Eine Lektüre von „Peter Handke, Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990“ (Frankfurt/M 2007)

Die Worte und die Dinge

15. Juli 2019

Die folgenden Exzerpte und der Kommentar gehören zu dem Vortrag, den ich am 10. Juli 2019 im Hayek-Club in Berlin zum Thema „Der Weg zur Knechtschaft und der Eigensinn der Sprache“ gehalten habe, und der auf meiner Webseite ebenfalls dokumentiert ist.    

Exzerpte

 „…Augen für das Leuchten der Robinien, auch bloß nur das Dahängen der Blattfächer, der Wehen, deren Auffahren, sanft, himmelwärts…“ (201)

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„…Etwas zeigt seine Form, heißt: Es verlangsamt sich, majestätisch…“ (206)

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„…Noch einmal zu Zorn und Wut: der Zorn faßt ins Auge, die Wut nicht…“ (209)

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„…Diese Frau da: `So selbstgewiß wie reizlos´ – Und jene dort: `Ihr fehlt etwas, und dadurch wirkt sie schön´…“ (211)

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„…Mittag in der Provence: ein Stück Papier flattert, und ein abgefallenes Rindenstück von einer Platane schlittert, und der Mittagsfalter schaukelt vorbei…“ (218)

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„…Das Grüßen: vorausgehend das Aufnehmen der Gestalt des Anderen im Raum – und dann die Augen des Gegrüßten als pars pro toto: wenn das Grüßen glückt (das kleine Drama des Grüßens, zu erproben an Unbekannten)…“ (222)

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„…Schön, so einen Satz einmal gesungen zu hören: `And the sun went down´ (Fleetwood Mac, Jukebox Dover)…“ (276)

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 „…All die verschiedenen Schriften, Schrift-Züge, mit denen in den Jukeboxen quer durch Europa die zu wählenden Platten bezeichnet sind…ein paar der Platten, zwischen den anderen mit vorgedrucktem Titel, geradezu in Schmuckschrift, `handgemalt´, zärtlich…“ (299)

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„…Zu `Mond´ gehört ein `Auch´: Es windet; es ist leer; niemand; und der Mond ist auch da…“ (304)

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„…die Echsen, sie raschelten, rasselten, rauschten, knisterten, rumpelten, klickten auch noch in der Dunkelheit…“ (326)

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„…Gestern: der Sandsturm am Meer von Tarragona. Obwohl ich mich zwischen die Ufersteinblöcke verkroch, überschüttete mich doch ein dauernder Sandfall von oben, von den Felskanten, über diese hinweggeschleudert. Anfangs taten die Körner ordentlich weh, geradezu `empörend weh´. Dann kam das Gewährenlassenkönnen…der schwer mir zusetzende Sturmnachmittag in einem harten, raumvernichtenden Licht: `Grausames Spanien´…“ (336)

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„…Aber daliegend in der Sonne, auf einer halbmorschen Holzbank im Hafen von Tarragona, unter den Dattelpalmen dort, deren Fächer rhythmisch knatterten, während die Lastwagen vorbeipolterten, mit nackten Füßen, Wind zwischen den Zehen…“ (341f)

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„…Ein Gott, nicht als der Allmächtige, aber als der Allessehende: so einen muß es doch geben – der uns alle, alle sieht, mich im Zimmer oder sonstwo, diese gelbgekleidenten Eisenbahnarbeiter oder sonstwen, diesen sich zu seinem Gemüse Bückenden in seinem Schienennachbargarten (im Zug Valencia-Albacete) (343)  

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„…Ich dachte: `Bar Andén´, was für ein schöner Name; dabei bedeutet es nur `Bahnsteigbar´…“ (345)

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„…Seltsam, daß im Spanischen das Wort für `wirklich´ und das für `königlich´ ein und dasselbe ist (`real´)…“ (381)

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„…`Dingtreu´ und `wortgenau´ sind ein und dasselbe; Wortgenauigkeit heißt Dingtreue…“ (399)

Kommentar

Meines Erachtens liegt der Wert von Handkes „Gestern unterwegs“ nicht in einer bestimmten Gesamtaussage, sondern in der Sprache und dem dadurch eröffneten Zugang zur Welt. Hier haben die Worte und die Dinge ein besonderes Gewicht, das nicht von dem Zusammenhang kommt, in den sie gestellt werden – dieser ist kaum mehr als ein zeitliches Nacheinander und ein räumliches Nebeneinander. Aber wo die Worte und Dinge hier einzeln stehen und daherkommen, werden sie in sich gewichtiger. Auch gibt es eine elementare Verbindung: Man könnte sagen, dass bei Handke die Dinge sprechen und die Worte dinglich werden. Das „Ich“ wird nicht so groß geschrieben. Das „Wir“ noch weniger. Es gibt keine übergreifende Erzählung, die sogenannten großen Themen der Menschheit werden auf einmal klein. Wie viel Platz es auf unserer Erde, die angeblich kurz vor dem Zusammenbruch steht, doch noch gibt! Wo die Bedrohungen und Rettungen, die „tiefsten Ursachen“ und die „übergeordneten Ziele“ einmal Sendepause haben, emanzipieren sich die Worte und die Dinge.

Keine Frage, hier ist ein professioneller Schriftsteller an der Arbeit. Es ist keine spontane Erlebniswelt, die hier erzählt wird. Wer ein bisschen das Werk von Handke kennt, wird viele Elemente und auch die spezifische Sensibilität seiner literarischen Arbeit wiedererkennen. Es ist eine merkwürdige „Schreibwerkstatt“, die Handke da aufmacht. Es gibt keine besonders starke Organisation und Beherrschung des Schreibprozesses. Keine besonders starke Vorbereitung (durch Wissen und Planung, durch einen übergeordneten „Willen zum Endprodukt“). Die Sprache ist hier sichtlich kein Mittel zum Zweck. Hier schreibt kein Sprachtechnokrat. Es herrscht so etwas wie eine elementare Toleranz: ein Sich-Einlassen auf offene Situationen, ein Sich-Zurücknehmen aus jeder starken Interventionsrolle. Eine Abkehr vom Verbesserungs-Reflex.
Das Buch ist eine Art Fahrtenbuch, die einzelnen Aufzeichnungen sind meistens mit einem kurzen Stichwort zu Ort und Datum versehen. Peter Handke ist größtenteils zu Fuß unterwegs. Und er ist wirklich Unter-Wegs – „unter“ dem Weg. Das Reisen ist eine Abrüstung des schriftstellerischen Subjekts. 

Einige Merkmale seien hier noch einmal hervorgehoben:

  • Die Dinge und ihre dinglichen Eigenschaften haben ihr eigenes Tun. Sie sind Subjekt und haben Prädikat und Objekt. Das Schwarz der Brombeeren „schreit förmlich danach, gepflückt zu werden“ (441). Es gibt die Steine nach dem Regen, die „sich buckelten und glänzten…“ (463).
  • Das Sich-Zurücknehmen des Menschen: `Was willst Du?´ fragte er sich selbst: `Oder nein: was entspricht Dir?´ Und die Antwort ist: `Im Angesicht der Welt sein – keine andere Aktivität´. Diese Haltung hat auch eine ganz eigene Klimatoleranz: „Es herrschte eine stille, wuchtige Hitze…“ (550). Zu diesem Sich-Zurücknehmen passt die kleine Erzählung, wo „das Aufnehmen der Menschen, etwa jetzt der schwarzen Stoffschuhe, das Knistern des Fahrradsattels, schon das Erzählen ist.“ (439)
  • Die Naturpräsenz im Technischen. Frönt Handke einem naiven Naturalismus? Typisch ist eher etwas anderes: Man findet in den Aufzeichnungen eher ein Sich-Durchpausen der Natur in der Technik. Zum Beispiel dort, wo die Technik-Geräusche in Natur-Adjektiven beschrieben werden – so das „Zirpen, Sirren und Schnalzen“ der Schienen und Leitungen, wenn sich irgendwo in der Verlorenheit der spanischen Meseta ein Eisenbahnzug nähert (347).   
  • Kreative Unbequemlichkeit. Das Hinnehmen von Hitze, Lärm, Sturm. Es tut „empörend weh“, aber man kann diesem „grausamen Spanien“ auch etwas abgewinnen (336). Der „Wind zwischen den Zehen“ ist nicht ohne das „Poltern der Lastwagen“ zu bekommen. Beides liegt zu dicht beieinander (341). Kreative Unbequemlichkeit, Schmerzen inklusive
  • Die starke Rolle der Objekte und der objektiven Welt – Das Objektive ist hier nicht das vom menschlichen Subjekt Fixierte, sondern das ihm „Entgegengeworfene“ (das buchstäblich „ob-jektive“). „Dingtreue“ und „Wortgenauigkeit“ sind zwei Seiten derselben Medaille. Hier bestimmt nicht ein transzendentales Subjekt das Vorgehen, sondern ein transzendentales Objekt.

Das hat, in diesem „Klima“-Sommer 2019 eine ganz aktuelle Pointe. Man vergleiche einmal die feinsinnige Ökologie, die Handke entwickelt, mit der groben Ökologie der „Klima-Retter“. Deren Ökologie denkt die Natur im Grunde funktional: Sie sind besorgt, dass die Natur nicht mehr genügend zu Diensten ist. Dass sie nicht mehr zuverlässig den Menschen das „gute Leben“ serviert. Und sie merken nicht einmal, wie anthropozentrisch der Zustand definiert ist, den sie als „stabil“ anvisieren. Für die Größe, Rätselhaftigkeit und Würde des Objektiven hat die pauschal-globale Ökologie weder Blick noch Worte. So kann man Handkes Buch als ein wunderbares Korrektiv gegen das klima-hysterische Deutschland dieses Sommers 2019 lesen.

Wohlgemerkt, es geht dabei nicht um Aussagen zum Klimathema oder zu anderen öffentlichen Großthemen. Ich weiß nicht, was Peter Handke über den Klimawandel oder die Massenmigration denkt. Ich weiß auch nicht, ob er sich dazu überhaupt öffentlich geäußert hat und die Rolle des „prominenten Mahners“ eingegangen ist.

Handkes „Gestern unterwegs“ enthält eine mögliche Antwort auf eine tiefere Frage, die das Zeitalter der Moderne aufwirft: Wie kann die Riesenbewegung der Säkularisierung, die große neuzeitliche Hinwendung zur gegenständlichen Welt sich mit den sehr begrenzten Möglichkeiten der Menschen zusammenfügen? Wie kann man dieser Hinwendung etwas abgewinnen, ohne sie beherrschen zu wollen und zu können? Der Text, der wirklich „am Wegesrand“ (aber ohne Mobilitäts-Hype) zustande gekommen ist, zeigt Gewinne, die – jenseits des Utilitarismus – im Eigenwert des Objektiven gemacht werden können. Dazu brauchte der Schriftsteller einen sensiblen Blick (und die Gelegenheit), um die Dinge freizulegen. Und er brauchte eine Sprache für diese Befreiung.

„Dingtreu“ und „wortgenau“ – auf dies unzertrennliche Paar komme es an, schreibt Handke. Aber was wird aus der Stelle, die die großen Erzählungen besetzen, aus dem „Zusammenhang“? Diese Stelle bleibt weitgehend leer. Allenfalls gibt es die „kleine Erzählung“ einer Szene (439). Es ist eine Sprache mit „Zwischenräumen“, oft steht nur ein „und“ zwischen den Dingen. Und oft herrscht „Stille“. Auf die Worte „Zwischenraum“ und „Stille“ kommt Handke immer wieder zurück. Und dem unauffälligen Wörtchen „und“ – dem großen Nebeneinander-Wort – setzt der Schriftsteller in diesem Buch sogar ein richtiges Denk-mal.  

Das Hineinlesen in „Gestern unterwegs“ war zunächst mühsam, es hatte etwas von Trennkost. Aber ich bin dann zunehmend auf den Geschmack gekommen. Natürlich kann und soll man nicht immer so schreiben. Aber gerade in dieser befangenen Zeit wirkt es befreiend. Es herrscht ein anderes Klima. Wir atmen freiere Luft!