Die „Innere Sicherheit“ ist zum Großthema der deutschen Politik erklärt worden. Doch das bedeutet nicht, dass nun endlich ein vernünftiges Verhältnis zur Staatsgewalt hergestellt würde. 

Die verdrängte Tradition der wehrhaften Demokratie

Nach dem Terrorangriff in Berlin gab es sicher bei vielen Menschen die Erwartung, es würde ein Umdenken geben. Deutschland würde zu jener Staatsräson zurückfinden, die als „wehrhafte Demokratie“ hierzulande einmal einen guten Namen hatte. Tatsächlich haben die Terrorakte und die Ausbreitung von alltäglicher Gewalt ein Ausmaß erreicht, dass von einer offenen Herausforderung unseres Staatswesens gesprochen werden muss. Wird darauf nun entsprechend geantwortet? Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, denn nun soll das „Thema Innere Sicherheit“ das Wahljahr 2017 bestimmen. Doch ist es hier wie auf anderen Gebieten: Die Tatsache, dass etwas zum Zentralthema wird, bedeutet nicht, dass der Ernst der Lage offengelegt wird, damit dann auch schmerzhafte Eingriffe freimütig erörtert und durchgesetzt werden können. Inzwischen ist das „Zentralthema“ schon wieder auf dem Weg, sich zwischen minimalen Einzelmaßnahmen und maximalen Ursachenphilosophien aufzulösen.

Worin liegt das Sicherheitsproblem im Fall Amri? Es liegt nicht in einer Unterschätzung des Täters oder in einer Nachlässigkeit beim Überwachen, sondern darin, dass man einen solchen Tätertypus nicht frühzeitig und bis zu einer Abschiebung in Sicherheitsverwahrung genommen hat. Eine gesetzliche Möglichkeit dazu gibt es. Aber solange dafür das Kriterium gilt, dass ein „konkreter Gefährdungssachverhalt“ nachweisbar sein muss, ist diese Waffe stumpf. Eine Rund-Um-Die-Uhr Überwachung aller Bewegungen aller potentiellen Gefährder ist eine abwegige Idee und auch die Forderung nach mehr Personal ändert daran nichts. Sie ist eher als Ausrede zu verstehen, um sich nicht ernsthaft mit der Aufgabe präventiver Inhaftierung zu befassen. Hier ist eine Präferenz im Spiel, die ideologischer Natur ist: Eher wird eine erhöhte Wahrscheinlichkeit von Terroranschlägen hingenommen, als die Vision eines zivil-liberalen „offenen Deutschlands“ aufzugeben. Sind wir beim Thema „Innere Sicherheit“ also weiter? Würden die Regierenden bei einem ähnlichen Fall jetzt anders handeln? Keineswegs, wir stehen nach wie vor den gleichen Entscheidungsproblemen und sind strukturell unfähig, sie zu lösen.

Nicht nur auf die großen Anschläge schauen

Ein zweiter Problemkomplex ist die sich ausbreitende Alltags-Gewalt, die Hauseinbrüche und Taschendiebstähle, die Überfälle in U-Bahn-Stationen und Stadt-Parks, die Gewalt gegen Polizeibeamter, Feuerwehrleute, Busfahrer und Lehrer. Sehen wir einmal (für einen Moment) von der Herkunft der Täter ab, sondern schauen nur auf die Art der Taten: Es handelt sich nicht um monströse Einzeltaten, sondern um ein breites Vordringen in der Fläche, dem man viel weniger entkommen kann als dem Einzel-Attentat. Wie viele Menschen in Deutschland haben inzwischen ihre täglichen Heimwege von der Arbeit geändert, wie viele Frauen gehen nach 20 Uhr nicht mehr in ihren Park, wie viele Schüler meiden bestimmte Ecken im Umfeld ihrer Schule? Warum fragen Reporter eigentlich immer nur nach großen Anschlägen, ob die Bürger ihr Verhalten ändern? Die vielen kleinen Verhaltensänderungen im Alltag, die längst zu einer Einschränkung der so oft beschworenen „freiheitlichen Lebensweise“ geführt haben, sind mindestens ebenso einschneidend. Diese Verschlechterung der Sicherheitslage ist schwer in den Griff zu bekommen. Die Dunkelziffern sind hoch, und die Polizei sagt zu Recht, sie könne nicht überall sein. Ein zuverlässiger Schutz ist hier ohne Zumutungen nicht möglich. Dazu gehört zum Beispiel die systematische Anwendung von Videoüberwachung oder auch die organisierte Wachsamkeit der Bürger (als „Neighbourhood-Watching“ in den USA wohlbekannt). Auch die Verhängung von Strafen „auf Bewährung“, die dazu führt, dass Straftäter wieder in den Alltag entlassen werden (ohne dass die Justiz die Mittel hätte, ihr Verhalten dann zu kontrollieren), müsste drastisch verringert werden.

Diese Beispiele zeigen, dass eine erhöhte Wehrhaftigkeit keine „Innovationen“ erfordert, sondern eine Änderung der Abwägung von Rechtsgütern. Davon aber ist Deutschland gegenwärtig weit entfernt, wie die Stellungnahme des Deutschen Richterbunds zur Videoüberwachung vom 27.12.2016 verdeutlichte. Eine Ausdehnung dieser Überwachung würde in Konflikt mit der Gebot der „Verhältnismäßigkeit“ staatlicher Eingriffe stehen, erklärte der Vorsitzende Jens Gnisa, weil sie „die Freiheit einer Vielzahl von unbescholtenen Bürgern, die selbst keinen Anlass für Überwachung schaffen“ einschränke. Die Tatsache, dass jeder Täter, der nicht gefasst und überführt wird, eine Belastung der Freiheit von Zigtausenden von Bürgern darstellt, kommt in solchen Verhältnis-Rechnungen, die gerne als absolutes (alternativloses) Gebot „des“ Rechts ausgegeben werden, nicht vor. Solche Rechnungen sind immun gegen die Fakten einer veränderten Sicherheitslage.

Zwei Irrtümer, ohne deren Korrektur es keine Sicherheit gibt

Daraus muss man lernen. Die Wiederherstellung der inneren Wehrhaftigkeit der Bundesrepublik wird sich nicht einfach „spontan“ als Reaktion auf Ereignisse – und seien sie noch so monströs – ergeben. Die Wehrhaftigkeit kann nur wiedergefunden werden, wenn bestimmte Opfer, die mit ihr verbunden sind, akzeptiert werden. Ein Opfer liegt in der Konfrontation, die mit dem Zugriff auf Täter und ihrer konsequenten Bestrafung verbunden ist. Hier gibt es einen Einwand, der in Deutschland beträchtlichen Einfluss hat: Die Härte der Sicherheitskräfte und der Justiz würde, so heißt es, die Täter nur verhärten. Strafen seien deshalb „kontraproduktiv“. Bisweilen wir sogar behauptet, Strafen seien nur eine „Rache“ des Staates und deshalb mit dem Verbrechen auf eine Stufe zu stellen. Doch der Rechtsstaat steht nicht in einer Privatfehde mit dem Täter, er handelt im Auftrag der Gesetze und schützt damit die Allgemeinheit der Bürger. Bei der Wehrhaftigkeit ist Konfrontation also kein Selbstzweck.

Ein zweites Opfer liegt in der Allgemeinheit, mit der ein wehrhafter Staat vorgehen muss. Wenn Identitätskontrollen vorgenommen werden oder wenn Videoüberwachung installiert wird, treffen die Maßnahmen einen Kreis von Menschen, der viel größer ist als die gesuchten Täter. Es ist üblich geworden, dies Vorgehen für illegitim zu erklären, weil es angeblich einen „Generalverdacht“ erhebe. Aber jedes allgemeingültige Gesetz verlangt allgemeine Kontrollen zu ihrer Einhaltung. Erst dann können Gesetzesbrecher herausgefiltert werden. Daher weist jede Gesetzesanwendung im ersten Schritt ein extremes Missverhältnis zwischen der Zahl der erfassten Personen und der Zahl der Gesetzesbrecher auf – man denke an Geschwindigkeits-Kontrollen im Straßenverkehr, an Einzeltische bei Prüfungsklausuren, an automatische Einkommens-Meldungen bei den Finanzämtern und so weiter. Die Konjunktur des Wortes „Generalverdacht“ zeigt nur, wie viel Staatsfremdheit gegenwärtig in Deutschland in Umlauf ist.

Lernen, um den Staat zu kämpfen

Diese Staatsfremdheit ist erstaunlich leichtfertig. Bei so viel Leichtfertigkeit kann man vermuten, dass da insgeheim ein anderes Modell im Spiel ist, von dem erwartet wird, dass es besser (und schmerzloser) die Sicherheitsprobleme eines Landes löst. Ein solches Modell gibt es hierzulande tatsächlich: Das ist die sogenannte „Zivilgesellschaft“, die in ausdrücklicher Gegenüberstellung zum Staat definiert wird. In ihr sollen sich die Dinge durch das „Zusammenstehen“ der Bürger regeln, durch ihren Dialog. Die befriedende Sogkraft des Miteinander-Redens (und, nicht zu vergessen, einer guten materiellen Versorgung) soll die Härten der Wehrhaftigkeit weitgehend überflüssig machen. Am Einfluss dieser Zivildoktrin in Deutschland scheinen auch die jüngsten Gewaltexzesse noch nichts geändert zu haben. Dabei ist die „Zivilgesellschaft“ mindestens ebenso spekulativ wie die „multikulturelle Gesellschaft“.

Wie ist es so weit gekommen? Ist die Wehrhaftigkeit den Deutschen prinzipiell fremd? Nein, in der Geschichte der Bundesrepublik sind beide Tendenzen – Wehrhaftigkeit und Zivilität – angelegt. Es waren unterschiedliche Konsequenzen, die man aus dem Ende NS-Diktatur zog. Die eine suchte das Heil in einer möglichst großen Distanz zu jedwedem Staatswesen, weil sie das NS-Regime als Folge einer missratenen deutschen (preußischen) Staatstradition verstand. Die andere sah im NS-Regime eine Verletzung aller rechtsstaatlichen Traditionen, die Deutschland schon entwickelt hatte. Daraus folgerte man, dass der Staat „Bundesrepublik“ wehrhafter gegen totalitäre Heilsansprüche sein müsste, als die Weimarer Republik es war. So entstand das Konzept der „wehrhaften Demokratie“.

In der Gründerzeit der Bundesrepublik gab es also einen geschärften Sinn für die Verletzbarkeit und die Verteidigungsaufgabe der Demokratie. Aber auch die Wertschätzung für das Zivile groß – doch verstand sie sich noch nicht als Staatsersatz. Die Idee einer zivilen Gesellschaft beanspruchte nicht, der Angelpunkt des ganzen Landes zu sein. Das Grundgesetz enthält deshalb sowohl starke Positionen der Zivilität als auch der Wehrhaftigkeit. Erst in der weiteren Entwicklung ist die Zivildoktrin Schritt für Schritt dominant geworden. Es ist ein Paradox der Geschichte, dass Deutschland in dem Moment, indem es seine staatliche Souveränität wiedererlangte, völlig von der Idee der Zivilgesellschaft beherrscht war.

Jetzt zeigt sich, dass es so nicht weitergeht. Die Bundesrepublik steht vor der Aufgabe, die verdrängte Tradition der wehrhaften Demokratie wieder aufzunehmen. Das ist der eigentliche, tiefere Einsatz beim gegenwärtigen Streit um die Innere Sicherheit. Wir müssen wieder lernen, für einen wehrhaften Staat zu kämpfen.

Ein Nachtrag zur Verdeutlichung

Dem Leser ist vielleicht aufgefallen, dass in diesem Beitrag die Migrationskrise nicht besonders hervorgehoben wird. Das liegt nicht daran, dass ich nicht sehen würde, dass die große Zahl illegal Zugewanderter ein hohes Sicherheitsrisiko darstellt. Aber diese Tatsache macht es meines Erachtens umso dringlicher, die „Staatsfrage“ zu stellen. Diese Krise bringt die Schwächen der Staatsentwicklung der letzten Jahrzehnte ans Licht. Und bei dieser Entwicklung muss die Änderung ansetzen. Nur dieser Hebel liegt in unserer Hand. Ich bin gegen eine staatsferne, rein gesellschaftliche Auseinandersetzung – Sie könnte in die Nähe eines Bürgerkriegs geraten. Dadurch würde sich die „zivilgesellschaftliche“ Fehlentwicklung in Deutschland nochmals auf schlechte Weise fortsetzen: Indem sie – ohne staatliche Form – zu einer willkürlichen Auseinandersetzung auf eigene Faust wird. Deshalb ist der Satz „Wir Deutschen müssen jetzt lernen, um unseren Staat zu kämpfen“ eine Richtungsentscheidung.