Erst durch die Massenmotorisierung konnte die räumliche Arbeitsteilung eine ganz neue Stufe erreichen und dadurch auch eine rationellere Auslastung der Umwelt herstellen. Doch in den Kernstädten hat sich eine neue Ignoranz ausgebreitet, die das nicht wahrnehmen kann und will.

Die Leistung des Automobils

31.Januar 2019

(Der folgende Text ist die überarbeitete Fassung eines Kurzvortrages, den ich auf der Veranstaltung „Der Kampf ums Auto“, die am 31.1.2019 im Rahmen der vom Freiblick-Instituts veranstalteten Reihe „Berliner Salon“ stattfand, gehalten habe)

Zunächst möchte ich die Fragestellung präzisieren, mit der sich dieser Kurzvortrag befasst und der mit dem Titel „Die Leistung des Automobils“ gemeint ist. Gegenwärtig wird immer deutlicher, dass sowohl die „Energiewende“ als auch die „Verkehrswende“ ein Negativprogramm ist. Immer weniger wird hier versucht, durch die positiven Eigenschaften und Leistungen erneuerbarer Energien und Verkehrsmittel wie Bahn, Bus oder Fahrrad zu überzeugen, sondern man malt Schreckensbilder über die verheerenden Wirkungen von Kern- oder Kohlekraftwerken und eben – da sind wir beim Thema dieser Veranstaltung – beim Auto als Massenverkehrsmittel. Ich will hier das Automobil verteidigen, aber nicht dadurch, dass ich nun meinerseits Bahn, Bus und Fahrrad heruntermache, sondern ich indem tatsächlich positiv die Bedeutung des Autoverkehrs herausarbeite.

Dabei ist ein Punkt wichtig: Die heutige Verkehrsdiskussion erweckt des Öfteren den Eindruck, es ginge darum, das eine Verkehrsmittel zu finden, das alle Verkehrsaufgaben optimal löst. Ich glaube nicht, dass dies eine sinnvolle Fragestellung ist und dass damit dem Automobil (oder irgendeinem anderen Verkehrsmittel) ein Gefallen getan wird. Die beste Lösung für Verkehrsaufgaben ist immer eine Kombination verschiedener Verkehrsmittel. Es kommt also darauf an, ein ganzes Spektrum von Verkehrsmitteln mit den entsprechenden Infrastrukturen zur Verfügung zu haben. Dabei hat jeder einzelne Verkehrsträger seine spezifische Leistungsfähigkeit und seinen spezifischen Anwendungsbereich. Das bedeutet auch, dass es im Verkehrsbereich darum geht, die Wahlmöglichkeit unter verschiedenen Verkehrsmitteln offen zu halten. Die Freiheit der Bürger muss in dieser Wahlmöglichkeit bestehen und sich daher auf ein ganzes Spektrum bezahlbarer Verkehrsträger gründen. In diesem Sinn ist der Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger“ irreführend, wenn er sich nur auf das Auto bezieht und darin schon die ganze Freiheit in Verkehrsdingen repräsentiert sieht. Es geht in diesem Vortrag also um die spezifische Leistungsfähigkeit des Automobils und nicht um eine universelle Leistungsfähigkeit.

Die eigene „Auto-Biographie“ sprechen lassen

Noch eine zweite Vorbemerkung. Der Begriff „Leistungsfähigkeit“ kann leicht dahingehend missverstanden werden, dass es hier bloß um eine möglichst effiziente Raumüberwindung geht. Der Raum würde dann nur negativ als reine Distanz zwischen Punkten A und B verstanden, die an sich ohne Interesse ist. Aber Verkehrsmittel sind immer auch spezifische Mittel der Raumerfahrung und Raumerschließung. Und das Automobil ist hier attraktiv, weil es diese Raumerschließung individualisierbar macht. So ist es nicht erstaunlich, dass sehr viele Menschen ihre Biographie auch als „Auto-Biographie“ erinnern können.

Machen Sie einmal einen Versuch: Stellen Sie eine Liste aller Automobile auf, die Sie in Ihrem Leben besessen haben, und versuchen Sie, sich an die Eigenschaften und Lebensabschnitte zu erinnern, die sich für Sie mit bestimmten Wagen verbinden. Sie werden feststellen, dass das sehr unterschiedliche Erfahrungen, Gefühle, Urteile und Bindungen umfasst. Das erste (Anfänger-)Auto, reine Gebrauchsautos, Autos mit mehr oder weniger sympathischen Macken, „treue“ Autos mit erstaunlichem Durchhaltevermögen, Autos mit faszinierendem Fahrverhalten und großer Motorschubkraft, echte Schönheiten und frivole Rostbeulen, usw.  Und alles das steht in Beziehung zu ihrer Lebensführung. Oft wird diese Lebensführung gerade im Automobil sichtbar und fassbar.

Und das gilt natürlich auch im größeren Maßstab der modernen Gesellschaftsgeschichte, wo der Zeitgeist nicht nur in der Sprache literarischer Werke hast, sondern auch in Alltags-Gegenständen – und darunter eben an prominenter Stelle auch Automobile (wie der VW „Käfer“ oder die Citroen „Ente“). Das Auto ist also nicht nur ein banales „Mittel zum Zweck“, sondern auch ein komplexer, eigensinniger Gegenstand, der die verschiedensten Leidenschaften weckt. Das sollten Sie immer mitbedenken, wenn ich im Folgenden den spezifischen Leistungsbereich des Automobils mit den Mitteln einer räumlichen Sozialstatistik zu umreißen versuche und den generellen Platz des Autos in unserem Siedlungssystems zu bestimmen versuche.

Das Auto gehört zur räumlich-sozialen Organisation der Menschen

Die folgenden beiden Tabellen zeigen die Anteile verschiedener Verkehrsmittel in verschiedenen Teilräumen im Berlin-Brandenburger Gesamtgebiet (Ist-Zustand 2006 und Prognose 2025).

Anteile an der Verkehrsleistung
Stand 2006
Berlin
Kernbereich
Berlin
Außenbereich
Brandenburg
Umland
Automobil 44,1 % 60,1 % 81,8 %
Bus und Bahn 45,4 % 30,6 % 11,7 %
Fuß und Fahrrad 10,5 % 9,3 % 6,5 %

 

Anteile an der Verkehrsleistung
Prognose 2025
Berlin
Kernbereich
Berlin
Außenbereich
Brandenburg
Umland
Automobil 39,1 % 54,5 % 75,1 %
Bus und Bahn 47,8 % 32,6 % 15,7 %
Fuß und Fahrrad 14,1 % 12,9 % 9,2 %

 

Die Tabellen zeigen: Das Automobil hat selbst im Kernbereich Berlins einen Anteil von über 40%. Dieser Anteil wächst, je weiter man an die Peripherie geht. Die Bedeutung des Automobils sinkt auch bis 2025 nur unwesentlich. Selbst wenn man von einem wachsenden Anteil von Bus und Bahn ausgeht, ist eine Ersetzung des motorisierten Individualverkehrs durch den Öffentlichen Personennahverkehr nicht einmal annähernd in Sicht.

Der Grund für diese fortdauernd starke Rolle des Automobils sind zunächst einmal die Wegdistanzen, die in der dispersen Siedlungsstruktur der Peripherie signifikant größer sind als im Zentrum und die sich auch nicht auf einigen wenigen Achsen zentralisieren lassen. Die gemeinschaftlichen Verkehrsmittel, insbesondere auf der Schiene, können zu vertretbaren Kosten (die auch ökologische Kosten sind) nicht flächendeckend zur Verfügung gestellt werden. Noch stärker zeigt sich das, wenn man auch die Sachleistung des Transports (mitgeführte Dinge, z.B. bei Großeinkauf) einbeziehen würde. Spätestens, wenn man den Gewerbeverkehr von Handwerk in die Betrachtung mit einbezieht, wird diese Sachdimension des Verkehrs deutlich.

Die Arbeitsteilung zwischen Zentrum und Peripherie

Die dargestellten Zahlenverhältnisse sind keine Berliner-Brandenburger Besonderheit, sondern sind im Grunde überall anzutreffen. Sie bringen eine sehr stabile Grundtatsache moderner Massengesellschaften mit ihrer großen Gegenstandswelt zum Ausdruck: die räumliche Organisation durch eine Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie, wobei zwischen beiden Seiten eine starke Arbeitsteilung und ein entsprechender Austausch und Verkehr besteht. An der Peripherie nehmen nicht nur die räumlichen Distanzen zu, sondern auch physisch-dinglichen Aktivitäten, die „res extensa“.

Die unterschiedlichen Verkehrsmittel-Schwerpunkte gehören zu dieser räumlichen Organisation. Sie entsprechen der Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie, der Arbeitsteilung und den spezifischen Distanzen und Verkehrsbedürfnissen. Das Automobil als Massenverkehrsmittel fügt sich hier ein. Und das bedeutet ein wichtiges Argument: Die räumliche Organisation erfordert die gegenseitige Tolerierung der verschiedenen Verkehrsmittel. Sie steht und fällt mit dieser Toleranz.

Man kann durchaus von zwei Realitäten – zwei sozialen Sektoren – mit unterschiedlichem Verkehrspräferenzen sprechen. Es gibt die Bahn-Bus-Fahrrad-Fraktion (sie ist Kernstadt-affin) und die Auto-Fraktion (sie ist Umland-affin). Dazwischen gibt es natürlich vielfältige Zwischenformen, zumal im Umland eigene Subzentren bestehen und – wie im Fall Berlin – die Kernstadt manchmal sehr weiträumig ist und allein durch ÖPNV und Fahrrad nicht zu meistern ist. Aber als grobes Raster ist dies Zentrum-Peripherie-Modell hilfreich.

Dass es diese beiden Realitäten gibt, ist nicht schlimm und kein Zeichen einer bösen „sozialen Spaltung“. Gefährlich wird es erst, wenn diese beiden Sektoren sich nicht mehr gegenseitig adäquat wahrnehmen und in ihrer Eigenheit respektieren. Wenn also die Toleranz abnimmt und in einen Verdrängungskampf umschlägt, bei dem ein Sektor die eigene Arbeits-, Lebens- und Verkehrsform zum hegemonialen Modell zu machen versucht.

Genau das geschieht bei der Verkehrswende, die auf ein Ende des Automobils als bezahlbares Massenverkehrsmittel hinausläuft. Das E-Mobil ist beim heutigen Stand der Technik keine bezahlbare Alternative (und das bezieht sich auch auf die ökologischen Kosten). Es mag eine Zeit gegeben haben, in der die Auto-Fraktion sich anschickte, zum alleingültigen, hegemonialen Modell zu werden (z.B. in Entwürfen einer sogenannten „autogerechten Stadt“), aber inzwischen ist es die ÖPNV-Fahrrad-Fraktion, die nicht mehr die Wahrnehmungsfähigkeit und Toleranz aufbringt, um die Bedeutung des automobilen Sektors wahrzunehmen und zu akzeptieren.

Was in der gegenwärtigen „Auto-Debatte“ zu kurz kommt

Hinter den konstant hohen Zahlen des Automobilverkehrs steht also keine Lebensverachtung, sondern die räumliche Ausdehnung der Lebenswirklichkeit. Es geht nicht um Bequemlichkeit, sondern um existenzielle Fragen: Ist ein bestimmter Wohn-, Erwerbs- oder Dienstleistungsstandort haltbar? Ist eine Schule oder sonstige öffentliche Einrichtung haltbar? Die Behauptung, dass es den einen bloß um „die Blechkisten“ gehe, während es den anderen um „die Menschen“ gehe, ist ebenso dumm wie polemisch. Wenn man in einer Statistik sieht, wie viele tägliche Kilometer in einem Verflechtungsraum per Automobil zurückgelegt werden, sollte man daran denken, dass da elementare Notwendigkeiten im Spiel sind. Aber es sind auch Leidenschaften im Spiel, denn beiden Mobilitätsmodelle sind als Lebensformen auch Ausprägungen der Freiheit. Die jeweiligen Verkehrsmittel sind mit existenziellen Erfahrungen, Eroberungen und Niederlagen des Lebens verbunden. Sie sind als in Wirklichkeit mehr als bloße Mittel zum Zweck. Sie werden geliebt (und eventuell auch gehasst).

Von entscheidender Bedeutung ist, dass ein bestimmtes Niveau der räumlichen Arbeitsteilung gehalten wird. Davon hängt die Gesamtbilanz und -leistung unseres Siedlungssystems ab und damit sind auch die Alternativen der Lebensformen und die Freiheit der Lebensführung verbunden. Das Niveau der räumlichen Arbeitsteilung hängt von einer entsprechenden Vielfalt der Verkehrsträger ab, also – unter anderem – von einer Verfügbarkeit und Einsetzbarkeit des Automobils. Das Bewusstsein dieses Zusammenhangs ist in der gegenwärtigen öffentlichen Auto-Debatte in Deutschland verloren gegangen oder kommt zumindest zu kurz. Was da verdrängt wird und wieder in die Diskussion zurückgeholt werden muss, soll im Folgenden an drei Argumenten verdeutlicht werden, die im Kampf um das Auto in Umlauf sind und scheinbar zwingend ein Ende der Automobil-Ära nahelegen. Gemeinsam ist allen diesen Argumenten, dass sie sich mit der Frage der räumlichen Organisation der Gesellschaft gar nicht beschäftigen und sich auf diese Ebene der Argumentation nicht einlassen.

  1. Das Externalisierungs-Argument: Der Autoverkehr bürdet die von ihm verursachten Umweltlasten der Allgemeinheit auf
  2. Das Urbanisierungs-Argument: Der neue Zustrom in die Zentren schafft eine vollkommen durchurbanisierte Welt, in der alles „in der Mitte“ bewältigt wird
  3. Das Direkte-Aktion-Argument: Der Klimaschutz bzw. der Gesundheitsschutz muss bei den Autos als den Emissionsquellen ansetzen

Ad 1: Die andere Externalisierung, die verdeckt und verschwiegen wird

Die Autokritik, die für sich in Anspruch nimmt, für „das Soziale“ und „das Ökologische“ schlechthin zu sprechen, beschreibt die Tatsache, dass die Folgen (insbesondere die Emissionen der Verbrennungsmotoren) in die Luft abgegeben werden, die alle atmen. Sie tragen also nicht allein die Folgelasten ihrer Mobilität und, so behaupten die Kritiker, das mache sie rücksichtslos. Dass ein Teil der Folgen des Autoverkehrs auch Nicht-Autofahrer tragen, stimmt. Allerdings: Eine solche „Externalisierung“ gilt für die gesamte räumliche Arbeitsteilung und für die verschiedensten Aktivitäten. Schauen wir uns also den Bewohner der Kernstädte an, der den Autofahrern die Auslagerung belastender Folgen ihres Tuns vorhält: Dieser Bewohner der Kernstädte ist ein geradezu klassischer Auslagerer. Er profitiert von der Nähe aller möglichen Einrichtungen zum Erwerb und zur Nutzung fertiger Konsumgüter und Dienstleistungen. Aber nur ein Bruchteil des Herstellungsprozesses und des Entsorgungsprozesses findet in seiner Kernstadt statt. Rohstoffgewinnung, Halbprodukte, überhaupt Fabriken, Energiegewinnung, Wassergewinnung, Müll- und Wasserentsorgung – all das findet in der weiteren oder näheren Peripherie der Städte statt. Die Lasten tragen andere. Der Kernstädter, der so stolz auf seinen „urbanen“ Lebensstil ist, externalisiert sie und mutet sie anderen Teilen der Gesellschaft zu. Ja, er schafft es sogar in seiner urbanen Argumentierkunst, diese Lasten den Umlandbewohnern anzurechnen. Auch der rotgrüne Hochschulprofessor rechnet den „ökologischen Fußabdruck“ seines PC-Stromverbrauchs dem Kraftwerk an der Peripherie zu. Es liegt ihm auch völlig fern, das China-Geld, das über Exporteinnahmen und Steuergelder sein Gehalt finanziert, als seinen eigenen Fußabdruck zu betrachten.

Wir haben es heute im gesamten Stadt-Umland-Verhältnis mit einer massiven Externalisierung von Lasten durch die Kernstädter auf die Umland-Bewohner zu tun, die aber nicht anerkannt wird, sondern weitgehend ignoriert wird. Sie ist sozusagen das bestgehütete Geheimnis der reinen ökosozialen Seelen, die in den Kernstädten politische Mehrheiten bilden.

Die Bewegung der „gilets jaunes“ in Frankreich, hat sich exakt hier entzündet. Sie hat die verdeckte Externalisierung, mit der die urbanen Mittelschichten, die sich alle zur Gesellschafts-Steuerung berufen fühlen, die meisten physischen Dinge und Anstrengungen an die Peripherie abwälzen, jetzt ans Licht gebracht. Die Regierung wollte ihre teuren ökologischen Symbolprojekte von der Peripherie bezahlen lassen, indem sie an der Spritpreis-Schraube drehte.

Und die Lösung? Sie kann nicht darin bestehen, die Externalisierung zu verhindern, indem man die räumliche Arbeitsteilung zwischen Zentren und Peripherien abschafft und nur noch Räume kennt, die alles integrieren. Vielmehr muss ein transparentes und faires gegenseitiges Externalisieren stattfinden.

Ad 2: Fahrverbote werden die Wohnungsnot verschärfen

Es gibt gegenwärtig eine starke Bewegung, die in die Mitte unserer Städte drängt. Viele Menschen suchen dort einen Arbeitsplatz und eine Wohnung, viele Unternehmen und Einrichtungen suchen dort einen Standort. Wird also auf die Dauer alles „urban“? Werden wir ein Siedlungssystem der kurzen Wege und gebündelten Achsen bekommen, in dem 100% der Gesellschaft in lauter „Mitten“ wohnen? Die Realität zeigt etwas ganz Anderes: In der Mitte der Ballungsräume, wo sich tatsächlich viele Einrichtungen häufen und auf kurzer Distanz verfügbar sind, steigen die Preise exorbitant. Das liegt nicht an einer subjektiven Profitgier einiger Weniger, sondern daran, dass eine solche Dichte hohe Investitionen erfordert und nicht beliebig vermehrbar ist. Die Mitte der großen Stadt ist ein besonders privilegierter, monopolträchtiger Ort. Es ist vollkommen undenkbar, dass 83 Millionen Deutsche in Räumen leben, die wie Berlin-Mitte aussehen. Das würde zu unvorstellbaren Kosten (auch ökologischen Kosten) führen. Damit ist klar, dass der jetzige Run auf die Großstädte nicht in der Stadtmitte bewältigt werden kann. Bezahlbarer Wohn- und Gewerberaum kann nur gewonnen werden, indem man Abstriche von der Zentralität macht und Konzessionen an die Peripherie. Das hat eine Konsequenz für das Verkehrssystem. Seine Leistungsfähigkeit muss diese Peripherisierung meistern und nachvollziehen. Damit aber werden genau dort Zuwächse erzeugt, wo das Automobil hohe Verkehrsanteile hat. Es ist also sehr kurzsichtig, wenn man die gegenwärtige Zuwanderungswelle, die schon jetzt nach Entlastungstandorten im Umland ruft, durch ein Verkehrssystem bewältigen will, in dem das Entlastungsmittel Auto fehlt. Was würde wohl auf den schon angespannten innerstädtischen Wohnungsmärkten geschehen, wenn die Ausweichmöglichkeiten an die Peripherie durch Auto-Fahrverbote zunichtegemacht sind? Das mag man sich gar nicht vorstellen.

Ad 3: Die indirekten Wirkungen direkter Abschalt-Maßnahmen

Man hört vielfach das Argument, dass es ja messbare Klimaveränderungen gebe und auch Belastungen der Luft. Deshalb sei jede Maßnahme zur Verringerung von Emissionen einfach berechtigt. Diese schlichte Argumentation ist zunächst entwaffnend. Ja, warum schaltet man etwas Belastendes nicht einfach ab? Wenn das Belastende mit einem Zugewinn für das Leben verbunden ist, kommt man gewiss ins Grübeln. Aber wenn das Belastende sich unmittelbar aufdrängt, während der Zugewinn nicht gleich auf der Hand liegt und sich erst indirekt erschließt, wird man doch zum Abschalten des Übels neigen. Genau hier liegt heute das Problem des Automobils. Seine Vorteile liegen auf der Ebene des Siedlungs- und Verkehrssystems. Sie werden oft erst sichtbar, wenn ein Verkehrsträger ausfällt und sich alle möglichen negativen Folgen zeigen. Die Siedlungs- und Verkehrsbilder im Umland sind nicht besonders spektakulär und oft etwas langweilig. Und doch sind sie wichtig und unverzichtbar. Wird hier das Element „Automobil“ herausgenommen, steigen auf einmal an anderer Stelle die Material- und Zeitkosten immens. Wenn man ein wichtiges Verkehrsmittel für die räumliche Arbeitsteilung ausschaltet, muss man an allen Orten alles machen und darf sich nicht wundern, dass die Umwelt um ein Vielfaches mehr zugebaut und belastet wird. Oder es fallen Wohnstandorte und Betriebsstätten brach, weil sie nicht mehr zu tragbaren (Zeit-)Kosten erreichbar sind.

An diesem Punkt wird klar, wie gefährlich und verhängnisvoll die Neigung des Zeitgeistes ist, bei Belastungen nach einer möglichst einfachen, unmittelbar anschaulichen „Ursache“ und einem ebensolchen Schuldigen zu suchen. Denn dieser Glaube führt zu einer verheerenden Schlussfolgerung – der Schlussfolgerung, dass man nur dies konkrete „Böse“ abschalten muss, und schon würde sich alles auf wundersame Weise zum Guten wenden. Wenn man sieht, mit welchem blinden Eifer in diesen Tagen Schüler für die sofortige Stilllegung von Kohlekraftwerken streiken (!) und wie diese Kinderdemonstrationen (denn um nichts anderes handelt es sich) den Beifall der Medien finden und nicht eine kritische Stimme aus der Lehrerschaft zu vernehmen ist, kann ahnen, welche zerstörerische Gewalt in dieser Vorstellung vom einfachen Bösen enthalten ist. Die naive Bildsprache, derer sich die Medien bedienen, wenn sie das Thema „Auto“ mit qualmenden Auspuffrohren bebildern, ist pure Gegenaufklärung. Sätze wie „die Luft muss wieder atembar werden“ sind es auch. Das Automobil läuft Gefahr, eines der Hauptobjekte dieser Gewalt zu werden.

Die Legitimität des Automobils liegt in der räumlichen Arbeitsteilung   

Umso wichtiger ist es, dieser gefährlichen Vereinfachung entgegenzutreten und den Kampf um das Auto auf eine Ebene zu bringen, die ein Mindestmaß an Komplexität enthält.  Wer nichts von räumlicher Arbeitsteilung und von Differenzierung der Verkehrsträger wissen will, sollte über das Auto schweigen. Die spezifischen Vorzüge und Gewinne des Automobils erschließen sich heute nicht durch einen einfachen Blick auf das Objekt. Man braucht auch nicht blumige oder schrille „Narrative“, um das Auto „neu zu erfinden“. Vielmehr sind es durchaus klassische raumstrukturelle Erkenntnisse, auf die es ankommt.

Das ist vielleicht überhaupt die Schwierigkeit in der Ära der Moderne: Ihr Wert setzt ein Verständnis größerer Zusammenhänge voraus. Das muss nicht hochkompliziert oder geheimnisumwoben sein, aber das Gute und Schöne liegt auf der historischen Entwicklungshöhe unserer Zivilisation nicht sofort und unmittelbar auf der Hand. Es ist eine mittelbare, voraussetzungsvolle Güte und Schönheit, die auch Toleranz und Geduld erfordert.

Das „Autoproblem“ unserer Gegenwart ist in Wirklichkeit das Problem einer Borniertheit der Kernstädter, die heute ihre Fähigkeit und ihren Willen verloren haben, die Eigenart und die tragenden Leistungen der Peripherie anzuerkennen.