlich mit den Modernisierungen der Weimarer Republik verbunden ist. Allerdings ist diese stadtregionale Entwicklung nie so stark ins öffentliche Bewusstsein getreten wie die (innerstädtischen) Reizbilder von „Metropolis“ bis „Babylon“.
Die Autokrise offenbart also, dass es im heutigen Deutschland nicht nur an Verständnis für die berechtigten Belange der Industrie fehlt, sondern auch an einem adäquaten Verständnis der modernen Großstadt und ihrer Legitimität.
(erschienen als zweiter Teil eines dreiteiligen Beitrags bei „Die Achse des Guten“ am 9.11.2018)