28.10.2016
In der Kampagne gegen den „Populismus“ werden ganze Bevölkerungsschichten verächtlich gemacht. Aber wer spricht da eigentlich?
Die neue Standesherrschaft (Teil I)
In der Kampagne gegen den sogenannten „Rechtspopulismus“ geht es nicht nur um politische Dinge. Vielmehr werden auch bestimmte Lebensformen, ein bestimmtes Aussehen und überhaupt das ganze Dasein bestimmter Bevölkerungsgruppen verächtlich gemacht. Was hat man in Deutschland nicht schon alles über die typischen AfD-Wähler gehört. Sie seien meistens Arbeitslose. Oder „alte Männer“. Oder Ostdeutsche, die kaum je einen Ausländer zu Gesicht bekommen hätten. Auf jeden Fall handele es sich um „ungebildete“ Leute. Auch von einfältigen Essgewohnheiten war schon die Rede: Anfang 2016 wurde der siegreichen deutschen Handballnationalmannschaft in der „Zeit“ vorgehalten, bei den Spielern handele sich durchweg um „Kartoffeldeutsche“. Das ästhetisch-moralische Werturteil ist inzwischen gängige Münze. „Und sie, meist ältere Männer in großkarierten Hemden, die über dem Gürtel spannen, hören an diesem Abend ganz ungewöhnliche Dinge“ streut der FAZ-Journalist Paul Ingendaay in seinen Bericht über eine AfD-Veranstaltung in Schwerin ein (FAZ, 24.8.2016). „Wenn die komische Petry meine Frau wäre, würde ich mich heute Nacht noch erschießen“ verkündete Günther Oettinger (CDU) über die AfD-Vorsitzende Frauke Petry im Februar 2016. Der Mann fühlt sich als EU-Kommissar offenbar über alle Grenzen des Anstands erhaben.
Ein sozialer Verdrängungskampf
Den gesellschaftlichen Dünkel, der hier unterwegs ist, hat Werner Patzelt, Professor für Politikwissenschaft an der TU Dresden sehr treffend beschrieben (FAZ, 21.1.2016). Er schildert, wie Anti-Pegida-Leute vom Straßenrand aus eine dreiviertel Stunde lang `Faschistenpack´ riefen, während sie „ganz normale Leute an sich vorüberziehen“ sahen. Dies Szenario sagt mehr als tausend Worte: Hier sind die Guten, und dort “der hässliche und böse Feind“ (Patzelt). Zu dieser neue sozialen Werte-Verteilung fühlen sich auch Medienleute berufen – und sei es einfach dadurch, dass man bei den Einen (Anti-Pegida) schreibt, sie hätten etwas „gerufen“, während bei den Anderen (Pegida) nur von „gebrüllt“ die Rede ist. Mit dem gleichen Verfahren lässt Daniela Vates in ihren Kommentar über „rassistische Äußerungen“ aus der CSU (Berliner Zeitung vom 22.9.2016) folgenden Satz in den Text gleiten: „In der Flüchtlingspolitik schrie Seehofer von Anfang an: Das schaffen wir nicht“. Seehofer „schrie“ also, und das „von Anfang an“. Es sind gerade diese kleinen Gehässigkeiten, die verraten, dass hier eine tiefe soziale Verachtung am Werk ist.
Die Kampagne gegen den Rechtspopulismus spricht nicht nur Urteile über einzelne Personen, sondern über ganze Bevölkerungsgruppen. Sie spricht Sozialurteile. Und nicht nur um Randgruppen geht es, sondern der Feind wird in der sogenannten „Mitte“ der Gesellschaft gesucht. Unter den Nachbarn in der eigenen Straße, im eigenen Ort. In einem Kommentar (FAZ vom 23.10.2015) ist Daniel Deckers folgender Satz eingefallen: „Wenn Flüchtlingsheime brennen, kommt die Gewalt meist buchstäblich aus der Mitte von Dörfern und Städten. Diese alten Nachbarn könnten gefährlicher werden als die neuen, gegen die sie vorgehen.“ Diese Warnung vor den „alten Nachbarn“ zeigt, dass die Kampagne gegen den „Rechtspopulismus“ eine Absetzbewegung ist. Man setzt sich von der bestehenden Gesellschaft in Deutschland ab und erklärt ganze Bevölkerungsschichten zum Auslaufmodell.
Aber wer spricht da eigentlich? Jede soziale Abqualifizierung hat ja einen Gegenpart. Sie bedeutet eine soziale Höherstufung auf der anderen Seite. Wer andere als provinziell, dumm und hässlich disqualifiziert, nimmt für sich selbst in Anspruch, zum weltgewandten, gebildeten, jungen und attraktiven Bevölkerungsteil zu gehören.
Der Mythos von der „gesellschaftlichen Modernisierung“
Vor mir liegt eine Graphik. Sie zeigt mehr oder weniger runde Kreise auf einem rechteckigen Feld. Die Kreise sollen die großen sozialen „Milieus“ darstellen, aus denen sich die Gesellschaft in Deutschland zusammensetzt. In Senkrechten des Feldes wird die soziale Schichtung nach Einkommen, Wissen und Macht abgebildet – also die bekannte Stufung zwischen Unter-, Mittel- und Oberschicht. In der Waagerechten wird etwas abgebildet, was „Orientierung“ genannt wird: vorrangige Werte, Weltbilder und ähnliches. Wie aber kann hier nach mehr oder weniger sortiert werden, oder gar nach besser oder schlechter? Die drei Stufen, die man auf der Graphik findet („Tradition“, „Modernisierung“, „Neuidentifikation“), gehen von der Vorstellung unterschiedlicher Entwicklungsstadien aus, und sie erwecken den Eindruck, die Milieus auf der rechten Seite der Graphik seien fortschrittlicher als die Milieus auf der linken Seite. Der Fortschritt ist eine Einbahnstraße, auf der zunächst traditionelle Bindungs-Milieus aufgelöst werden und Milieus der Entwurzelung und Individualisierung entstehen. Diese wiederum führen zu noch weiter fortgeschrittenen Milieus, die auf neuartigen, multiplen und frei gewählten Bindungen basieren. Hier findet man die Stichworte „Postmodernes Werte-Patchwork, Sinnsuche, multikulturelle Identifikation“. Und man findet nur zwei soziale Milieus, die dies Stadium erreichen: das „hedonistisch-subkulturelle Milieu“ und das „multikulturelle Performermilieu“. Auf der linken, rückständigen Seite befindet sich hingegen ein „religiös verwurzeltes Milieu“ und ein „traditionelles Arbeitermilieu“, die nur Restbestände einer im Grunde schon vergangenen Zeit sind. Spätestens hier merkt man, dass dies Gesellschaftsbild von einer recht plumpen Geschichtsvorstellung gesteuert wird. „Die Geschichte“ (im Singular) lässt die Einen hoffnungslos veralten und verurteilt sie zum Untergang, während die Anderen auf dem Weg in eine farbenfrohe und freigewählte Zukunft sind.
Die Arbeit machen die Anderen
Gewiss kann eine Milieuforschung, die an Hand bevorzugter Güter, Veranstaltungen, Orte oder Persönlichkeiten Lebensstile und Lebensstilgruppen identifiziert, nützlich sein – zum Beispiel in der Marktforschung oder im Wohnungsbau. Doch etwas ganz anderes liegt vor, wenn alle Milieus einer Gesellschaft in eine Rangordnung gebracht werden. Damit wird das weitläufige, anarchische Gebilde namens „Gesellschaft“ einer wertenden und ordnenden Hand unterworfen. Dies „Gesellschafts-Design“ ist – verglichen mit der politischen Definition eines Staatsvolkes – ein viel tieferer Eingriff in das Leben der Menschen. Tatsächlich drängen heute Milieumodelle wie das oben vorgestellte Modell in die Politik. Das Phantasma der „gesellschaftlichen Modernisierung“ hat sich inzwischen in den Stäben der großen Parteien festgesetzt. Vor allem auch in den großen Volksparteien. Man kann sich vorstellen, was es für die Sozialdemokratische Partei bedeutet, wenn sich bei ihr die Vorstellung durchsetzt, das „traditionelle Arbeitermilieu“ sei ein Auslaufmodell, und man müsse die sogenannten „neuen Themen“ in den Vordergrund stellen. Und wenn sich nicht nur die Vorstellung durchsetzt, sondern auch die entsprechenden „Zukunftsträger“ in der Partei zur Macht gelangen. Für die Sozialdemokratie liegen die Probleme offen zu Tage. Aber für CDU und CSU sind die Probleme auf Dauer noch gravierender. Denn die neue „Modernisierung“ entwertet jene Kernkompetenzen, auf die CDU und CSU sich traditionell berufen.
Denn ein wichtiges Merkmal der schönen, neuen Milieu-Welt der „Performer“ und „Hedonisten“ darf man nicht übersehen: Grundlegende Elemente der Moderne (hohe Produktivität, berufsfähiges Wissen, durchgesetzte Sicherheit) zählen hier gar nicht besonders – weder auf der Stufe 1 („Tradition“), noch auf der Stufe 2 („Modernisierung“) und erst recht nicht auf der Stufe 3 („Neuidentifikation“). Auf dieser letzten Stufe wird ein wahres Wunder in Aussicht gestellt: Die „Multioptionalität“ soll Bindungen ermöglichen, an die man nicht gebunden ist (sondern sich immer wieder neu aussuchen kann). Auch die Frage, wer die Arbeit macht und wer auf der Straße für Sicherheit sorgt, ist im futuristischen Formel-Sprech zum Verstummen gebracht worden. So ist die neue Ordnung, die hier verkündet wird, im Grund eine sehr gemütliche Ordnung. Niemand muss um seinen Rang kämpfen oder schuften. Die „Multioptionalität“ ist eine Standes-Eigenschaft, die man einfach hat. Ganz stressfrei. Die hedonistischen Performer können „entschleunigen“ und doch überall vorne sein. Eine merkwürdige Aristokratie ist das, die uns da über Nacht zugewachsen ist. Und wie kommt sie zu ihren Adelstiteln?
(Im folgenden zweiten Teil des Beitrags geht es um die „Bildungsrepublik Deutschland“: Wie ein leistungsfeindliches und realitätsfernes Bildungssystem eine Schlüsselrolle in der neuen Ständeordnung spielt)