Die Pariser Morde zeigen Frankreich, dass es größere Probleme gibt als den Unterschied zwischen arm und reich
Eine Machtfrage ist gestellt
Seit den Pariser Morden steht etwas im Raum. Es war schon vorher da, aber eher nur als ferne Möglichkeit. Nun ist es da, mitten unter uns. Nein, es handelt sich nicht nur um einen besonders brutalen Gewaltakt. Auch nicht nur um irgendeine Eigenschaft der Täter („bestialisch“), die da ausgelebt wird. Vielmehr steht nun unverhohlen ein Anspruch im Raum. Mit den Morden wird die politische Ordnung Frankreichs, Europas und der modernen Staatenwelt angetastet. Ein Machtanspruch wird erhoben. Ein Land soll seinen Charakter, seine Verfassung, seine politische, wirtschaftliche und kulturelle Grundordnung ändern.
„Machtanspruch“ ist ein dröhnendes Wort. Es kommt darauf an zu präzisieren, in welchem Sinn er gilt. Es geht um zwei Ansprüche. Der erste Anspruch ist ziemlich klar: Die Morde sind der Versuch, die Meinungs- und Pressefreiheit unter Vorbehalt zu stellen und damit praktisch abzuschaffen. Erlaubt soll nur sein, was bestimmte Tabuzonen nicht berührt. Insbesondere soll alles, was die Religion betrifft, Tabu sein. Mit dem Anschlag auf Charlie Hebdo wird exemplarisch jede Überschreitung dieses Tabus unter Todesstrafe gestellt. Wer das Tabu bricht, muss mit seiner Hinrichtung rechnen. Dabei ist bedeutsam, dass es um Religion geht. Jede Religion beruft sich auf eine höhere Macht – das führt leicht zum Missbrauch der Religion für irdische Herrschaftsansprüche. Deshalb ist es wichtig, dass sich das Recht der Meinungs- und Pressefreiheit auch auf etwas so Großes wie die Religion erstreckt, auch wenn das die aus Sicht der Gläubigen „höheren“ Wahrheiten verletzt (und die in ihrem Fühlen „tieferen“ religiösen Gefühle). Erst wenn die Meinungs- und Pressefreiheit auch das Tabu der Religion brechen kann, ist sie wirklich ein Grundrecht von Verfassungsrang und begründet eine souveräne Sphäre der Öffentlichkeit.
Deshalb ist der Satz „Wir sind Charlie Hebdo“ jetzt genau der richtige Satz. Aber bitte vollständig: Wir sind Charlie Hebdo nicht nur, weil wir den Schmerz und das Leid mit den Opfern und ihren Familien fühlen, sondern auch weil wir ein Recht für uns alle fordern. Weil wir eine republikanische Errungenschaft bekräftigen. Der Ruf „Wir sind Charlie Hebdo“ ist nicht nur ein Ruf von Betroffenen. Er enthält einen eigenen Geltungsanspruch gegenüber dem Geltungsanspruch der Attentäter. Mit ihm steht Geltungsanspruch gegen Geltungsanspruch. Noch handfester: Es steht Machtanspruch gegen Machtanspruch.
Doch es gibt noch eine größere Dimension der Machtfrage. Was an den Tätern immer wieder auffällt, ist die völlige Rücksichtslosigkeit, mit der sie möglichst viele Opfer möglichst grausam in den Tod schicken. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der sie für sich selber den Tod suchen. Sie erscheinen wie eine Verkörperung der Apokalypse – wie apokalyptische Reiter, die blutgrinsend den Weltuntergang herbeiführen. Hier geht es um mehr als um einen Anschlag auf Meinungs- und Pressefreiheit. Hier wird die ganze Ausfaltung der Welt geopfert, die mit der modernen Zivilisation in Arbeit, Wissenschaft, Genuss, Glauben, in Betrieben, Schulen, Forschungsstätten, Verkehrseinrichtungen, Läden, Pop-Konzerten, Museen, Sportwettkämpfen, in Großstädten und Kulturlandschaften geleistet wurde. Mit den neuen Fundamentalisten ist eine nihilistische Kraft entstanden, die ohne weiteres von Massenvernichtungswaffen Gebrauch machen würde. Hier wird keine neue Ordnung, keine neue Wirtschafts- und Staatsform angestrebt, sondern hier regiert jener eschatologische Geist, der nur noch das Jüngste Gericht herbeisehnt.
Damit steht ein ungeheuerlicher Machtanspruch im Raum. Die Länder Europas, der Westen, und die ganze zivilisierte Welt – sie alle haben sichtlich Schwierigkeiten, sich darauf einzustellen. Es ist richtig, dass in den letzten Tagen in Frankreich von einem „Kriegszustand“ die Rede war und deshalb ohne größere Einwände das französische Militär eingesetzt wurde. Aber das Problem scheint noch ein anderes zu sein. Die zeitgenössischen Gesellschaften sind es nicht gewohnt, ihre Zivilisation und ihre freiheitlich-demokratische Grundordnung zu verteidigen. Sie sind es eher gewohnt, kleinere Ziele zu verfolgen und nach den Vor- und Nachteilen bestimmter Gruppen zu fragen.
Die politische Diskussion Frankreichs wird seit fast zwei Jahrzehnten vom Oberbegriff der „sozialen Spaltung“ beherrscht. Wie will man da ein Grundrecht wie die Meinungs- und Pressefreiheit verteidigen und erkennen, dass es für Reiche und für Arme gleichermaßen wertvoll ist? Wie will man in Deutschland die moderne Zivilisation verteidigen, wenn man sich seit Jahrzehnten daran gewöhnt hat, aus ökologischen Teilproblemen einen Großprozess gegen diese Zivilisation anzustrengen? Wie will die EU ein internationales Bündnis gegen diesen Machtanspruch schaffen, wenn man sich in Sekundärkonflikte mit autoritären Regierungen (Putin) aufreibt und inzwischen sogar am guten Verhältnis zu den USA und zu Israel sägt?
Das sind Orientierungsprobleme, die nicht nur diese oder jene Partei, diesen oder jenen Politiker betreffen, sondern die Gesamtgruppierung der politischen Kräfte. Und mehr noch: Es sind Orientierungsprobleme der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit, damit auch der Medien. Man tut sich schwer, die Machtansprüche beim Namen zu nennen, die uns bedrohen. Ebenso fällt es schwer, dagegen eigene Machtansprüche zu erheben und zu Maßnahmen zu kommen. Das vorherrschende Vokabular ist merkwürdig passiv, „Erschütterung“ und „Zusammenstehen“ stehen im Vordergrund. Man beschwört die Solidarität von allen mit allen (aber ausgerechnet die Dresdener Montags-Demonstranten will man nicht).
Ein Umdenken ist also unvermeidlich. Doch sollte man dabei klug sein. Es liegt in einer angespannten Situation immer nahe, hitzig zu werden und die gegenseitigen Verdächtigungen wachsen zu lassen. Dennoch sollte man jetzt nicht in eine falsche Aggressivität hineingeraten. Wenn eine wirklich große Umgruppierung der öffentlichen Aufmerksamkeit und der politischen Agenda ansteht, dann sollte man den Parteien, den Medien und den Menschen insgesamt Zeit geben, sich darauf einzustellen. Manche Position wird sich, unter dem Druck der Realitäten, ändern. Deshalb darf das Wort „Machtfrage“ in diesem Beitrag nicht in dem Sinn verstanden werden, dass nun sogleich ein „Kampf um die Macht“ ansteht. Es geht um eine Positionierung: Mit den Januar-Morden in Paris steht ein totalitärer Machtanspruch im Raum. Die moderne pluralistische Gesellschaft kann darauf nur mit einem eigenen Machtanspruch antworten, dem Machtanspruch einer uneingeschränkten freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
(erschienen am 12.1.2015 auf der Internet-Plattform „Die Achse des Guten“)