Die Dortmunder Nordstadt gilt als sozialer Brennpunkt. Aber nicht der große Krach steht bevor, sondern eine allmähliche Erschöpfung ist im Gang – Eine Reportage vom Mai 2013

Die Integrationspolitik, rastlos und ratlos

Es ist ein Donnerstag im Mai, morgens um 9 Uhr macht der Nordmarkt einen  freundlichen Eindruck. Der viereckige Platz ist sorgfältig gestaltet, mit vielen Wegen, Grünflächen, Bepflanzungen und einigen Bäumen – keine dunklen Ecken, alles überschaubar und einladend. Auf den Bänken blinzeln ein paar Alte ins Sonnenlicht, wie ähnlich sind sich da Westfale und Anatolier. Kinder gehen durch die Grünanlage zur angrenzenden Grundschule, einige in Begleitung ihrer Mütter. Ein friedliches Bild, ohne verängstigte Blicke und eilige Schritte. Wir sind mitten in der Dortmunder Nordstadt. So sieht also ein „sozialer Brennpunkt“ aus.

Freilich, wer etwas genauer hinschaut, kann die Mühe ahnen, die hinter diesem Frieden steht. An diesem Morgen ist das „Nordmarkt Team“ der Diakonie – so steht es auf den Jacken – unterwegs und reinigt den Platz vom Müll des gestrigen Abends. Der Rasen wird gemäht, einige Pflanzen ersetzt. Auf dem Bürgersteig stehen zwei Mitarbeiter des „Service- und Präsenzdienstes“ mit einem türkischen Anwohner zusammen. Ebenfalls bei der Arbeit ist die städtische Müllabfuhr und zweimal hat schon ein Einsatzwagen der Polizei langsam den Platz umrundet. Die Grundschule macht einen freundlichen Eindruck. Man hat bunte Buchstaben angebracht, aber auch der starke Stahlzaun, der sie vom Platz abschirmt, ist unübersehbar. Auf der gegenüberliegenden Seite des Nordmarkts ist die Situation dann etwas weniger entspannt. Dort haben sich etliche junge Männer versammelt. Sie mögen so um die 30 Jahre alt sein und wohl aus Südosteuropa kommen. Sie mustern aufmerksam jeden Passanten und wirken so, als wären sie soeben irgendeinem Fernbus entstiegen. Über dem Ladenlokal, vor dem sich die größte Gruppe gesammelt hat, steht „Stehcafe Europa“. Nein, die Gesten sind nicht wirklich drohend, aber der Passant hat doch das Gefühl, dass hier etwas abläuft, das er nicht durchschaut. Man ahnt, dass das friedliche Morgenbild des Platzes eventuell nur die halbe Wahrheit ist und zu späterer Stunde hier niemand mehr locker über den Platz geht, egal ob Alteingesessener oder Zuwanderin.

Über die Dortmunder Nordstadt ist schon manche finstere Geschichte geschrieben worden. Bei einem „Brennpunkt“ denkt man an große Gewaltausbrüche. Doch zeigt die Szenerie am Nordmarkt, dass das Problem anders liegt. Es gibt ein Nebeneinander zwischen Zivilität und Verwahrlosung, ein tägliches Ringen um kleinere Geländegewinne. Aber es gibt einen wachsenden Aufwand und eine zunehmende Erschöpfung der Vertreter der Zivilität.

Die aktuelle Ausgabe der Zeitung „Nordmund“, herausgegeben vom Quartiersmanagement des Stadtteils, setzt auf die anregende Wirkung der Kultur. Für dieses Frühjahr kann sie zahlreiche Veranstaltungen anbieten: die 6. Internationale Woche, den Aktionstag „Nordstadt spielt – Spiel mit“, mehrere „Nachbarschaftspicknicks“, den Nordmarkt-Boule-Cup, acht Sonntagskonzerte „Musik.Kultur.Picknick“. Die Momente des Miteinander, die so tatsächlich entstehen, zeigen etwas Erfreuliches: Die so häufig unterstellte Anfangsfeindschaft zwischen Einheimischen und Fremden besteht nicht. Die soft power von Musik, Spiel und Essen macht es möglich, entspannt miteinander umzugehen. Die harten Themen müssen hier nicht geklärt werden. Der „Nordmund“ nennt die Armutseinwanderung durchaus beim Namen, aber die Probleme werden nur angedeutet. Man erfährt, dass mit einem Förderprojekt ein leerstehendes Ladenlokal wieder in Betrieb genommen wird oder dass eine Aktion zur Bepflanzung von Baumscheiben gestartet wurde. Doch wissen die Nordstädter auch, welche Schwierigkeiten es gibt, wenn Betriebe mit Ertrag arbeiten wollen, wenn Familien sich einen bescheidenen Wohlstand ohne Schulden aufbauen wollen oder wenn der Schulunterricht ordnungsgemäß stattfinden soll.

Historisch gesehen besteht da ein frappierender Gegensatz: Auf der einen Seite gibt es heute ein bunteres soziales Miteinander, als es der Stadtteil je in seiner langen Geschichte gesehen hat. An vielen Orten werden positive Zeichen gesetzt, die Nordstadt ist voller guter Botschaften. Nie zuvor – auch nicht in der Zeit der großen Industrie – gab es in der Bildgeschichte dieses Stadtteils so viele heitere Gesichter, so viel bunte Farben, so viel unterhaltsame Events. Doch auf der anderen Seite findet man heute viel weniger, was selbsttragend ist. Zu früheren Zeiten scheint es mehr innere Stärke gegeben zu haben. So grau und hart die alten Fotographien vom Nordmarkt aussehen, so sehr ist hier doch der Berufs- und Gewerbestolz, der Glaube an den Familienaufstieg und der Respekt vor den Bildungsgütern der Schulen spürbar. Gewiss wirken die Gesichter auf den heutigen Betrachter oft starr und verschlossen, aber man kann auf ihnen auch das Selbstbewusstsein gestandener Bürger und Industriearbeiter erkennen. Hingegen wirkt die heutige Fröhlichkeit der Straßenfeste manchmal schon etwas angestrengt. Das Wissen, dass der Stadtteil auf schwachen Füßen steht und immer mehr von fremder Förderung abhängt, lässt sich nicht verdrängen.

Eine Geschäftsstraße wandelt sich

„Ohne ein ständiges Kümmern geht es nicht“, sagt mir Frau Ausbüttel. Sie ist die Inhaberin einer Apotheke und Vorsitzende der Interessengemeinschaft Münsterstraße. Das ist die Hauptgeschäftsstraße der Nordstadt. Im vergangenen Herbst hatte ich in vielen Schaufenstern Plakate gesehen, die für eine „Nacht der Kulturen“ warben. „Da fragen Sie mal bei der Frau Ausbüttel nach“, hieß es. Die Veranstaltung fand am St. Martins-Tag statt und hatte den Anlass ein bisschen „erweitert“. Aber ein richtiges Pferd war dabei und am Ende wurde die Geschichte vom heiligen Martin vorgelesen. 500 Teilnehmer waren trotz Regenwetters gekommen. „Das Pferd war für die Kinder natürlich eine Riesenattraktion“, erzählt die Apothekerin, um dann bei der Frage nach der Situation der Gewerbetreibenden doch ernster zu werden. Ihr Geschäft hält sich gut, aber vielen anderen geht es schlechter und das gilt nicht nur für die deutschen Traditionsgeschäfte. Die Kunden aus dem Stadtteil kaufen weniger oder bleiben ganz weg. Wenn der Besitzer in Ruhestand geht, findet sich schwer ein Nachfolger. „Einige Geschäfte überleben, weil Stammkunden, die inzwischen in anderen Stadtteilen wohnen, noch immer zu ihrem gewohnten Laden in der Münsterstraße zurückkommen.“ Die Nordstadt zehrt also mehr als früher von Geld, das woanders verdient wird. Eine Lösung für eine ganze Geschäftsstraße ist das nicht, besonders, wenn die Kosten weiter steigen. „Für viele Geschäfte kann eine Kostenerhöhung von 100 Euro im Monat schon das Aus bedeuten.“ Dann berichtet Frau Ausbüttel vom Borsigplatz, wo Edeka seinen Supermarkt geschlossen hat. „Damit fehlt ein Ankergeschäft, das Kunden auch für andere Geschäfte anzog. Fällt dieser Anker jetzt weg, könnte das gesamte Gefüge kippen.“ Dieser Fall Edeka ist auch deshalb bedeutsam, weil Borussia Dortmund am Borsigplatz seine alte Hochburg hatte und heute versucht, diesen Teil der Nordstadt mit vielfältigen Fanaktionen zu beleben. Gute Aktionen, aber die wirtschaftlichen Realitäten können sie offenbar nicht beeinflussen.

So besteht die Gefahr, dass das Wirtschaftsleben immer flüchtiger wird, wenn das Rückrat stabiler Unternehmen fehlt. Eine kleine Geschäftszählung in der Münsterstraße bestätigt diesen Eindruck. Ich notiere: Geschäfte von KiK, Lidl und DM, ein Telekom-Büro, zwei Renn- und Wettbüros, ein traditionelles Fachgeschäft für Wohnungstextilien, ein türkisches Fachgeschäft für festliche Kleidung (mit und ohne Schleier), 2 Ärzte, ein Therapiezentrum, 2 Läden mit Ein-Euro-Waren, einen Backpoint, die Sparkasse, ein Blumengeschäft mit Postschalter, drei italienische Restaurants/Eiscafes, einen Fahrradladen, eine alteingesessene Bäckerei, den „Nord-Grill“, 3 Läden für Gold An- und Verkauf, einen Friseur (ein Rentnerangebot für 5,- Euro, die „Bio-Dauerwelle“ für 37 Euro), 10 Call- und Internetshops, drei Übersetzungsbüros, den Kinderschutzbund, 2 Bingos (Spielhallen), 5 türkische Bäcker, ein Programmkino „Roxy“ und 8 Gaststätten mit türkischem, arabischem, italienischen, deutschen Angebot. Eine Apotheke, ein Friseur, eine Kneipe und ein Laden von Woolworth stehen leer. Dabei macht die Münsterstraße keinen verwahrlosten Eindruck, die Pflasterung ist neu, die Bänke, Kübel und Lampen sind in Ordnung, nur am Nordende häufen sich die Graffity-Schmierereien. Man merkt, dass sich viele Eigentümer bemühen, ihre Umwelt in Ordnung zu halten. Frau Ausbüttels Interessengemeinschaft zeigt Wirkung. Auch das Berlin-Neuköllner Phänomen, dass in bestimmten Straßen die Schaufenster und Speisekarten nur noch in fremder Sprache beschriftet sind, gibt es hier nicht. Doch im Vergleich zu den 90er Jahren, als ich hier gewohnt und eingekauft habe, ist der Wandel unübersehbar: Die Geschäfte mit kurzatmigem Angebot und provisorischer Ausstattung haben stark zugenommen. Die Betriebe scheinen mehr von der Hand in den Mund zu leben. Auch die Wohnungsklingeln in der Münsterstraße passen ins Bild: Auf vielen kleben nur provisorische Papierzettelchen mit kaum entzifferbaren Namen.

Die Torfunktion eines Stadtteils

Improvisation muss kein Makel sein. Es gehört zu einem Zuwanderungsstadtteil und die Nordstadt hat für Dortmund seit langem eine solche Torfunktion, bei der Menschen hier eine erste Anlaufstelle finden, aber dann auch weiterziehen. 2011 zogen 2838 Ausländer zu, aber auch 2980 Ausländer weg, davon gut die Hälfte innerhalb des Stadtgebietes. Das spricht nicht gegen die Nordstadt, sondern dafür, dass ausländische Bürger Aufstiegschancen im Beruf, in der Bildung und bei der Wohnungswahl wahrnehmen. Aber gelingt die Torfunktion der Nordstadt wirklich? Eine Zahl stimmt bedenklich: Nur noch 30,5% der erwerbsfähigen Bevölkerung sind sozialpflichtig beschäftigt, eine Dekade vorher waren es noch 37,7%. Das deutet darauf hin, dass der hohe Ausländeranteil von fast 60% auch dadurch zustande kommt, dass die Zuwanderer nicht weiterkommen, sondern scheitern und passiv werden. Natürlich soll man nicht alles schwarz malen, denn 30% Prozent Beschäftigte, das sind immer noch über 11000 Menschen. Man trifft sie am ehesten frühmorgens um 6 oder 7 Uhr an, oft pendeln sie in andere Stadtteile und Nachbarstädte, denn die hiesige Unternehmensdecke ist dünn geworden. Für den Rest des Tages prägen sie also nicht das Straßenbild und das lässt die Nordstadt passiver erscheinen als sie ist. Dennoch ist die zunehmende Wirtschaftsferne ein Problem, denn im Nahbereich können kaum erste Schritte ins Berufsleben gemacht werden. Wie deutsche Betriebe funktionieren, können Zuwanderer hier nur selten erfahren.

Allerdings ist die Vermutung, dass das ein Problem von Dortmund insgesamt sei und irgendwie an der Krise von Kohle und Stahl liege, falsch. Darüber ist die Stadt längst hinweg. 2009 hat die Zahl der Erwerbstätigen erstmals wieder den Stand der 60er Jahre erreicht, eine historische Leistung. Aber die Nordstadt hat eine Sonderentwicklung genommen. Der Dortmunder Strukturwandel verlagerte den Schwerpunkt der Wirtschaft auf höherwertige Güter und Dienstleistungen und diese Einseitigkeit bot der Nordstadt weniger Platz – ein durchaus typischer Fall in innerstädtischen Problemquartieren. Handwerk, Einzelhandel oder Gastronomie fanden hier nicht die Geldmittel, die Kenntnisse und auch nicht den Absatzmarkt. Für die in der Nordstadt typischen Geschäfte und Handwerksbetriebe – mit niedrigen Erträgen, oft in Hinterhoflagen – gab es keinen eigenen Entwicklungsweg. Die Besitzer sahen keine Perspektive, sie fanden auch keine Nachfolger. Ist diese Wirtschaftsferne der Nordstadt mit all den sozialen Spätfolgen, die heute zutage treten, also ein unvermeidliches Schicksal? So einfach ist es nicht. Die Einseitigkeit des Strukturwandels beruht auch auf Entscheidungen. Sie war politisch gewollt – durch höhere Kosten und aufwendigere Normen. Lärm, Staub und Rauch galten mehr und mehr als unerträglich, auch der Wirtschaftsverkehr störte. Und dieser politische Trend besteht nach wie vor. „Wir setzen immer neue Zeichen, die den Gewerbetreibenden mit niedrigen Erträgen signalisieren, dass sie keine Zukunft haben“, sagt mir ein Bekannter, der früher bei der Dortmunder Wirtschaftsförderung gearbeitet hat und nicht namentlich genannt werden möchte. Er wird noch deutlicher: „In einem Stadtteil wie der Nordstadt könnte die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns das Maß endgültig voll machen, besonders im Einzelhandel, in vielen einfachen Handwerken und in der Gastronomie.“

Wer das übertrieben findet, dem sollte gleichwohl der Wandel der Münsterstraße zu immer wackligeren Geschäftsmodellen zu denken geben. Da macht sich, gewissermaßen im Rücken des offiziellen Strukturwandels ein zweiter Strukturwandel geltend, der das Niedrigpreis-Segment weiter absenkt – fast ohne Geschäftsausrüstung, mit undurchsichtigen „Selbstständigen“ und „mithelfenden Familienangehörigen“ ohne Arbeitsvertrag. Das Verdrängte kehrt zurück, unter schlechtesten Umständen, ohne jede Kontrollmöglichkeit. Und nun hören die Nordstädter von neuen Zuwanderern aus Bulgarien und Rumänien, die irgendein Gewerbe anmelden – Schrottsammler, Tapezierer oder andere Tätigkeiten ohne nennenswertes Betriebsvermögen. Sie hören von „Vermittlern“, die schon bei der Anreise „geholfen“ haben, die den Schriftverkehr mit den Behörden besorgen und die dann auch als Geschäftspartner der Neugewerbler auftreten. Sie „kaufen“ den Schrott und lassen sich das Geld gleich wieder zurückgeben als „Miete“ für eine Matratze in einem völlig überbelegten Haus. Das alarmiert die Nordstädter und es ist eine konkrete, vernünftige Sorge. Sie wissen um die nur mühsam zusammengehaltene Gewerbedecke im Stadtteil und fürchten, dass sie jetzt definitiv reißen könnte. Wer hier „Fremdenfeindlichkeit“ unterstellt, verrät nur seine Ignoranz und sein Desinteresse für den Zusammenhang eines solchen Tor-Stadtteils.

Abends bin ich im „Roxy“ und spreche mit den beiden Betreibern, die das Programmkino 2010 aus kommunaler Hand in Eigenregie übernommen haben. Das Kino hält sich über Wasser, aber nur, weil die Beiden viel Energie hineinstecken und fast gar nichts verdienen. Sie berichten, dass sich ihr Kundenkreis gewandelt hat. Früher kamen viele Besucher aus der Nachbarschaft – im Stadtteil wohnten viele Studenten, es gab Musikgruppen, Ökoläden, Auto- und Fahrradbastler. Heute lebt das Roxy von einem entfernteren Einzugskreis, der bis weit ins Ruhrgebiet streut. „Viele Studenten haben sich aus der Nordstadt zurückgezogen und leben in anderen Stadtteilen“, berichten sie. Ein gravierender Vorgang, denn damit fehlt dem Stadtteil ein wichtiges Bildungselement und auch ein unternehmerisches Element. Zwar gab es im Dortmunder Norden nie so eine starke Gründerszene wie in Berlin-Kreuzberg, doch jetzt scheint das Standbein einer Alternativkultur fast ganz zu fehlen. Das neuere Kulturleben im Stadtteil ist viel stärker von sozialpolitischer Förderung abhängig. Und der Zufall wollte es, dass ausgerechnet in der Nacht vor meinem Besuch im „Roxy“ die Schaukästen und die Eingangstür beschädigt wurden.

Wenn die Schule alles machen soll und immer weniger schafft

Kinder und Jugendliche sind das zweite große Thema in der Nordstadt. Besser gesagt: Eigentlich müssten sie es sein. Denn hier ist ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung höher als in allen anderen Dortmunder Stadtteilen. Fast ein Viertel der Bevölkerung sind 18 Jahre oder jünger, das sind über 12000 junge Menschen. Ein Tor-Stadtteil empfängt nicht nur Zuwanderer aus anderen Regionen, sondern er ist auch ein Startplatz ins Leben. Doch wiederum gibt es Anzeichen, dass dieser Startplatz nicht richtig funktioniert. Bei elementaren Bildungszielen schneidet die Nordstadt schlecht ab. Die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss liegt erheblich über dem Dortmunder Durchschnitt, die Arbeitslosenquote der 15- bis 25-Jährigen auch. „Es liegt nicht daran, dass es nicht viele Bemühungen und Hilfsprogramme gibt“, sagt Frau Heinemann (Name geändert). Sie ist Schulsozialarbeiterin an einer Hauptschule in der Nordstadt. Am schwarzen Brett des Sekretariats hängen zahlreiche Hinweise auf Förderprojekte und Beratungsstellen. Die Broschüre „Bambini – Leben mit Kindern in Dortmund“, die es schon in der 8. Auflage gibt, umfasst 116 Seiten. Viele der Angebote richten sich an die Nordstadt und das gilt auch für das „Psychosoziale Adressbuch“ mit seinen 60 Seiten. Doch das Bild der Schulrealität, das Frau Heinemann beschreibt, ist nicht sehr optimistisch. Sie ist hauptsächlich damit beschäftigt, jeden Tag neue Problemfälle zu bearbeiten. Auffällige oder aggressive Schüler einerseits, Schüler, die sich gemobbt fühlen oder resignieren andererseits. „In der Theorie sollen die besseren Schüler die schlechteren mitziehen, aber in der Realität ist es umgekehrt.“ Dabei gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen der Schulrealität und der Welt der Straßenfeste oder Musikevents. „Dort ist die Kür. Wer hingeht, tut es aus Interesse oder Neugier, jedenfalls aus eigenem Willen. An der Schule aber bekommen wir den ganzen Jahrgang. Alle Probleme kommen hier unweigerlich an. Die Schule liefert ohne Filter ein Gesamtbild der Situation.“ Und dann fügt sie hinzu: „Unsere Arbeit wird immer schwieriger. Die 10er (die diesjährige Abgangsklasse) geht noch, aber die 9er und 8er werden riesige Schwierigkeiten mit dem Abschluss haben.“ Sie sagt das ganz ruhig, ganz ohne Alarmton. Aber es ist ein schwerwiegendes Urteil über die Entwicklung im Stadtteil und die Rolle der Schule.

Man kann familiäre Gründe für ein solches Scheitern anführen, aber in einem Tor-Stadtteil wie der Nordstadt sind Defizite der Elternhäuser normal und deshalb richten sich hier viele Erwartungen auf die Schule. Die Regelmäßigkeit des Unterrichts, die Einteilungen in Fächer und Lernstufen, die Bewertung von Leistungen – diese Erfindungen des Schulwesens sind ja nicht zuletzt für die bildungsfernen Schichten gemacht. In der Geschichte der Nordstadt haben die Schulen auch schon manches Großproblem bewältigt. Doch wenn Frau Heinemann sagt, dass die Arbeit an der Schule schwieriger wird, dann meint sie auch eine innere Schwächung der Schule. Der Unterricht wird durch zusätzliche Aufgaben überlastet, sozialpolitische Ziele gehen auf Kosten des Bildungsauftrags. Da gibt es die Reform, die Kinder mit körperlichen und kognitiven Behinderungen in die Normalklassen aufnimmt („Inklusion“), und die dazu führt, dass ein größerer Teil der Unterrichtszeit für sie aufgewendet werden muss. „Die anderen langweilen sich, schalten ab oder stören“, beschreibt die Sozialarbeiterin die Situation. „Wie kann man so etwas einer Hauptschule, die sowieso schon am Limit ist, verordnen?“

Aber im Unterrichtsalltag gibt es auch andere „Ereignisse“ – vom lauten Streit zwischen zwei Schülern bis zum „Besuch“ immer neuer Berater – die den eigentlichen Unterrichtsbetrieb immer wieder unterbrechen. „Wenn die Schüler nicht mehr lernen, sich in einen Lernbetrieb einzufügen, fällt der Übergang in die Zwänge des Berufslebens erst recht schwer.“ Diese Schwächung des Lernens führt auch dazu, dass die Kinder und Jugendlichen mit ganz unrealistischen Erwartungen aufwachsen. Erwartungen, die sich immer weiter von den schulischen Leistungen entfernen: „Die schlechtesten Schüler erklären, dass sie einmal Arzt oder Anwalt werden.“

In der Schützenstraße, im Westen der Nordstadt, liegt der Kinder- und Jugendtreff „Juki“. Er ist in einer alten Fleischerei untergebracht, für einen großen Umbau fehlte das Geld. An den Wänden sind noch die alten Kacheln, die Installationen und die alte Kühlkammer – das Juki hat den Laden genommen, wie es nun mal da war und die eigenen Sachen einfach reingestellt. Es hat an vier Tagen von 14 bis 20 Uhr auf. Die Kinder und Jugendlichen kommen aus der näheren Nachbarschaft; kommt ein „Neuer“ dazu, hat er meistens durch einen Freund oder die Geschwister von dem Laden erfahren. Ich sitze mit Arnd Winkel, der hier schon lange Jahre als Betreuer arbeitet, zusammen und trinke einen ziemlich heftigen Kaffee aus einer Tasse, die sicher schon der alte Fleischer zwischen den Fingern hatte. Die Rollläden sind runtergelassen, dann klopft es – aha, die ersten Kunden kommen. Jetzt wird es wohl ein bisschen laut werden, denke ich. Aber Überraschung, die vier Jungens, so um die 12-14 Jahre alt, gehen zum „Chef“ und … geben ihm die Hand. Ganz ohne Gehabe, man guckt sich an. „Das ist Gerd, der schreibt für eine Zeitung“. Handschlag. Dann gehen sie zur Schublade, legen ihr Handy ab und tragen in eine Kladde ein, dass sie einen Tischtennisschläger entnommen haben. „Der Handschlag hat sich hier so eingebürgert. Das ist eine Art Vertrag für den Hausfrieden.“ Der Zusammenhalt ist gut, sagt Arnd Winkel. Manchmal sind es ganz einfache Sachen, die den Ausschlag geben. Man merkt dem Juki einfach an, dass die Decke knapp ist und alles schnell kaputt gehen kann, wenn die Jugendlichen nicht selber Acht geben. Irgendwie passt das zum Stadtteil. Hier braucht man die Kunst, das Elementare zu schätzen.

Arnd Winkel hat aber auch eine Beobachtung gemacht, die ihm Sorgen macht. Die Jugendlichen tun sich schwer, eine Sache dauerhaft zu üben und wirklich ein Können aufzubauen. Viele haben einmal angefangen, Fußball zu spielen oder Gitarre zu lernen. Aber sie haben es schnell wieder aufgegeben. Die Sportvereine, die immer wieder offene Übungsstunden und kleine Turniere veranstalten, berichten, dass sie wenig Durchhaltevermögen haben. Für das Training, für die Aufbauarbeit, die einen Verein ausmacht, reicht es nicht. Das ist die Gefahr einer allzu bunten „Festivalisierung“ der Stadtteilarbeit. Wenn es um soziale Brennpunkte geht, ist viel vom „Mut machen“ die Rede. So, als ginge es darum, besonders kühn zu sein und besonders hohe (und ferne) Traumziele zu haben. Doch die hohe Zahl der Abbrecher, über die Betriebe, Schulen und Vereine klagen, zeigt, dass es eigentlich auf andere Fähigkeiten ankommt: auf Ausdauer und auf die Fähigkeit, nach Rückschlägen von neuem anzufangen.

Ein allmählicher Erosionsprozess

Ja, der Tor-Stadtteil Nordstadt in Dortmund befindet sich in einer Krise. Doch ist diese Krise keine laute Katastrophe, sondern ein allmählicher Erosionsprozess, der sich oft im Verborgenen abspielt. Dazu gehört auch eine zunehmende Erschöpfung der vielen Personen, die sich mit den Mitteln der Sozialpolitik jeden Tag aufs Neue um den Stadtteil bemühen. „Ich weiß nicht, wie ich meine Arbeit bis zur Rente durchhalte“, hat Frau Heinemann mir zum Schluss unseres Gesprächs gesagt. Es gibt Akteure, die gerade jetzt eine gute Botschaft vermitteln wollen und sich Mühe geben, das auch persönlich auszustrahlen. Andere verbergen ihre Erschöpfung nicht mehr. Und alle gemeinsam fragen sich doch irgendwie, warum bei so viel Aufwand so wenig zählbarer Fortschritt herauskommt. In der Nordstadt wird viel veranstaltet und immer wieder Neues erfunden, doch die alten Probleme, die im Grunde schon über Jahrzehnte bekannt sind, kehren immer wieder. Es ist ein Phänomen, das man vom „Burnout“ kennt: Es muss immer mehr Anstrengung aufgewendet werden, um letztlich doch allenfalls den Status Quo zu halten. Das geht an den vielen engagierten Leuten nicht spurlos vorüber, besonders bei denen, die die Probleme hautnah erleben. Sie fühlen sich häufiger müde und auch allein gelassen. Denn ihre Erfahrungen passen so gar nicht zum Mythos von der „Integration“, die man bloß richtig wollen muss, damit sie gelingt.

Ich habe bei meinen Begegnungen in der Nordstadt niemand getroffen, der ein dumpfes Ressentiment gegen „die Ausländer“ geäußert hätte. Aber die reflexartige Forderung „Mehr Förderung!“ habe ich auch nicht mehr gehört. In der Dortmunder Nordstadt, die seit 35 Jahren eines der exemplarischen Fördergebiete der Republik ist, ist ein Ende der Fahnenstange erreicht. Der tägliche Zuwendungsfluss der Sozialpolitik – in Geld, Zeit und menschlich-professionellem Engagement – schafft offenbar nicht genügend Bleibendes und Tragfähiges. Die Erschöpfung der Engagierten hat gute Gründe, ihr Wettlauf mit den Problemen ist nicht zu gewinnen. In dieser Situation richten sich die Augen wieder auf die dauerhafteren Träger, die wir in normalen Stadtteilen immer stillschweigend voraussetzen: auf Betriebe, Familien, Schulen und Vereine. Letztlich sind sie doch das Maß aller Dinge und können durch keinen Zuwendungsfluss ersetzt werden. Indem sich die Hoffnungen auf diese Träger richten, sehen sie auch deutlicher die zahlenmäßigen Grenzen, die ein Tor-Stadtteil hat. Deshalb löst die neue Zuwanderungswelle aus Südost-Europa jetzt in der Nordstadt so viel Sorge aus.

(Der Text ist die Langversion einer Reportage, die am 23.7.2013 unter dem Titel „Die Sozialpolitik, rastlos und ratlos“ in der Tageszeitung „Die Welt“ erschien.)