28.10.2016
Wie ein leistungsfeindliches und völlig überdehntes Bildungssystem den gesamten Gesellschaftsbau verschiebt.
Die neue Standesherrschaft (Teil II)
Bei der Kampagne gegen den „Populismus“ kehrt ein Element immer wieder: der Bildungsunterschied. Die gute Gesellschaft, so wird behauptet, sei bedroht durch eine Bewegung der Ungebildeten, der geistigen Grobmotoriker, der ahnungslosen Provinzler, des gröhlenden Pöbels. Allerdings konnte die These vom dummen Populisten mit Sozialerhebungen – zum Beispiel über AfD-Wähler oder über Teilnehmer an Pegida-Demonstrationen – nie belegt werden. Aber das soziale Vorurteil, das ganz schamlos die deutsche Gesellschaft in Gebildete und Ungebildete teilt, wird weiter gepflegt.
Leistungsfeindschaft und Realitätsferne
Wenn in einem Land krasse Urteile über eine angeblich ungebildete soziale Bewegung gefällt werden, sollte man erwarten, dass dies Land besonders hohe Bildungsleistungen vorweisen kann. Die Nachrichten, die uns aus dem deutschen Bildungssystem erreichen, sind aber ganz andere. Die Leistungen an den Schulen und Hochschulen werden immer fragiler. Anspruch und Wirklichkeit gehen immer weiter auseinander. Das Bildungssystem tut sich schwer, bei den jungen Leuten Anstrengungen und Ausdauer zu motivieren. Auch sinkt die Neigung, sich auf ein bestimmtes Fach festzulegen und sich später in eine arbeitsteilige Berufswelt zu fügen. Das gilt besonders in den höheren Etagen des Bildungssystems. Unter den Studierenden gibt es einen stetig wachsenden Anteil, die bei der Wahl ihres Fachs möglichst „generalistisch“ oder überhaupt nachlässig vorgehen, die schnell einen Fachwechsel vornehmen und die den Studienabschluss und den kritischen Moment des Übergangs ins Berufsleben möglichst weit hinauszögern. Man versteht die höhere Bildung als Zweck an sich und als eigenständigen sozialen Dauerstatus. Das hat mit „Bildungsbürgertum“ im strengen Sinn nichts zu tun. Denn statt auf Bildungsleistungen richtet sich die Aufmerksamkeit auf Bildungstitel. Man ist „Absolvent“ von diesem oder jenem Bildungsgang (möglichst mit einem “Aufenthalt“ im Ausland) und erwartet von der Gesellschaft, dass sie allein auf diese Titel hin leistungsunabhängige Einkommen ermöglicht („Renten“ im ökonomischen Sinn).
Gewiss gilt das nicht für alle Studierenden und alle Fächer, aber für einen stark angewachsenen und weiter zunehmenden Anteil. Es gibt ja eine wahre Inflation höherer Bildungsgänge, Lernformen und Fördertöpfe. Dazu kommt ein Schlüsselelement für die Leistungsorientierung des Bildungssystems: die Benotung. Hier gibt es eine Inflation der guten Noten, die schon seit Jahrzehnten bekannt ist, ohne dass sich etwas daran geändert hätte. So kann man mit Fug und Recht behaupten, dass ein Großteil der heutigen Hochschulabgänger mit irreführenden Zertifikaten unterwegs ist.
Es gibt eine soziale Spekulationsblase
Und dann gibt es eine Entwicklung, deren immense Konsequenzen für den Gesamtbau der Gesellschaft noch gar nicht erkannt sind: Im Jahr 2015 haben 58% eines Jahrgangs ein Hochschulstudium aufgenommen, im Jahr 1985 sind es nur knapp 20% gewesen. Das ist, in einem relativ kurzen Zeitraum, eine kolossale Verschiebung.
Hier wird deutlich, dass es bei den Problemen an Schulen und Hochschulen nicht bloß um „Faulheit“ geht, sondern um eine Verschiebung des gesamten Gesellschaftsbaus. Und um einen Verlust von Weltbezug. Wenn über die Hälfte eines Jahrgangs Akademiker werden, steht das in keinem Verhältnis zu den objektiven Möglichkeiten, überhaupt entsprechende zusätzliche Wissensleistungen zu erbringen. Diese Möglichkeiten existieren gar nicht. Es existiert auf dieser Welt kein produktives, betriebstaugliches, an die Realität anschlussfähiges Wissen in dieser Größenordnung. Stattdessen gibt es eine massive Überproduktion von abstrakten Vorstellungen, die gar nicht als „Wissen“ bezeichnet werden können. Weil es gar kein Wissen von irgendetwas ist und werden kann.
Was bei solchen Größenordnungen der Akademisierung nur wachsen kann, sind spekulative Weltbilder, soziale Deutungen und persönliche Orientierungen. Man betrachte einmal im Detail, was allein im Bereich der Gesundheits- und Pflegebranche an Psychologisierung und Sozialpädagogisierung stattfindet. Auch die „Ökologierung“ in vielen Industrien oder im Bau- und Verkehrswesen ist weitgehend eine spekulative Erfindung von akademischen Beschäftigungsgelegenheiten. Oft führt es zu sachfernen und teuren Übergriffigkeiten auf die bestehenden Arbeitsgänge. Oft geht es aber auch um das bloße Markieren von Besonderheiten gegenüber dem „Gewöhnlichen“ (Distinktionsgewinne). So kann sich tatsächlich ein freischwebender gesellschaftlicher Bereich gewaltig ausdehnen und die kurioseste Blüten-Vielfalt entwickeln. Das „multikulturelle Performermilieu“ und das „hedonistisch-subkulturelle Milieu“ (siehe Graphik in Teil I) dürfen wir ruhig in diesem Sinn verstehen. Es ist und bleibt eine leere, eitle Vielfalt. Es handelt sich um eine inzwischen völlig überdehnte soziale Spekulationsblase, in der Aufstiegspanik herrscht. Denn die spekulativ-willkürliche Grundlage der gehobenen Positionen macht den Zugang von Gunst und Zufall abhängig.
Hier wird deutlich, welches Herrschaftspotential in einem leistungsfernen, aber expandierenden Bildungssystem steckt. Eine „Bildungsrepublik Deutschland“ entkoppelt sich von der Realität und schafft eine Standesordnung nach ihrem Maß.
Die neue ständische Herrschaft und der „Populismus“
Etwas ist geschehen in den sogenannten „fortgeschrittenen“ Gesellschaften dieser Welt. Es geht nicht mehr um eine Leistungskonkurrenz, in der zunächst Bürger und dann auch Arbeiter und Angestellte „alles Stehende und Ständische“ (Karl Marx) verdampfen ließen. Die überprüfbaren und verlässlichen Maßstäbe der Leistung sind ausgeschaltet. Große gesellschaftliche Milieus sind außerhalb dieser Maßstäbe unterwegs. Umso mehr suchen sie nach einer neuen Rangordnung und gehobenen Dauer-Positionen, die nach Titel vergeben werden. Sie streben in Karrieren, die durch Quoten befördert werden. Und es ist noch grundlegender: Große und einflussreiche gesellschaftliches Milieus streben wird nach einer gesellschaftlichen Ordnung, die einen Vorrang von „Werten“ und „Haltungen“ installiert. In der also große Bereiche nicht mehr dem Kriterium des Erfolgs unterliegen und bei Misserfolg keine Entlassung oder Abwahl nach sich ziehen. So ist in den fortgeschrittenen Gesellschaften der heutigen Welt eine neue ständische Ordnung entstanden. Oder zumindest im Entstehen begriffen. Manche sprechen von einer neuen herrschenden Klasse.
Der Verdacht, dass die Bundesrepublik auf eine neue Klassenherrschaft zusteuert, deren Macht auf einem Monopol der „Sinnvermittlung“ oder „Sinnproduktion“ beruht, ist schon früh geäußert worden. Helmut Schelsky schrieb in seinem Buch „Die Arbeit tun die Anderen“ (1975) über die Ausbreitung von „sozialreligiösen Heilsverheißungen“, die von einer sozialen Schicht getragen wird, die jeglicher praktischen Auseinandersetzung mit der realen Welt enthoben ist. Schelsky spricht von einer „neuartigen Priesterherrschaft“. Erstaunlich, wie ein altes Buch auf einmal eine neue Bedeutung bekommen kann. Im Jahr 2016 ist Punkt erreicht, an dem die Herrschenden nicht nur absurde Ideen in die Welt setzen, sondern substanzielle Eingriffe in die Errungenschaften der fortgeschrittenen Länder vornehmen. Ihr Werk ist zum Zerstörungswerk geworden.
Es ist deshalb ganz natürlich, dass sich politische Kräfte außerhalb dieser Gewinnermilieus formieren. Und dass sie das unter der Flagge des „Volkes“ tun. Denn die zerstörerische Politik und die Verteilung der Krisenlasten zeigen ja die Gleichgültigkeit der gehobenen Stände gegenüber dem „zurückgebliebenen“ Volk. Gewiss gibt es manchen groben Wutausbruch auf der Seite des Populismus. Wie sollte es anders sein angesichts der Lasten und der Arroganz der Herrschenden?
Aber der Populismus befindet sich auch in einer weitergehenden positiven historischen Rolle. Er wird zum Repräsentanten der härteren Seiten des Lebens, der Auseinandersetzung mit den Realität, der mühsamen Normalarbeit. Also zum Repräsentanten von all dem, was die neuen gehobenen Stände tunlichst vermeiden wollen – und nicht einmal mehr sehen wollen. Ist der Populismus „elitefeindlich“, wie immer wieder behauptet wird? Nein, eher im Gegenteil. Er fordert reale Führung. Er fordert Entscheidungen, die zu echten Eingreifen und wirklichen Resultaten führen. Er fordert, dass der soziale Aufstieg auf echter Leistung beruht und nicht dem zugutekommt, der die schönsten Geschichten erzählen kann. Dies Fordern ist nicht immer ein klar formuliertes Fordern sondern ein Verlangen. Der Populismus verkörpert dies Verlangen. Er ist dies Verlangen.
Gegenwärtig scheint die neue Ständeordnung alle wichtigen Trümpfe in der Hand zu haben. Das liegt daran, dass die Eliten noch fehlen, die dem Populismus Führung und Stimme geben könnten. Das ist die Gefechtslage. Sie wird sich nicht schnell ändern. Aber das Gefecht wird ganz sicher nicht mit der Abdankung des Volkes enden. Weil die Realitäten, für die das Wort „Volk“ jetzt steht, nicht zum Verschwinden gebracht werden können.
(Erschienen auf „Tichys Einblick“ am 29.10.2016 und auf der „Achse des Guten“ am 4./5.11.2016)