Die Palliativmedizin ist eine wichtige Errungenschaft, aber sie taugt nicht als Generalargument in der Diskussion um die Sterbehilfe.  

Die Würde des Notausgangs

Gerd Held

Fast jeder hat eine gewisse Scheu gegenüber dem Tod. Das führt bisweilen zu dem Vorurteil, dass Menschen, die sich entschließen, angesichts eines drohenden qualvollen Sterbens ihrem Leben ein Ende zu setzen, aus vordergründigen Erwägungen einen Tabubruch begehen. Doch wächst die Zahl derer, die sich für einen solchen Ausweg entscheiden. Sterbehilfeorganisationen wie „Exit“ melden eine wachsende Zahl von Anfragen. Oft sind es Menschen mit einer bedeutenden Lebensleistung, verantwortliche und nachdenkliche Mitbürger – keine familienlosen Einzelgänger ohne jedes religiöse Gefühl. Gewiss ist der assistierte Suizid, wie der Fachausdruck lautet, kein Massenphänomen, genau so wenig, wie jedes Sterben mit extremem Leiden verbunden ist. Aber die Entwicklung ist so stark, dass in verschiedenen Ländern, darunter in Deutschland, Gesetzesinitiativen für den assistierten Suizid entstanden sind.

 

Gegen diese Initiativen ist heftiger Einspruch laut geworden und fast immer läuft dieser Einspruch darauf hinaus, dass das Sterben eine zu große Angelegenheit sei, als dass man sie den Menschen überlassen dürfe. Der Kardinal Reinhold Marx hat hier einen Satz gesprochen, dessen Problematik dem Kirchenmann vielleicht gar nicht bewusst ist: „Gebt uns die Sterbenden, denn wir sind ganz besonders für die Leidenden und Sterbenden da.“ Ein solches „Gebt uns“ kann nur jemand fordern, der für sich das Urteil über ein richtiges oder falsches Sterben beansprucht. Dabei schwingt immer eine Unterstellung mit: Dass nämlich die Menschen, die für sich selbst, mit ihrem Ehepartner, ihren nächsten Verwandten oder den engsten Freunden entscheiden wollen, ihre Wahl irgendwie blind treffen – entweder aus heilloser Angst, aus falscher Rücksicht oder aus stumpfer Bequemlichkeit. Das ist ein sehr oberflächliches Urteil über die Menschen. Auch geht die Formel, dass man für die Leidenden „da ist“, über die Aufgabe, die Grausamkeit des Sterbens nicht zu einer erbärmlichen Qual werden zu lassen, seltsam kurz hinweg. Qualvolle Krankheitsverläufe zum Tode gibt es tatsächlich, etwa in bestimmten Fällen des Krebses der Bauchspeicheldrüse oder der Speiseröhre, oder bei bestimmten Lähmungssyndromen und dementiellen Erkrankungen.

 

Hier geht es nicht allein um ein subjektives Problem, das mit Aufklärung und Zuspruch zu lösen wäre, sondern um wirkliche, schreckliche Leibesnot. In dieser Not einen Ausweg zu finden, ist ein Gebot der Humanität. Der Suizid ist dabei der letzte Ausweg, die ultima ratio. Will man hier wirklich einwenden, dass Menschen möglicherweise den Tod wählen, um anderen nicht zur Last zu fallen? Das geht an der Not der Betroffenen völlig vorbei. Und solche Einwände wurden eigentlich schon in der Diskussion über die Patientenverfügungen, mit denen bestimmte intensivmedizinische Lebensverlängerungen abgelehnt werden können, erwogen und mit Recht zurückgewiesen.

 

Doch in der Diskussion um die Sterbehilfe tritt nun ein anderes Gegenargument in den Vordergrund – der Verweis auf die Palliativmedizin. Der Verweis ist im Grunde ein Versprechen. Versprochen wird, dass mit der palliativen Medizin das qualvolle Sterben in ein friedliches Sterben überführt werden kann – und so die Option des Suizids überflüssig wird.  Seit in Deutschland die Gesetzesinitiative für den assistierten Suizid unterwegs ist, ist das Wort „palliativ“ in aller Munde – bis hinauf zum Gesundheitsminister und zur Kanzlerin. Mit diesem Wort wird eine sanfte medizinische, pflegerische, soziale und spirituelle Begleitung verbunden, die es ermöglichen soll, jeden qualvollen Sterbeprozess zu vermeiden. In diesem Sinn hat zum Beispiel der Vorsitzende des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes (DHPV), Winfried Hardinghaus, vor kurzem erklärt, dass jede Person „würdevoll und schmerzfrei sterben könne“, wenn ein entsprechendes flächendeckendes Palliativangebot-Angebot in Deutschland zur Verfügung stehe.

 

Das ist ein unerhört großes Versprechen. Es geht im Grunde noch über das hinaus, was der Kardinal Marx in Aussicht stellt. Mit der Palliativmedizin sei, so muss die Öffentlichkeit solche Aussagen verstehen, der Schlüssel zu einer allgemeinen, friedlichen Sterbekultur gefunden worden. Es fehle nur noch die notwendige Milliarden-Finanzierung. Mit der Realität in den bestehenden Palliativstationen und Hospizen hat das sehr wenig zu tun und das liegt nicht am fehlenden Geld. Auf solchen Stationen wird mit viel Engagement und Professionalität tatsächlich versucht, die schweren letzten Wochen von Sterbenden etwas zu erleichtern, aber die dortigen Beschäftigen wissen nur zu gut, dass dadurch qualvolle Sterbeprozesse keineswegs ausgeschlossen sind. Oft gelangen auch die wirklich schweren Fälle gar nicht in solche Einrichtungen. Insgesamt ist die Wirksamkeit palliativer Methoden bisher wenig erforscht. Beim diesjährigen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin wurde auf einer Veranstaltung zur Palliativmedizin festgestellt, dass es kaum belastbare Studien über die Wirksamkeit palliativer Mittel gibt. Große Lösungen, zum Beispiel im Dilemma zwischen Schmerzlinderung und Bewusstseinstrübung, stehen nicht in Aussicht.

 

Große Lösungen sind eigentlich auch gar nicht im Sinne der palliativen Grundidee. Diese ist von der Einsicht ausgegangen, dass man an einem bestimmten Punkt medizinische Heilungsversuche nicht verlängern sollte, sondern den Sterbenden stattdessen noch einen Abschnitt lebensweltlicher Autonomie verschaffen sollte – auch wenn dies zu einem früheren Tod führt. Deshalb steht sie der Option des assistierten Suizids gar nicht so fern, wie es manche Verbandsvertreter darstellen. Als Kronzeuge der Anklage gegen die Sterbehilfe eignet sich die Palliativmedizin nicht.

 

So bleibt am Ende doch die Gefahr eines qualvollen Todes bestehen. Gegenüber dieser Gefahr ist der assistierte Suizid ein begründbarer letzter Ausweg. Die Mehrzahl der Menschen wird nicht in die Lage kommen, von dieser ultima ratio Gebrauch zu machen. Und doch ist das Bestehen dieser Option wichtig für alle – als Schutzvorrichtung, damit dem Ende des Lebens nicht ein für alle verbindlicher und überwachter Zwangsverlauf verordnet wird. Die Entscheidung über das richtige Sterben muss der Privatsphäre der Menschen anvertraut sein und dafür muss der Gesetzgeber Alternativen offen halten. Das bedeutet nicht, die Menschen „allein zu lassen“. Viel eher wird es den Wert von Ehe, Familie und guten Freunden erhöhen.

 

 

(Manuskript vom 28.10.2014, erschienen auf der Internetplattform „Die Achse des Guten“ im November 2014; erschienen als Essay in der Tageszeitung „Die Welt“ am 1.11.2014 unter der Überschrift „Ein Tag zum Sterben“)