Der Migrationsmythos, Teil VIII
Die Theologie der Migration
Eine Szene aus dem Berliner Stadtbezirk Reinickendorf: Vor einer Schule demonstrieren Eltern, Lehrkräfte und Schüler gegen die Beschlagnahme ihrer Turnhalle zur Unterbringung von Flüchtlingen. Und es gibt eine Gegendemonstration. Sie wird von den Kirchen und von einem moslemischen Verband organisiert. Eine denkwürdige Gegenüberstellung: Die Kirche gegen die Schule, gegen die Res publica. Im Namen christlicher Werte sollen die säkularen Bildungsgüter, das Erbe der Aufklärung, zweitrangig werden. Im Zweifelsfall werden sie beschlagnahmt. Das alles geschieht unter Berufung auf die Migrationswelle. Im „Flüchtling“ hat die Theologie eine Figur gefunden, mit der sie die Bürger unter Druck setzen kann. Wir hatten schon einmal eine „Befreiungstheologie“, die sich als Triebkraft einer sozialistischen Weltrevolution verstand. Nun bekommen wir eine Migrationstheologie, die eine nicht weniger radikale Weltveränderung betreibt.
Der Riss geht auch mitten durch die Kirchengemeinden. Es hat an diesem Weihnachten 2015 viele Menschen gegeben, die mit erheblichen Bauchschmerzen in ihre Kirche gegangen sind. Sie waren zwischen zwei Dingen hin und her gerissen: Auf der einen Seite war da die religiöse Erwartung, im Licht des Weihnachts-Ereignisses die Anwesenheit Gottes zu spüren und die Worte, Lieder und Bilder wiederzufinden, die seiner Größe Ausdruck geben. Auf der anderen Seite mussten sie damit rechnen, dass in den Predigten das Weihnachtsereignis benutzt wird, um für noch mehr Aufnahmeopfer zu werben. Tatsächlich war in zahlreichen Predigten die Formel zu hören, dass Maria, Josef und Jesus „Flüchtlinge“ gewesen seien und deshalb auch die heutigen Migranten in einem gleichsam überirdischen Licht stehen. Wer dies anders sieht, musste an diesem Heiligen Abend 2015 damit rechnen, als unchristlich aus seiner Kirche ausgebürgert zu werden. Nein, das ist nicht nur ein politischer Streit, der von außen in die Kirchen dringt. Vielmehr stehen sich hier unterschiedliche religiöse Grundideen gegenüber.
Die Mystik des „fremden Menschen“
Es gibt schon seit längerer Zeit vielfältige Äußerungen aus Kirchenkreisen, die nicht nur für einen freundlichen Empfang der Migranten plädieren, sondern die Migranten zu exemplarischen Repräsentanten des christlichen Menschenbildes erklären. Schon vor einem Jahr bezeichnete der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Marx, das Weihnachtsereignis als eine „Revolution ohne Vergleich“. Dadurch, dass Gott Mensch werde, sei die „Anerkennung des anderen“ begründet (vgl. FAZ 27.12.2014). Auch in der Evangelischen Kirche Deutschlands gibt es diese gläubige Verehrung des Migranten, der ihr als „Flüchtling“ ein Sinnbild des Bedürftigen ist, und der zugleich als wandernder „Fremder“ etwas mystisch Großes hat und über den Niederungen irdischer Sesshaftigkeit schwebt. Annette Kurschuss, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und Herausgeberin der Zeitschrift „chrismon“ schreibt: „Wir dürfen vor der Fremdheit nicht davonlaufen…Nicht vor ihrem Anderssein und nicht vor unserem Nicht-Verstehen. Uns befremden lassen: Das wär´s.“
Das Wortgeschraube um die „Fremdheit“ befasst sich nicht mit den realen Migranten. Sie verkennt, dass der größte Teil von denen, die sich bis nach Deutschland durchschlagen, nicht unmittelbar aus Kriegsnöten fliehen, sondern zu einem Ort weiterwandern, von dem sie sich bessere Lebensbedingungen versprechen. Um den Migrationsschritt nach Deutschland zu tun, haben sie eine Abwägung gemacht und die Hoffnung auf ihr Land aufgegeben. Das kann man, angesichts der schwierigen Situation in Syrien, im Irak oder in Afghanistan verstehen – aber es handelt sich weder um eine absolute Notlage, noch ist diese Migrationsentscheidung ein Weg zur Lösung der Probleme.
Es hat auch nichts gemein mit der Rückkehr von Maria und Josef an ihren Geburtsort in Galilea, und mit der Geburt von Jesus in Betlehem, die zur Weihnachtsgeschichte wurde. Welche Vermessenheit, in alles menschliche Migrieren diese Geschichte der stillen und heiligen Nacht hineinzulesen. Die theologische Überhöhung der Migration hat mit der Weihnachtsbotschaft nichts zu tun. Besagt diese doch gerade die Zuwendung Gottes zu einem bestimmten Ort, zum irdischen Dasein überhaupt. Sie sagt den Menschen, dass dies Dasein wertvoll ist und nicht nur ein Provisorium. Dass sie daher den Ort, an den sie gestellt sind, annehmen sollen und nicht nur auf der Erdoberfläche umherirren sollen.
Bei „fremd“ sollte man nicht gleich an „böse“ oder „feindlich“ denken. Aber es ist eine sehr abstrakte, leere Bestimmung des Menschen. Der Kult der Fremdheit interessiert sich erstaunlich wenig für die sozialen Merkmale der ins Land Kommenden, weder für ihre wirkliche Zahl noch für die verschiedenen Milieus. Die auffällig große Gruppe der jungen, alleinstehenden Männer, die (oft fehlenden) Bildungs- und Arbeitserfahrungen, die (im Verhältnis dazu) sehr schnell erhobenen Versorgungsansprüche – bei alledem will man sich nicht länger aufhalten. Auch bei den Berichten über Gewalt in den Aufnahmeunterkünften will man nicht wirklich wissen, was da in den Tätern vorgeht. Es wird irgendwie unter „Sie sind ja arm und traumatisiert“ abgebucht. Im Grunde ist es egal. Die neue deutsche „Offenheit“ ist eine erstaunlich blinde Offenheit. Und dafür ist „der fremde Mensch“ das passende Blindwort.
Stattdessen findet eine theologische Projektion statt. Der Fremde wird in ein göttliches Licht gestellt. Er ist ein willkommenes Objekt für die Idee vom barmherzigen Gott. Es ist diese Idee, die im Fremden ihr passendes Gegenüber findet. Dessen Rolle beschränkt sich darauf, das Licht der Barmherzigkeit zurückzuspiegeln. Und hier kommt der helfende Mensch ins Spiel. Um seinen Akt des Helfens geht es. Dieser Moment der guten Tat ist wichtiger als das Ergebnis der Tat. Denn in diesem Moment wird das Licht der Barmherzigkeit zurückgespiegelt. Deshalb ist das Interesse an den Eigenschaften des Migranten so gering. Deshalb wird so hartnäckig und wider alle rechtliche und sozioökonomische Wahrheit am Oberbegriff „Flüchtling“ festgehalten. Dies Wort steht für den reinen, von allen eigenen Mitteln entblößten Menschen. Die Migranten sind als Gelegenheit für ein gutes, gottgefälliges Werk willkommen. Sie stehen letztlich nur am Wegesrand zu Gott. Der selbstlos helfende Mensch ist mehr mit sich selbst beschäftigt, als er zugeben will.
Doch die Migration kann in dieser dienenden Funktion mit beängstigender Unaufhaltsamkeit immer weiter wachsen. Am Wegesrand des guten Menschen zu Gott gibt es keine Obergrenze.
Der allzu nahe Gott
Aber geht es wirklich um Gott? Sicher ist in der Migrationstheologie viel von Gott die Rede. Oft wird sogar der Eindruck erweckt, als würde aus ihrem Geist eine Wiederbelebung des christlichen Glaubens möglich. Aber kann diese Theologie tatsächlich einen neuen Sinn für die Erhabenheit Gottes wecken? Steht Gott überhaupt im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit? Hört man genau hin, so muss man daran zweifeln. Bei seiner Rede vor dem Europäischen Parlament im November 2014 hat der Papst eine sehr herausfordernde Tonlage gewählt, doch der Eckpunkt dieser Herausforderung war nicht Gott. Es sei „die Stunde gekommen“, so sagte Franziskus, „gemeinsam das Europa aufzubauen, das sich nicht um Wirtschaft dreht, sondern um die Heiligkeit der menschlichen Person, der unveräußerlichen Werte.“ Kurz darauf, vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, forderte er ein neues europäisches „Urvertrauen“: „Das Vertrauen auf den Menschen, und zwar weniger als Bürger und auch nicht als wirtschaftliches Subjekt, sondern auf den Menschen als eine mit transzendentaler Würde begabte Person.“ Hier wird „der Mensch“ zum eigentlichen Eckpunkt und Unterpfand des Glaubens. Die Heiligkeit Gottes wird in die Heiligkeit der menschlichen Person hineingeholt. Gott ist nicht mehr das große Gegenüber des Menschen. Die Evangelische Kirche Deutschlands hat den folgenden Satz aus dem alten Testament (Jesaja 66, 13) als Jahreslosung für 2016 ausgegeben: „Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Man kann hier, bei wohlwollender Interpretation, die Absicht herauslesen, Gott den Menschen irgendwie nahezubringen. Er soll sich an eine persönliche, familiäre Situation erinnern, um Gott zu verstehen. Aber der Mutter-Vergleich ist eine sehr zudringliche Theologie, die das Glauben, Hoffen und Lieben eng macht. Ihr Bild von Gott ist im Grunde ein Selfie.
Was hier geschieht, ist durchaus gravierend. Das wird deutlich, wenn man sich daran erinnert, dass der christliche Glaube, der beim Aufbruch in die Moderne Pate stand, eine ganz andere Orientierung und Tonlage hatte. Max Weber hat gezeigt, wie im neuzeitlichen Christentum eine neue Spannweite zwischen Gott und dem Menschen eröffnet wurde, die es ermöglichte, in der Berufung auf Gott zurückhaltend zu sein und in der Arbeit auf Erden zupackend. Er sprach von dem „großen religionsgeschichtlichen Prozess“, der alle vordergründigen Mittel der Heilssuche als Aberglauben verwarf (Zauberei, symbolische Ablass-Handlungen) – der aber auch die Drohung eines unmittelbar bevorstehenden Weltenendes verwarf und der Welt mit dieser Ausdehnung der Zeit ein viel größeres Gewicht gab. Webers Beispiel war der Protestantismus und die moderne Marktwirtschaft. Aber auch auf Seiten des römisch-katholischen Glaubens lässt sich diese theologische Entwicklung nachweisen, ohne die die Renaissance, die Aufklärung und der souveräne Rechtsstaat gar nicht denkbar gewesen wären. Der ferne Gott der Moderne führte nicht in Beliebigkeit, sondern legte die Menschen mit neuer Unausweichlichkeit auf ihren irdischen Ort fest. Dort lag ihre Bewährung. Der ferne Gott war ein fordernder Gott. Nicht der wurzellose, umherschweifende Mensch, sondern der in einen Beruf, in ein Unternehmen, in eine Familie, in ein Land investierende Mensch war die Konsequenz. Dies neuchristliche Menschenbild ist bürgerlich. Dieser Bürger würde es weit von sich weisen, als „Ebenbild Gottes“ zu figurieren und sich als Person mit dem Adjektiv „heilig“ zu versehen.
Der christliche Gott der Neuzeit steht den Menschen erhabener gegenüber als der frühchristliche und mittelalterliche Gott. Aber er ist noch da. Er ist nicht wegsäkularisiert. In der neuen Spannweite zwischen Gott und Mensch sind nur die vordergründigen Heilsmittel verschwunden, die Gott allzu nah an den Menschen rückten. Wem die Moderne am Herzen liegt, sollte also durchaus den theologischen Streit wagen. Schaut man zum Beispiel in Max Webers „Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ aus dem Jahre 1904 schaut, oder auch in den Sammelband von Alfred Müller-Armack „Staat und Wirtschaft“ (1959), spürt man eine Tonlage des Christentums, die sich von der heutigen kirchlichen Wirtschaftskritik völlig unterscheidet. Das war der Geist der deutschen Gründerzeit vor 120 Jahren und auch der Geist, der beim Neuanfang der Bundesrepublik nach 1945 Pate stand. Es war durchaus ein christlicher, ein religiöser Geist. Aber nicht die Spur von jener dummen Gegenüberstellung „des Menschen“ gegen „die Wirtschaft“, die wir heute von der katholischen und der evangelischen Kirche – in trauter Eintracht – vorgesetzt bekommen.
Gemessen an dem anspruchsvollen Christentum der Neuzeit wäre diese aktuelle Positionierung der Kirchen, die sich nun mit der Migrationstheologie weiter radikalisiert, ein Rückfall. Ein theologischer Rückfall, der die religionsgeschichtliche Verabschiedung aller vordergründigen Heilsmittel wieder rückgängig macht. Dem Menschen wird eine trügerische Gottesnähe suggeriert, wenn er sich nur weit genug von seiner Bürgerlichkeit entfernt. Und wenn er sich jetzt dem „Flüchtling“ als neuer Leitfigur zuwendet.
Eine Theologie, die das Land lähmt
Deutschland ist kein Land, das sich auf seinem Stand saturiert zurücklehnen kann. Es muss produktiv sein. Ein anspruchsvoller religiöser Glauben, der sich in der Bewährung vor Gott sieht, würde da durchaus gebraucht. Es gäbe einiges aufzuräumen in Wirtschaft, Staat und Privatsphäre. Die meisten Krisen unserer Zeit sind ja nur provisorisch gemilderte und dadurch verschleppte Krisen. Es gibt auch tieferliegende Schwächen, die die bürgerliche Substanz betreffen – zum Beispiel bei der Fähigkeit, sich auf eine Sache, einen Beruf, eine Familie, ein Unternehmen, einen Ort wirklich festzulegen. Da könnte ein kräftiger Schuss von dem Geist, den Max Weber und Alfred Müller-Armack darstellten, durchaus hilfreich sein.
Es gäbe aber auch in religiösen Dingen etwas aufzuräumen. Hier ginge es um mehr Zurückhaltung. Um Rituale, die die Ferne Gottes respektieren. Die Kirchen sind viel zu sehr mit menschlichen Angelegenheiten vollgestellt, der Name Gottes wird zu oft für soziale Dienstleistungen in Anspruch genommen. Wir müssen wieder lernen, in den kleinen Dingen die Größe des fernen Gottes zu sehen und zu verehren. Gerade zu Weihnachten gibt es eine bürgerliche Tradition in diesem Sinn. Der Zauber des Tannenbaums, der Adventskerze, der Schnitzwerke, der Plätzchen, der Orangen liegt in der Übersetzung der Ferne, die hier gelingt. Vielleicht hat mancher, der der diesjährigen Dauerbeschallung mit dem Flüchtlingsthema entgehen wollte, diese kleinen Signale finden können.
Das sind hier nur kurze Hinweise. Aber sie zeigen, dass der christliche Glauben gerade in unserer Zeit sehr viel zur Weiterentwicklung Deutschlands beitragen könnte. Für die Migrationstheologie gilt das allerdings nicht. Denn bei keiner der oben genannten Reformaufgaben hilft die Massenzuwanderung weiter. Die Migranten können den Deutschen nicht die schmerzhafte Aufgabe abnehmen, eine neue Reformagenda für Wirtschaft und Staat auf die Tagesordnung zu setzen. Sie können auch nicht das Problem lösen, das die Kirchen der Gegenwart bei der Vermittlung des christlichen Glaubens haben. Beides sind bürgerliche Aufgaben, Aufgaben für die Bürger dieses Landes. Natürlich wird unser Land immer wieder Flüchtlinge und Migranten aufnehmen. Natürlich wird es auch andere Religionen respektvoll behandeln. Aber weiterbringen wird das unser Land nicht. Schon gar nicht wird ein reformunfähiges Deutschland durch die Massenmigration zu einem „spannenden“ Land werden.
Im Gegenteil, die Migration ist ein Ersatzthema, das von den eigentlichen Problemen und Aufgaben des Landes ablenkt. Die Masseneinwanderung verwickelt das Land in eine unendliche Rettungsaktion, die alle Kräfte in Anspruch nimmt und für Jahrzehnte auf eine lähmende, deprimierende Hängepartie festlegt. Der Migrationstheologie scheint diese Lähmung ganz recht zu sein.