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Von der „Großen Transformation“ ist nur noch eine Negativ-Agenda übriggeblieben, die Katastrophenszenarien und Feindbilder beschwört, um dann tragende Säulen von Marktwirtschaft und Republik zu opfern. (Wie Deutschland ein anderes Land wurde, Teil II)

Die Parallelwelt wird zur zerstörerischen Alleinherrschaft 

März 2024

Zu Beginn dieses Artikels wurde dargestellt, wie sich die Bundesrepublik nach dem 2. Weltkrieg zunächst 30 Jahre industrieller Prosperität und krisenfester Demokratie erarbeitet hat (vom Ende der 1940er Jahre bis Ende zum 1970er Jahre). Deutschland wurde ein modernes Land, in dem Produktivität und freiheitliche Demokratie geachtet wurden. Gegenüber Heilsbotschaften herrschte eine gesunde Skepsis, und man war sich auch seiner begrenzten Möglichkeiten als mittelgroßes Land bewusst. Doch dann begann jener längere Prozess, an dessen Ende Deutschland ein fundamental anderes Land wurde. Die erste Phase dieses Prozesses wurde schon skizziert: In den dreißig Jahren vom Ende der 1970er Jahre bis zum Ende der 2000er Jahre bildete sich neben der bisherigen Bundesrepublik eine Parallelwelt aus. Noch kippte nicht das ganze Land, aber ein größerer Sektor der Gesellschaft – der sich vornehmlich aus den Bereichen der Dienstleistungen, der Wissenschaften und der Künste rekrutierte – verselbständigte sich. Er koppelte sich in seinem Wachstum von der industriellen Wertschöpfung ab, und er bildete auch eine eigene Öffentlichkeit aus, in der „weiche Faktoren“ („soft power“) die Hauptrolle spielten und die tätige Auseinandersetzung mit den harten Widrigkeiten dieser Welt immer weniger Wertschätzung fand. Doch damit war das Ende des Verwandlungsprozesses noch nicht erreicht. Deutschland trat in eine zweite Phase fundamentaler Veränderungen ein. Wenn man im Zeitrhythmus von 30 Jahren bleibt, hat diese Phase am Ende der 2000er Jahre begonnen und könnte bis zum Ende der 2030er Jahre dauern. Damit sind wir bei den heutigen deutschen Zuständen angelangt. 

Kapitel 3: Die Parallelwelt ergreift die Macht und wird zerstörerisch 

Im Vergleich zur vorhergehenden Phase treten zwei wesentliche Veränderungen hervor. Erstens wird das, was die moderne Zivilisation bisher ausmachte und was noch immer die Arbeit und das Leben der Mehrheit prägt, nun ausdrücklich als Fehlentwicklung und „ohne Zukunft“ dargestellt. Das, was bisher nur eine Parallelwelt war, drängt nun zur Alleinherrschaft. Zweitens hat diese „neue Welt“ gar kein positives Programm mehr zu bieten. Sie ist nun ganz und gar ein Negativprogramm. Das Eigene wird nicht mehr positiv entwickelt und der Beweis erbracht, dass es die Gesamtheit des Landes tragen kann. Nein, es geht nur noch darum, die modernen Grundlagen von Wirtschaft und Staat, die das Land sich nach dem 2. Weltkrieg erarbeitet hatte, zu entwerten und zu beseitigen. Man belastet die Betriebe und Infrastrukturen mit unbezahlbaren Abgaben oder unerfüllbaren Auflagen. Oder man setzt sie ganz direkt außer Betrieb. Die bisher noch verbliebene Kontinuität zu den ersten 30 Jahren der Bundesrepublik wird nun wirklich abgebrochen. So wird bewusst und aktiv eine Notlage hergestellt. Das soll die neue Normallage sein, an die die Bevölkerung gewöhnt werden soll. 

Die Politik der „Wenden“ 

Solange der oben beschriebene Sektor nur eine Parallelwelt darstellte, konnte man noch von einem Nebeneinander unterschiedlicher Daseinsformen und politischer Strömungen sprechen. Der Sektor dehnte sich aus, er eroberte Positionen in Staat und Wirtschaft, aber er konnte noch nicht andere politische, wirtschaftliche, technische, kulturelle Existenzen und Interessen verdrängen und vernichten. Doch in der Phase, die Ende 2000er Jahre anbricht, geht es um die politische und soziale Alleinherrschaft dieses Sektors. Dieser Anspruch auf Alleinherrschaft ist im Begriff der „Wende“ enthalten, der nun zum Oberbegriff für alle politischen, wirtschaftlichen und technischen Veränderungen wurde. Denn „Wende“ meint ja nicht eine graduelle Veränderung, die Kontinuitäten wahrt und durch neue Elemente ergänzt – dafür gibt es den Begriff „Reform“. Das Wort „Wende“ wird dort gebraucht, wo Kontinuitäten gebrochen werden sollen. Das muss man immer bedenken, wenn von „Agrarwende“, „Verkehrswende“, „Energiewende“, „Bildungswende“ oder gar „Zeitenwende“ die Rede ist.

Von der „Autowende“ ist nur eine Negativ-Agenda geblieben 

Das Beispiel der Autoindustrie zeigt, wie bei diesen Wenden dann mehr und mehr die Negativseite – das „Weg mit!“ – in den Vordergrund trat. Von dem Versprechen einer ganz neuen „elektrifizierten“ Automobilära ist nur das Ausstiegsprogramm geblieben: Das Ende des Automobils mit Verbrennungsmotor ist beschlossene Sache. Das große E-Mobil-Versprechen hat sich als unbezahlbar erwiesen. Und auch als umweltschädlich. Seit viele Subventionen, die die E-Mobilität versüßen sollten, gestrichen wurden, sind die Verkaufszahlen radikal rückläufig. Diese „Innovation“ ist also an technischen Realitäten gescheitert. Nun regiert das ersatzlose, kalte „Weg mit!“. Millionen von Menschen verlieren ihr Fahrzeug. Das Automobil als Massenverkehrsmittel wird abgeschafft. Und das schlägt auch auf die Siedlungsstruktur durch: Viele Wohn- und Arbeitsstandorte außerhalb der Städte sind nur noch mit extremem Aufwand erreichbar. Eine flächendeckende Voll-Versorgung mit öffentlichen Verkehrsmitteln wäre der blanke Wahnsinn – ein riesige Verschwendung von Material, Energie, Arbeit und Geld.   

Katastrophenszenarien und Feindbilder 

Eine Zeitlang sah es so aus, als würde der Wettstreit im Lande darum gehen, wie man das Gute durch etwas Besseres ersetzen kann. Aber in der Phase, die Ende der 2000er Jahre begann, bekam eine Negativ-Logik die Oberhand. Das zeigte sich nicht nur im Ausstieg aus bewährten Technologien, sondern auch in der Begründung dieses Abbruchs: Die sogenannte „CO2-Strategie“ wird nicht mehr damit begründet, dass die alternativen Energieträger so wunderbar funktionieren, sondern mit einer finsteren Drohung: Eine Überhitzung des Planeten wird unumkehrbar stattfinden, wenn nicht in kürzester Zeit die CO2-Emissionen ohne Rücksicht auf Verluste zurückgefahren werden. So ist auch die öffentliche Rede über die Energiewende immer mehr zur Drohrede geworden. Jedes ungewöhnliche Wetterereignis wird als Zeichen einer nahenden Klimakatastrophe gelesen. Und es gibt auch eine „ökonomische“ Rechnung ex negativo: Es lohnt sich, Sachwerte in Billionen-Höhe zu vernichten, weil ansonsten noch größere Opfer (durch Umwelt-Katastrophen) ins Haus stehen. Den positiven Beweis, dass die CO2-Strategie wirklich die Umwelt-Schäden in Deutschland senkt, hat allerdings noch niemand erbracht. Die positive Wirksamkeit dieser Strategie ist also hochspekulativ, während die Opfer dieses Programms sehr real sind. Sie schneiden tief in Arbeit und Leben von Millionen ein. Und diese Opfer müssen sofort erbracht werden. Man kann von einer aktiven Herbeiführung einer Notlage sprechen. Das ist im Laufe der Jahre 2022 und 2023 drastisch klargeworden. Seitdem gibt es eine spürbare Bedrückung und einen spürbaren Zorn im Land.  

Deutschland im Notstands-Modus? 

Am 24.3.2021 hat der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ein Urteil zum Klimaschutzgesetz gefällt. Dort wurde nicht nur ein bestimmtes Welt-Temperatur-Ziel für „verfassungsrechtlich maßgeblich“ erklärt, sondern auch die CO2-Stategie in den Rang eines Verfassungsgebots erhoben: der Ausstieg aus allen Produktionsverfahren, Kraftwerken, Heizungen, Verkehrsmitteln, bei denen es zur Verbrennung von fossilen Energieträgern kommt. Die Grundlogik des Urteils ist negativ: Der Zentralbegriff lautet „Freiheitsbeschränkungen“ – im Namen des „Klimaziels“ werden elementare Verfassungsrechte wie zum Beispiel die Gewerbe- und Berufsfreiheit eingeschränkt. Seltsame Verfassungsrichter: In ihrem Urteil geht es nur noch darum, wie Freiheitsbeschränkungen zeitlich zu verteilen sind. Die folgende Passage bringt das deutlich zum Ausdruck: „Die Freiheitsbeschränkungen fallen darum milder aus, je mehr Zeit für eine solche Umstellung auf CO2-freie Alternativen bleibt, je früher diese initiiert wird und je weiter das allgemeine CO2-Emissionsniveau bereits gesenkt ist. Muss sich eine von CO2-intensiver Lebensweise geprägte Gesellschaft hingegen in kürzester Zeit auf klimaneutrales Verhalten umstellen, dürften die Freiheitsbeschränkungen enorm sein.“ (zitiert aus der FAZ vom 5.5.2021) Das BVerfG erklärt also ein möglichst frühes Einsetzen der Freiheitsbeschränkungen zum Verfassungsgebot. Die Wortwahl ist beschönigend: Es ist von Beschränkungen die Rede, die „milder ausfallen“, wenn „die Initiierung der Umstellung“ möglichst früh erfolgt. Eine ernsthafte Überprüfung der Frage, ob der Stand der Technik so ist, dass eine Umstellung auf gleichwertigen Ersatz überhaupt möglich ist, gibt es nicht. Stattdessen ist von einer „CO2-intensiven Lebensweise“ der Gesellschaft die Rede, als handele es sich bloß um eine Lebensstil-Frage.  

Ein Ausnahmezustand auf unbestimmte Zeit

Das Karlsruher Klima-Urteil vom 24.3.2021 muss in sehr viel ernsteren Begriffen charakterisiert werden. Es legitimiert schwere Eingriffe in Verfassungsrechte, die man als Zwangsbewirtschaftung bezeichnen kann. Auch eine Zwangsverschuldung ist im Spiel, wenn man bedenkt, dass in Deutschland und EU-Europa dreistellige Milliarden-Beträge außerhalb der regulären staatlichen Haushaltsführung für die „Klimarettung“ eingesetzt werden. Zur Legitimierung dieses dem Lande auferlegten Zwanges wird im Grunde eine Art „Klima-Notstand“ behauptet. Und dieser Notstand ist eigentlich unbefristet, denn für die Wirksamkeit der Maßnahmen gibt es keinen eingrenzbaren Zeitrahmen. Die „Klimarettung“ läuft also auf einen endlosen Spannungszustand hinaus. Und für diesen neuen Dauerzustand stände Deutschland nur mit einem eingeschränkten Grundgesetz da. Es würde ständig im Ausnahmezustand regiert. Und dieser Notstand wurde nicht in einem ordentlichen rechtsstaatlichen Verfahren, unter maßgeblicher Beteiligung der Legislative (Bundestag und Bundesrat), festgestellt – sondern nur durch die Judikative, durch.ein Gerichtsurteil. 

Aus lösbaren Problemen sind endlose Krisen geworden 

Das Klimaurteil des BVerfG ist ein gefährlicher Präzedenzfall. Denn hier wird im Namen einer Einzel-Krise eine Negativlösung (CO2-Strategie) über die Gesamtheit von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verhängt. Und es gibt weitere, ähnlich absolute Notlagen, die absolute „Rettungsmaßnahmen“ erfordern, die nicht mehr mit anderen Rechtsgütern abzuwägen sind. Das ist das neue Charakteristikum der Entwicklungsphase, die seit dem Ende der 2000er Jahre begonnen hat und in deren Bann Deutschland immer mehr steht. Ein frühes Beispiel ist das Tsunami-Unglück im fernen Japan (Fukushima), dessen Bild-Gewalt hierzulande einen so starken Eindruck hinterließ, dass man sogleich den Ausstieg aus der Kernenergie beschloss. Heute erweist sich dieser Beschluss als törichter Kurzschluss. Ein zweites frühes Beispiel ist die Schuldenkrise, die in Deutschland als Aufgabe der „Eurorettung“ dargestellt wurde. Bis heute ist diese Schuldenkrise, die viele Länder erfasste, nicht durch eine realwirtschaftliche Verbesserung der Wertschöpfung gelöst, sondern nur durch eine Politik des billigen Geldes überdeckt. Diese Politik wurde vor allem durch die Europäische Zentralbank (EZB) mit der radikalen Devise „Whatever it takes“ (Mario Draghi 2012) betrieben. Nur vor dem Hintergrund dieser Politik des billigen Geldes sind dann die leichtinnigen Entscheidungen getroffen worden, die die Belastungen von Wirtschaft und Staat in Deutschland und anderen Ländern signifikant erhöhten.    

Massenmigration und „Weltschuld“ 

Die Migrationskrise fing mit einzelnen Grenzüberschreitungen an, die schon den Druck erahnen ließen, den Entwicklungskrisen erzeugen können, wenn sie sich in Migrationsbewegungen verwandeln. Die Entwicklungskrisen sind eigentlich innere Fehlentwicklungen von Ländern, in unserer Zeit besonders in Teilen Afrikas und des Nahen oder Mittleren Ostens. Sie können nur durch innere Veränderungen in diesen Ländern behoben werden. Die Entladung in Migrationsbewegungen, bedeutete eine Internationalisierung der Entwicklungskrisen – also keine Lösung, sondern nur eine Verschiebung. So geschah es 2015. Indem Europa und besonders Deutschland dem nachgab, trug es dazu bei, die eigentlichen Krisen unlösbar zu machen. Doch man schwor hoch und heilig, dass sich 2015 „nicht wiederholen“ würde. Und nun befindet sich Deutschland mitten in einer noch größeren Immigrationswelle – und schwimmt darin genauso hilflos wie 2015. Nichts ist geschehen, um die Entladung von Entwicklungskrisen in Migrationskrisen durch staatliche Souveränität und Wehrhaftigkeit zu verhindern. Es wurde eine entwurzelte Bevölkerung ins Land gelassen. Sie wurde den Bürgern in Städten und Landkreisen vor die Tür geschaufelt. Mehr noch: Auf diesem Boden ist inzwischen eine Schuld-Erzählung gewachsen. Diese Erzählung läuft darauf hinaus, dass Deutschland und andere weiter entwickelte Länder (bis hin zu Israel) an den Entwicklungskrisen in Afrika oder dem Nahen und Mittleren Osten „schuldig“ sein sollen. So versteht sich eine wachsende Zahl von Migranten nun als die gerechten Eintreiber dieser Schulden. Auch hier ist also eine Negativ-Agenda zur Herrschaft gekommen: Der in Deutschland aufgebaute Wohlstand wurde zur „Weltschuld“ umgewertet.   

Und nun ein großer Krieg? 

Die Entwicklung in der Ukraine mit ihren immensen Opfern und der ganz akuten Gefahr einer neuen Eskalation führt dazu, dass eine wachsende Zahl von Menschen sich fragt: Wie sollen wir aus diesem Kriegszustand je wieder herausfinden? Wie sind wir überhaupt in diese Situation hineingeraten? Als die Ukrainer Anfang der 1990er Jahre mit großer Mehrheit für die Unabhängigkeit ihres Landes stimmten, hatten sie keineswegs eine Ukraine zum Ziel, die das starke und wertvolle russische Element aus dem Land ausschloss und die gewachsenen Verbindungen mit Russland zerschnitt. Auch hätten viele der Menschen, die Anfang der 2010er Jahre auf dem Majdan demonstrierten, einer blutigen Unterwerfung der östlichen Landesteile damals wohl nicht zugestimmt. Man kann es auch prinzipieller sagen: Eigentlich ist doch klar, dass Kiew mit der Hypothek einer gewaltsamen Unterwerfung des Donbass nicht glücklich werden kann. Ebenso wenig kann Moskau mit der Hypothek einer Annektierung der Ukraine glücklich werden. Doch hat die Ukraine-Krise eine sehr merkwürdige und sehr gefährliche Eigendynamik bekommen. Sie wird inzwischen mit extremen Feindbildern und medialen Schreckens-Inszenierungen geführt. Und zugleich werden die luftigsten Illusionen über einen Krieg, der klinisch sauber mit Fernwaffen und künstlicher Intelligenz gewonnen werden könnte, in die Welt gesetzt. Auf dieser Basis scheint hier „der Westen“ noch einmal angetreten zu sein, um einen großen Krieg zu gewinnen. Eigentlich ist der Versuch, auf diese Weise die Führungsrolle in der Welt zurückzugewinnen, ein historischer Rückfall, ein Anachronismus. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich die Vorstellung, in der Ära der Moderne liefe alles immer wieder auf den Kampf um ein Monopol der Weltführung hinaus, stark relativiert. Die heutige Welt hat sich Schritt für Schritt in Richtung auf eine multipolare Weltordnung bewegt. Allerdings gibt es neben dieser Entwicklung auch verschiedene „große Erzählungen“, die globale Machtansprüche begründen sollen. Dazu gehört auch die Erzählung, dass mit den Ereignissen von 1989 „der Westen“ einen Sieg mit globaler Wirkung errungen habe. Mit dieser Deutung war es nur ein kleiner Schritt, um aus „1989“ die Ermächtigung abzuleiten, nun von außen in den verschiedensten Krisenländern zu intervenieren und einen „Regime change“ und ein „nation building“ ins Werk zu setzen. Die Ergebnisse dieser Politik sind ernüchternd. Für die betroffenen Länder waren sie oft verheerend. Mit dem (ersatzlosen) Sturz etablierter Mächte wurden Länder in ein unregierbares Chaos gestürzt. So ist die Außenpolitik westlicher Länder in einer schlechten Unentschiedenheit befangen: Man sagt einerseits, dass die Zeiten des ferngesteuerten „Regime change“ vorbei sind (nach dem Scheitern in Afghanistan). Und gleichzeitig scheint der Westen in der Ukraine noch einmal zu einem großen „Roll Back“ antreten zu wollen.   

Die zerstörerische Macht der „Erzählungen“ (1) 

Zur Eigenart der Ukraine-Krise gehört, dass hier eine sehr große Negativ-Erzählung im Spiel ist. In dieser Erzählung wird „Putins Russland“ nicht nur unterstellt, dass er die ganze Ukraine annektieren will, sondern auch, dass Russlands Soldaten nach der erfolgten Einverleibung der Ukraine gleich weiter nach Westen marschieren würden. „Russland führt einen Krieg in Europa“ lautet eine hierzulande häufig gebrauchte Formel. Diese Entgrenzung des Krieges hat mit dem tatsächlichen Frontverlauf nichts zu tun, aber Erzählungen bewegen sich in der sehr dehnbaren Sphäre der Zeichen und Bedeutungen. In dieser Sphäre kann „Putin“ zu dämonischer Größe wachsen. Und eine zweite Dämonisierung ist viel fundamentaler und gefährlicher: die Dämonisierung Russlands. In Deutschland ist es gängige Münze, Russland als „imperialistische Macht“ zu charakterisieren. Das aber würde bedeuten: Es gehört zum inneren Wesen Russlands, nach gewaltsamer Eroberung zu streben. Es kann gar nicht anders als sein Heil in einer gewaltsamen Expansion zu suchen. Ein so fundamentales Feindbild hat eine fatale Konsequenz: Europa kann nur Frieden finden, wenn es Russland zerstört. Wenn es sein Staat und seine Wirtschaft nachhaltig ruiniert. Dieses „nachhaltig zerstören“ geistert tatsächlich durch zahlreiche Statements, darunter des Wirtschaftsministers und des Finanzministers aus Deutschland. Solange diese Russland-Erzählung herrscht, wird der Westen aus diesem Krieg nicht herausfinden. 

Die zerstörerische Macht der „Erzählungen“ (2) 

Die Kiewer Regierung ist militärisch in eine schwierige Lage geraten. In der Bevölkerung wachsen die Zweifel. Das ist ein wichtiger Moment: Es gibt eine Chance, den Kriegseinsatz zurückzufahren und zu einem Waffenstillstand zu kommen. Dazu ist wichtig, dass jetzt von den Mächten, die Kiew unterstützen, Signale der Mäßigung kommen und eindeutige Grenzen der Unterstützung sichtbar gemacht werden. In den USA, in Frankreich und in Deutschland ist die Bevölkerung mehrheitlich für eine solche Begrenzung. Aber es gibt auch prominente Stimmen, die für das glatte Gegenteil eintreten und „weittragende“ Waffen in Aussicht stellen, mit denen ein „Sieg über Russland“ doch noch möglich sein soll. So hat Roderich Kiesewetter, ein führender CDU-Politiker in einem Interview mit der „Deutschen Welle“ folgendes gesagt: „Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere müssen zerstört werden. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern Ministerien, Kommandoposten, Gefechtsstände.“ Hier werden militärische Ziele in Russland benannt und gefordert, dass Deutschland die dafür notwendigen Waffen liefert. Es gibt eine beträchtliche Zahl ähnlicher Stimmen, die eine Eskalation ins „Weittragende“ befürworten – sowohl in der Regierung als auch in der Opposition. Es muss befürchtet werden, dass ein Eskalations-Antrag im Deutschen Bundestag eine Mehrheit finden würde. Man könnte einwenden, dass das alles nicht so ernst gemeint sei. Den Krieg würden ja bloß die Ukrainer führen. Und wir wollen den Ukrainer eigentlich nur „Mut machen“.  Aber die Politik ist nicht nur für die guten Worte verantwortlich, in die sie ihre Entscheidungen kleidet, sondern auch für die realen Folgen dieser Entscheidungen. Und diese Folgen sind: Kriegserweiterung und Kriegsverlängerung. 

Die zerstörerische Macht der „Erzählungen“ (3) 

Man vergleiche einmal die Stellungnahmen führender deutscher Politiker zur jetzigen Konfrontation mit Russland mit den Stellungnahmen in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Was für ein Unterschied und was für ein Widersinn! Damals, in Zeiten der kommunistischen Herrschaft in Russland und Osteuropa, konnte man mit einigem Recht von einer Bedrohung sprechen. Es fehlte nicht an ernsten Konfrontationen wie der Berlin-Blockade, dem Bau der Berliner Mauer, der Militärintervention gegen den Prager Frühling. Aber welcher Kanzler oder Außenminister, ob von CDU/CSU, SPD oder FDP hätte sich zur Forderung nach „weittragenden Waffen“ verstiegen? Sie haben Vorsicht und Zurückhaltung walten lassen. Und man hat ihnen damals auch nicht vorgeworfen, deswegen „Moskaus Freunde“ zu sein. Die Eskalation der deutschen Tonlage kann nicht damit erklärt werden, dass Russland eine gefährlichere Macht als früher geworden ist. Nein, die Mischung von Zerstörungswillen und Leichtsinn zeugt von der Veränderung, die mit Deutschland geschehen ist. In diesem Land findet sich inzwischen eine gefährliche Bereitschaft, die eigenen Errungenschaften aufs Spiel zu setzen und reale Güter für spekulative Ideen zu opfern. Diese Bereitschaft hat keineswegs von der ganzen Gesellschaft Besitz ergriffen, und vieles ist sicher auch bloßes Schwadronieren. Aber so kann man in einen Krieg hineinschlittern. Einen Krieg, den man eigentlich „gar nicht gewollt hat“.  

Das Menetekel 1914 

In mancher Hinsicht erinnert die Situation an 1914 oder überhaupt an das Jahrzehnt, das in die „europäische Urkatastrophe“ von 1914 führte. Natürlich muss es so nicht ausgehen. Geschichte wiederholt sich nicht. Was für einen Rückblick auf die Konstellation zu Beginn des 20. Jahrhunderts spricht, ist die Tatsache, dass es damals nicht nur eine Verharmlosung des drohenden Krieges gab, sondern auch eine gewisse Zivilisationsmüdigkeit und die Sehnsucht nach einer „reinigenden“ Gewaltkur. Beim Lernen aus der Geschichte steht heute meistens „1933“ und überhaupt die totalitäre Gefahr von rechts und links im Vordergrund. Aber ein Blick auf „1914“ wäre heute mindestens ebenso wichtig.  

Eine Zwischenbilanz 

Eine Zwischenbilanz für das Deutschland unserer Gegenwart muss tatsächlich einen fundamentalen Wandel feststellen: Was als abgehobene und selbstbezogene Parallelgesellschaft (der „Sektor“) entstand, ist inzwischen zu einer tonangebenden Macht geworden. Und diese Macht ist immer stärker zu einer zerstörerischen Negativ-Macht geworden. Erst in der Gesamtschau der Jahrzehnte und der verschiedenen Handlungsfelder zeigt sich der gemeinsame Grundcharakter und die Grundrichtung der Entwicklung. So wird verständlich, warum die Bilanzen für Wirtschaft und Staat so schlecht ausfallen, und warum sich in der Gesellschaft ein Gefühl der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit ausbreitet. 

Aber ist das wirklich alles? Ist die heutige Negativspirale wirklich so mächtig, dass sie das ganze Land und die ganze Zukunft in Beschlag nehmen kann? Das hieße ja, dass der „Sektor“ alle anderen Fähigkeiten, Ressourcen, Erfahrungen und Interessen im Land völlig in Beschlag nehmen kann. Dass er sie sich einverleiben kann. Dass aus einer Parallelgesellschaft auf einmal „die Gesellschaft“ schlechthin wird. Und „die Wirtschaft“, „der Staat“, „die Arbeit“ und „die Demokratie“. Ja, so treten sie auf. Sie sind große Erzähler. Und starke Schauspieler. Doch es lohnt sich, einmal durch das so aufdringliche Krisentheater hindurchzuschauen. Und zu prüfen, ob es in diesem Land nicht etwas anderes gibt. Nein, ein bequemes Vor-Sich-Hin-Leben ist dann nicht in Sicht, sondern sehr elementare, hartnäckige Knappheiten und Widrigkeiten, aber mit greifbaren, im Rahmen unserer modernen Zivilisation schon bewährten Lösungen. Und eine Gesellschaft im Schatten, die sich darin bewährt hat. So könnte, diesseits der heute so aufdringlich herrschenden und sich allmählich erschöpfenden großen Erzählungen, eine Vorstellung von neuen Jahrzehnten entstehen, in denen Deutschland allmählich wieder auf einen anderen Kurs findet.